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Fakultät und Wissenschaft

Jost Benedum Vom Anteil der Facultas Medica Gi(e)ssena am Werden der medizinischen Wissenschaft Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen kann trotz ihrer wechselvollen (...) Geschichte heute [1982; Anm. d. Red.] auf eine 375jährige Tradition zurückblicken. Sie ist damit so alt wie die Universität Gießen selbst, die aus der alten Academia Gi(e)ssena und späteren Alma Mater Ludoviciana erwachsen ist. Zusammen mit den anderen drei Fakultäten der Theologie, Jurisprudenz und Philosophie verlieh sie der Neugründung von Anfang an den Charakter einer Universitas und erhielt zugleich mit den kaiserlichen Privilegien des Jahres 1607 auch die rechtliche Grundlage zur Führung eines Siegels, das sie bis heute verwendet. (...)

Das Titelkupfer

Im oberen Fries werden der Hörsaal, das Krankenbett und das Laboratorium als die vornehmlichsten Arbeitsstätten des akademischen Arztes gezeigt. Der mittlere Fries weist auf die Tier- und Pflanzenwelt, die Anatomie und die Mineralogie hin. Im Vordergrund sitzen an einem Tisch in arabischer Tracht Hippokrates und Hermes Trismegistos, die Autoritäten der alten und neuen Medizin. Ersterer zeigt den Aphorismus VITA BREVIS, ARS LONGA, letzterer den berühmten Satz aus der Tabula Smaragdina QUOD EST SUPERIUS, EST SICUT INFERIUS. Die Göttin Ceres verkörpert die in antiker Medizin zentrale Stellung der Diätetik, der Gott Vulcanus unterstreicht mit den Zeichen für die verschiedenen Elemente die Stellung der Alchemie in der hermetischen Tradition. Mit diesem Titelkupfer ist die Medizin der Zeit und ihr Auftrag programmatisch aufgezeigt. Die Aufgabe lag in der Verbindung von Hippokratismus und Alchemie als dem Ideal einer Gesundheit- und Krankheitslehre.

Der herausragende Verfechter hippokratisch-hermetischer

Titelkupfer aus den posthum erschienenen "Opera Medica" von Gregor Horstius, Gouda 1661
Medizin war Gregor Horstius (1578 - 1636), der Verfasser der Opera Medica. Er war 1608 aus Wittenberg, dem Bollwerk des Protestantismus und der Schrittmacherin des wissenschaftlichen Fortschritts, nach Gießen gekommen. Wie seine Korrespondenz lehrt, stand er mit den berühmtesten Ärzten seiner Zeit in Verbindung. (...)

Erste Sektionen

Er hat nicht nur die ältesten Gesetze und Statuten der Fakultät beeinflußt, wonach "Gaukler, Marktschreier und Weibsbilder" vom Collegium Medicum ausgeschlossen waren und der Doktorand - laut des ersten Gießener Doktorgelöbnisses von 1608 - sich zu den ethischen Normen hippokratischer Deontologie zu bekennen hatte. Gregor Horstius hat vielmehr auch 1615 die erste Sektion eines weiblichen Leichnams in Gießen durchgeführt. (...)

Die genannten Sektionen fanden damals im Auditorium Medicum des Collegium Ludovicianum statt. Der Raum, der von 1607 bis 1707 als Hörsaal und Sektionslokal diente, war groß genug. Brauchten doch durchschnittlich nur drei Professoren und 15 Studenten der Medizin darin Platz zu finden (...).

Der 500. Student der Universität wurde übrigens erst 1884 und der 1000. im Jahr 1902 immatrikuliert. (...)

[Der] Hortus Medicus, der 1609 von Ludwig Jungermann (1572 - 1653) angelegt wurde und heute der älteste in Deutschland noch an seinem ursprünglichen Ort belassene Botanische Garten ist. (...) 

Geschichtliche Beletage

Bevor wir jetzt aus dem tief versunkenen Erdgeschoß in die Beletage des 19. und 20. Jahrhunderts treten, erlauben Sie eine Bemerkung. Bekanntlich erstreckt sich der sog. medizinhistorische Narzißmus gern auf das "interessante" 19. und 20. Jahrhundert. Denn man kann dabei unserer jüngeren Vergangenheit in posthumer Anerkennung auf die Schultern klopfen, ja man kann sogar die jüngere Vergangenheit eine Laudatio auf die Gegenwart und die Zukunft halten lassen. Medizingeschichte wird so zur Tendenzgeschichte, dient Dekorationszwecken. Wir möchten weder dies noch eine lückenlose Dokumentation des 19. und 20. Jahrhunderts, was unmöglich ist und außerdem für den Leser unerträglich wäre. Wir wählen daher aus, setzen Schwerpunkte, wobei uns gerade die heute so beargwöhnten Namen und Ideen großer Ärzte hilfreich sind. Sind sie doch die Kristallisationspunkte, an denen die Gedanken der amorphen Mehrheit erst Gestalt gewinnen.

Ein solcher großer Arzt und Forscher in Gießen war Theodor Ludwig Wilhelm Bischoff (1808 - 1882), der durch seine bahnbrechenden Arbeiten zur Embryologie dieser Universität und Fakultät einst Licht und Glanz aufsetzte. (...)
Bischoff hatte 1854 mit Carl Kellner [später Firma LEITZ; Anm. d. Red.] den Bau eines Großmikroskops geplant, und aus Kellners Jahresproduktion von 28 Mikroskopen waren allein vier nach Gießen gegangen. (...)

Fachvertreter für Physiologie war seit 1855 Conrad Eckhard (1822 - 1905), der von 1860 bis 1891 auch die Anatomie versah. (...)

Pharmakologie und Pharmakodynamik

"Am meisten der Physiologie verwandt ist die heutige Arzneimittellehre", hatte Eckhard 1869 gesagt, und schaut man auf ihre Gießener Vertreter, so läßt sich die Entwicklung der Pharmakologie zu einer experimentellen Disziplin in seltener Weise am Beispiel der Gießener Lehrbücher aufzeigen. Dabei ist beachtenswert, daß der Beginn der wissenschaftlichen Pharmakologie mit einem einzigen Namen verbunden ist, Rudolf Buchheim (1820 - 1879), der die neue Wissenschaft zwischen der Physiologie und der soeben entstandenen experimentellen Pathologie ansiedelte und dessen Ideen sich über seinen Schüler Oswald Schmiedeberg in Straßburg weltweit ausbreiteten. Beachtung verdienen aber auch seine Vorgänger wie Philipp Friedrich Wilhelm Vogt (1786 - 1861), der schon 1824 ein "Lehrbuch der Pharmakodynamik" in Gießen erscheinen ließ und damit erstmals den Ausdruck "Pharmakodynamik" im Titel eines Lehrbuchs verwendete. "Von der Pharmakodynamik zur Pharmakokinetik" heißt die beispielhafte Entwicklung in Gießen. Doch bedarf die Pharmakokinetik hier keiner Erwähnung, da sie in aller Munde ist. Erwähnt werden sollte jedoch der Pionier der Allergieforschung und Vorkämpfer eines kontrollierten Apothekenwesens, Philipp Phoebus (1804-1880). Er hat 1844 in Gießen "das erste pharmakologische Institut in Deutschland" geschaffen, wie er es nannte. Mit seinem Kommentar behielt er Recht: "Ceci est paradoxe aujourd'hui et demain ce sera lieu commun."

Schon vier Jahre später, 1848, erhielt Gießen einen Lehrstuhl für Pathologie, den Ludwig Franz Alexander Winther von 1867 bis 1871 als Ordinarius bekleidete. In auffällig rascher Folge wechselten dann zwischen 1872 und 1882 Theodor Langhans (1839 - 1915), Karl Koester (1843 - 1904) und Max Perls (1843 - 1881). Auch Felix Marchand (1846 - 1928), der als präsumptiver Nachfolger von Rudolf Virchow nach Gießen gekommen war, blieb nur zwei Jahre. Fragt man nach den Gründen dieses Kommens und Gehens, so belegen Akten den wachsenden bürokratischen Druck und die administrativen Behinderungen, denen Marchand sich durch Weggang von Gießen entzog. (...)

Gaffky und die Hygiene

Zu den Disziplinen, die wie die Anatomie, Physiologie, Pharmakologie und Pathologie im 19. Jahrhundert in Gießen einen ordentlichen Lehrstuhl erhielten und einen beachtlichen Anteil an der Entwicklung ihres Faches nahmen, zählt auch die Hygiene. Georg Gaffky (1850 - 1918) war es gelungen, den Erreger des Typhus abdominalis in Reinkultur aus Milz und Mesenterialdrüsen zu züchten und in der Kartoffelkultur von anderen Bakterienarten zu unterscheiden. Dies demonstriert das Gießener "Familienfoto" (Abb. 4 [im kompletten Dokument enthalten; Anm. d. Red.]) mit Gaffky in der Mitte im Kreise von Kollegen, Mitarbeitern und Schülern, die später bedeutende Forscher wurden. Denn noch bildete die Universität eine Elite aus. Als 1896 die orientalische Beulenpest in bedrohlichem Ausmaß ausbrach, führte Gaffky die Pestexpedition des Deutschen Reiches nach Bombay. Der grundlegende Forschungsbericht erschien 1899. Gaffky war Ehrenbürger der Stadt Gießen, die ihm u.a. den Schularzt und die kreisärztliche Fortbildung verdankte. 

Neubau der Medizinischen Klinik

Im Jahre 1879 wurde ein Forscher nach Gießen berufen, dessen Schüler Franz Volhard 1904 schrieb: "In der Wissenschaft hat er sich selbst ein stolzes Denkmal errichtet, aere perennius." Er fährt fort: "Wenn heute jeder Besucher dieses Musterinstitutes entzückt ist von der herrlichen Lage, der Übersichtlichkeit der Anordnung, den hellen und luftigen Krankensälen, dem großartigen Laboratorium, so ist das sein Verdienst." Gemeint ist Franz Riegel (1843 - 1904), der Erbauer der Medizinischen Klinik. Riegel hatte 1879 in Gießen "jammervolle Verhältnisse" angetroffen. Die einzige Klinik, das 1830 eröffnete "Akademische Hospital", kam den Anforderungen eines Krankenhauses nicht mehr nach. Ein klinisches Laboratorium fehlte, und die hier untergebrachten Abteilungen für Innere Medizin, Chirurgie und Ophthalmologie verfügten über jeweils 10 Betten. Bereits 11 Jahre später stand dank Riegels Einsatz eine neue Medizinische Klinik da, die 1890 mit der Frauenklinik und dem Pathologischen Institut eingeweiht wurde. Sie hatte 800.000 Mark gekostet. Die Pflegesätze lagen entsprechend den drei Klassen zwischen 10,50 und 2,50 Mark pro Tag. Als weiterer Bau folgte 1896 das Hygiene-Institut. (...)

Ernst Hermann Max Leutert (1862 - 1918) blieb es vorbehalten, im Jahre 1909 durch seinen Rücktritt unter gleichzeitigem Verzicht auf Pension den Bau der Ohrenklinik zu erzwingen. Schon 1913 konnte Carl von Eicken sie beziehen und 1918 in Gießen das vierte Ordinariat für HNO-Heilkunde nach Rostock, Graz und Halle begründen.

Schließlich folgte die am 4. März 1914 unter Albert Jesionek (1870 - 1935) errichtete Hautklinik. Ihr war am 19. Mai 1913 die erste in Deutschland geschaffene Lupusheilstätte, das sog. Dietzhaus, vorausgegangen. Der Freiluft-Sonnenbehandlung, die im Winter durch das Hallenlichtbad ersetzt wurde, verdankte die Lupusheilstätte ihren großen Zuzug aus dem In- und Ausland. So wurden von 1913 bis 1938 rund 7000 Patienten mit Hauttuberkulose erfolgreich behandelt. (...)

Erste Doktorinnen

Schließlich sind noch zwei Disziplinen zu nennen, an deren Beginn in Gießen hervorragende Persönlichkeiten standen. Vorweg die Geburtshilfe mit Ferdinand August Maria Franz von Ritgen (1787 - 1867), dem Begründer einer der neun deutschen Geburtshelferschulen. (...)
Da er der Meinung war, "daß auch Damen von Bildung sich mit diesem Fach beschäftigen können", verlieh die Medizinische Fakultät als erste aller deutschen Universitäten am 6. September 1815 der Geburtshelferin Josepha von Siebold die Ehrendoktorwürde der Entbindungskunst, und am 26. März 1817 wurde ihre Tochter Charlotte in Gießen zur ersten Doktorin artis obstetriciae mit einer Schrift über Bauchhöhlenschwangerschaft promoviert. Mutter und Tochter waren die ersten in Gießen promovierten Frauenärztinnen Deutschlands. Das Klientel der Tochter war fürstlich: [Sie war Hebamme bei der Geburt von Victoria, der späteren englischen Königin, und von Prinz Albert von Coburg, die später heirateten; dies und mehr bezeugen Urkunden, die "by gracious permission" Ihrer Majestät, der Königin von England, Elizabeth II., anläßlich des 375-jährigen Bestehens der Fakultät gezeigt und publiziert werden durften; die Red.].

Robert Sommer

Eine zweite Forscherpersönlichkeit ist hier wie folgt zu kennzeichnen: Er bemühte sich früh um die Objektivierung psychischer und neurologischer Symptome, veröffentlichte die ersten Lehrbücher für forensische Psychiatrie und für Tierpsychologie, gründete die deutsche Gesellschaft für Psychohygiene und für Psychotherapie, entwarf einen Intelligenztest, trieb genealogisch-pathographische Studien, erwanderte die Wege der Nibelungen von Xanten bis Ungarn, ersann Sonette und handelte über Währungssysteme. In Gießen schuf er das Liebig-Museum, legte Grünflächen in der Stadt und den akademischen Sportplatz an, propagierte Ruhehallen mit Liegestühlen, wollte die Lahn bis Gießen schiffbar machen und den Bahnhof verlegen, ging mit von ihm konstruierten Wasserskis auf der Lahn zwischen Gießen und Wetzlar spazieren und setzte sich als bislang einziger Psychiater der Welt schon zu Lebzeiten selber einen Gedenkstein: 
ROBERTUS SOMMER CUM UXORE
MEMORIAE CIVIS ROMANORUM GISSENSIS BARBARUS ANNO MDCCCCXII 


(...) Die am 25. Februar 1896 eröffnete Psychiatrische Klinik, die in ihrer Zeit als eine der fortschrittlichsten galt, erfüllt noch heute mit Einschränkungen ihre Aufgabe. (...)

Weltweit erste Dialyse

(...) daß das Kennzeichen höchsten Strebens oft darin liegt,

Bei einer von vier im Jahre 1926 durchgeführten Hämodialysen
unter schwierigen Umständen und mit bescheidenen Mitteln Großes zu leisten. Eine solche Leistung hat Georg Haas vollbracht. Er hat mit dem von ihm erbauten "Kabinensystem" - der ersten künstlichen Niere, die am Menschen Anwendung fand - in Gießen im Sommer 1924 die erste Hämodialyse am Nierenkranken durchgeführt. Als gerinnungshemmendes Mittel war Hirudin verwendet worden, das auch noch bei den vier Hämodialysen des Jahres 1926 eingesetzt wurde (s. Abb.). Die siebte "Blutwäsche" des Jahres 1927 war zugleich die erste mit Heparin vorgenommene Dialysis in vivo. Mindestens 12 Hämodialysen, die letzte am 4. Mai 1928, hat Haas in Gießen durchgeführt, um zu dem Ergebnis zu kommen, daß "die künstliche Niere ein Verfahren von großer und vielfältiger Wirkung ist, die entsprechende Würdigung und Anerkennung finden sollte." (...)

Ein Fazit

Schaut man zurück auf die Bewohner dieser Fakultät, von Horstius bis Valentini im Erdgeschoß, von Bischoff und Buchheim über Ritgen und Riegel bis hin zu Haas in der Beletage der Moderne, so kommt man zu dem Ergebnis, daß Gießen und insbesondere die Medizinische Fakultät wohl immer eine Arbeitsuniversität war, die bei bescheidenen äußeren Verhältnissen nie zu spektakulärem Ansehen gelangte, aber getreu dem Motto ihres Emblems einen nüchternen Sinn und ein maßvolles Handeln an den Tag legte. Ihr Anteil am Werden der medizinischen Wissenschaft ist erheblich, teilweise sogar grundlegend (...) 

Jost Benedum war Leiter des Inst. f. Geschichte der Medizin; Leseproben aus einem Vortrag - Hervorhebungen und Zwischentitel durch die Redaktion; Original zuerst abgedruckt in: "Gießener Universitätsblätter" Heft 1, 1983.