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Tagungsexposé

 

Mit dem Begriff Medien-Ereignis wird in den Medien- und Kulturwissenschaften die diskursive Formierung und Verbreitung der jeweiligen Ereignisse bedacht. Die spezifisch mediale Ereignishaftigkeit lässt sich dabei als Wirklichkeitskonstruktion definieren, mittels derer nicht nur historisches, sondern auch zukünftiges Geschehen gefasst und mit Sinn versehen wird. Die Repräsentation des Ereignisses greift demzufolge auf bestimmte narrative Muster zurück, die man mit Hayden White als „kulturelle plots“ bezeichnen könnte und die die Dramaturgien bereitstellen, in welchen sich die konkreten Ereignisse aktualisieren. Auf diese Weise erhalten selbst kontroverse, skandalöse oder schockierende Medienereignisse den Charakter routinierter Medieninszenierungen. Kollektive Erwartungen werden durch Medienereignisse also gerade nicht unterbrochen und gestört, sondern hervorgerufen und erfüllt: Öffentliche Debatten etwa über den Missbrauch von Kindern, Jugendgewalt sowie die kulturelle Bedeutung von Computerspielen oder die Gefahren des Terrorismus werden nicht nur nach den Ereignissen geführt, sie antizipieren immer auch weitere Ereignisse und machen so das Ereignis als oftmals katastrophische Unterbrechung der Norm zu einem Bestandteil des allgemeinen Erwartungshorizontes.

Dabei scheint der Begriff des Medienereignisses ein doppeltes Problem aufzuwerfen. Zum einen steht das Paradox einer Erwartung des Unerwarteten im Zentrum massenmedial geprägter Diskurse, indem für jedes neue Medienereignis Folien bereitstehen, die es strukturieren und die Interpretation des Geschehens vorzeichnen. Plötzlichkeit und Überraschung werden so als routiniert inszenierte Elemente des medialen Ereignis-Plots erkennbar. Die Analyse verschiedener Medienereignisse verlangt daher eine medien- sowie metahistorische Perspektive, welche die medientechnische sowie die narrative Strategie und Inszenierung des jeweiligen Geschehens hervorhebt. Zum anderen, so hat Gilles Deleuze bemerkt, sind die Massenmedien nachgerade ungeeignet, den Kern des Ereignisses zu erfassen: Sie mögen vielleicht die Momente seiner Verwirklichung festhalten, diese kommentieren und deuten, die a-signifikante „tote Zeit“ (Gilles Deleuze) aber, die das Ereignis in der Schwebe hält und in der dessen Aktualisierung noch ungewiss ist, vermag kein Massenmedium dem passiven Zuschauer zu vermitteln. Dies lässt sich mit einer Wendung Jacques Derridas verschalten, der das Ereignis als jenen Rest beschreibt, der sich der Wiederaneignung und Interpretation durch die Massenmedien entzieht. Das Ereignis wäre entlang dieser Betrachtung der uneinholbare Kern, um den die verdichtete Kommunikation kreist, die das Medienereignis auszeichnet.

In dieser doppelten Spannung wird ein Zusammenhang von Medienereignis und Macht erkennbar. Denn zum einen schafft die Uneinholbarkeit des Ereignisses Bedarf nach Erklärungen des Geschehens und Entscheidungen über notwendige Konsequenzen, der durch Experten, Politiker und Sicherheitsinstitutionen gestillt werden muss. Die diskursive Macht bestimmter Institutionen, Praktiken, Ansichten oder Akteure wird auf diese Weise neu ausgehandelt, infrage gestellt oder gefestigt. Das gilt insbesondere für die Massenmedien selbst, für die eine Berichterstattung auf mehreren Ebenen charakteristisch ist: Einerseits wird über ein Geschehen berichtet und dieses dadurch als bedeutsam inszeniert, andererseits wird die Konkurrenz bei ihrer Berichterstattung beobachtet. Gegenseitige Verweise steigern nicht nur die Bedeutung des Ereignisses, sondern gewichten den Stellenwert und das Verhältnis unterschiedlicher Massenmedien wie Rundfunk, Presse, Fernsehen oder Internet neu.

Zum anderen eröffnet das potenzielle Ereignis, sei es eine drohende Krise oder eine nahe Katastrophe, den Raum des Möglichen, der durch die Politik selbst besetzt wird. Mit der Diskussion möglicher Ereignisse wird die Strategie verfolgt, umstrittene politische Entscheidungen zu forcieren und zu legitimierten sowie im gleichen Zug die Bevölkerung in einen permanenten Alarmzustand zu versetzen. Zwischen potenziellen und historischen Ereignissen werden dabei häufig Verknüpfungen hergestellt: So wurden etwa die Anschläge vom 11. September 2001 als Auftakt einer neuen Welle des Terrors und damit einer möglichen Ereignis-Serie gedeutet. Mit der zunehmenden „Bevölkerung der Zukunft“ (Niklas Luhmann), die mit Prognosen, Simulationen oder Risiko-Kalkulationen Kontur gewinnt, entstehen neue Ereignistypen, die ihre diskursive Macht gewinnen, indem sie das Feld möglicher Handlungen definieren.

Gegenstand der Tagung ist somit der Zusammenhang von Ereignis, Möglichkeitsraum und Macht, wobei die Frage nach dem Verhältnis aktualisierter und virtueller Ereignisse im Fokus stehen soll. Bezug genommen wird dabei auf die Konzeption von Gilles Deleuze, der zwei Seiten des Ereignisses hervorgehoben hat: Zum einen gibt es die uns bekannte Welt mit einem konsistenten Raum-Zeit-Gefüge, in der die Ereignisse immer schon beschrieben sind und daher ihre Ereignishaftigkeit längst eingebüßt haben. Neben diesem Bereich der Repräsentation beschreibt Deleuze den virtuellen Anteil des Ereignisses, der ihrer verwirklichten Fassung sowie ihrer aktualisierten Wahrheit entkommt. Entscheidend ist hier ein anderes und abstraktes Raum-Zeit-Gefüge, welches unendlich viele virtuelle Fassungen des Ereignisses zugleich enthält. Das Ereignis setzt somit die Vorstellung von Kontingenz voraus: Anstelle einer einzigen Zukunft oder eines einzigen Ereignisses erscheinen viele Zukünfte sowie viele mögliche Ereignisse. Es entstehen mögliche Welten. Den Übergang von jener chaotischen Mannigfaltigkeit von möglichen Ereignissen hin zu einem verwirklichten Sachverhalt beschreibt Deleuze als Aktualisierung. Gesteuert wird dieser Vorgang durch ein Sieb oder Kraftfeld, welches signifikante Zusammenhänge aus dem Chaos heraustreten lässt. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit Medien und Medientechniken diese Aktualisierung vorentscheiden und regulieren. Die virtuellen Versionen des Ereignisses sind deshalb keineswegs irrelevant, sondern sie bestimmen die Planung, den Ablauf, die mediale Berichterstattung und die nachträgliche Diskursivierung des Ereignisses in erheblichem Maße.

Es werden Beiträge erbeten, die die Beziehung zwischen aktuellem und virtuellem Ereignis ausloten. So können konkrete historische Ereignisse behandelt werden, welche durch Medien inszeniert und aufbereitet wurden und im Gedächtnis einer Kultur verhaftet bleiben. Dabei ließe sich zum einen die Weise der medialen Produktion eines Geschehens beleuchten, zum anderen aber auch danach fragen, welche politischen Zielsetzungen hinter den jeweiligen Ereignis-Plots stehen und welche Machtformationen und -verschiebungen innerhalb des Medienereignisses sichtbar werden. Analysiert werden kann das Ereignis als Produkt einer medialen Aushandlung sowie die Frage, welche anderen möglichen und im Vorfeld antizipierten Geschehen dabei ausgeblendet wurden. Welche anderen Plots existieren neben einem historisch beschreibbaren Ereignis und werden allein als Verschwörungstheorien abgehandelt?

Mit der Frage nach den Ereignis-Plots und den Weisen der Ereignisinszenierung lässt sich auch der Austausch zwischen aktualisiertem und fiktiven Ereignis thematisieren. Welche Plots stellen etwa die Künste bereit, seien es Literatur, Film, Fernsehen oder Radio? Welcher Zusammenhang besteht zwischen den Ereignis-Plots, die in der Literatur vorgeschlagen werden, und den Plots, entlang denen Massenmedien ein Ereignis inszenieren? Ebenso kann die wissenschaftliche Forschung betrachtet, also der Überkreuzungsbereich zwischen Science und Fiction herausgearbeitet werden. Welche wissenschaftliche Ereignisse wurden etwa von Fiktionen vorbereitet? Wie verändert sich das Verständnis vom Ereignis in der Moderne, in der die lineare und einförmige Zeit durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse grundlegend irritiert wird?

Ein weiterer Schwerpunkt soll die möglichen Ereignisse thematisieren, die sich nie als konkretes historisches Ereignis aktualisiert, aber dennoch Effekte in der Realität erzeugt haben. Untersucht werden können zum Beispiel gescheiterte Medienereignisse oder Ereignis-Szenarien wie etwa Natur- und Klimakatastrophen oder Utopien, die politische Wirkung entfalten konnten. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Frage, inwiefern Ereignis-Typologien einem historischen Wandel unterliegen. Was für potenzielle Ereignisse, so könnte man fragen, sind in den digitalen Datenbanken und -netzwerken, etwa in Systemen der Vorratsdatenspeicherungen wie ELENA oder SWIFT angelegt, welche Kombinationen und Beziehungen sind im Virtuellen gespeichert? Zudem wäre zu untersuchen, ob der Möglichkeitsraum in verschiedenen politischen Systemen oder kulturellen Kontexten unterschiedliche Ausprägungen aufweist. Legitimiert sich etwa die demokratische Gesellschaft tendenziell stärker über das Bedrohungspotenzial möglicher Ereignisse, während totalitäre Macht den Möglichkeitsraum zu eliminieren sucht, um Ereignisse als alternativlos erscheinen zu lassen?