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„It’s the journalism, stupid!“

Warum traditioneller Journalismus im Netz nicht funktioniert
von Michael Bartel

Mit dem Internet wurde alles anders: Die „Massenmedien wurden zu Medienmassen“ und Journalisten bekamen Konkurrenz von ihren Lesern, denn die ehemals so passiven Rezipienten werden plötzlich aktiv. Facebook, Twitter und Blogs machen es möglich – und wie der Journalist und Blogger Peter Glaser feststellt, sind diese „Amateurjournalisten“ nicht selten sogar besser als die gelernten Texthandwerker. Wie sich die Lesegewohnheiten dadurch verändern, lässt sich heute schon absehen und folgendermaßen skizzieren: Empfehlungen inklusive Link und Kommentar auf einen Artikel von Freunden sind im Netz eine härtere Währung als der stringent argumentierende und fein ziselierte Leitartikel. Glaser: „Die Summe dieser Empfehlungen, denen man so zu folgen bereit ist, ergibt ein neues Gewebe aus Nachrichten und Unterhaltung, das mit den konventionellen Rubriken der Zeitungen nur noch wenig zu tun hat“. Für Felix Schwenzel von wirres.net ist es, „als ob sich die ganze [W]elt gegen die [V]erleger verschworen hätte.“

Und wie reagieren die Verantwortlichen in den Redaktionen und Verlagshäusern? Fast scheint es, als verkämpfen sie sich schmollend im kulturkritischen Rückzugsgefecht: Wenn der ‚Medienmob’ regiert, hat es der Qualitätsjournalismus eben schwer. Diese bequeme wie gefährliche Fehleinschätzung scheint sogar die am weitesten verbreitete zu sein, wie die Debatten in den Feuilletons und Medienseiten der Tages- und Wochenzeitungen zeigen. „Die öffentliche Beschimpfung des Internet wurde zur trotzigen Mutprobe einer ganzen Branche.“ Diese Einschätzung stammt von keinem geringeren als Wolfgang Blau, dem Chefredakteur von ZEIT online.

Newsletter BildDie Folgen sind fatal: „Noch in den fünfziger Jahren gab es in der Bundesrepublik mehr als 624 Zeitungsverlage, heute sind es 353 – obwohl Ostdeutschland hinzukam.“ Dass es durch dieses Zusammenstreichen der Redaktionen oder das Zusammenlegen in Mantelredaktionen „zu einem deutlichen Verlust von Vielfalt kommt“, versucht das Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Hamburg in einer Studie zu belegen. Neben dem Verlust an Quantität und Vielfalt stellt sich für die Hamburger Empiriker auch die Qualitätsfrage: „Die Qualität der Zeitungen weist durchgehend Defizite auf. [...] Das ist insofern fatal, als sich die Tageszeitungen nach unserer Einschätzung nur durch eine bessere Qualität weiter behaupten können.“

(c) Jeff Jarvis, BuzzmachineDabei galt lange Zeit – und gilt noch immer – gerade das Lokale als Schlüssel zum Erfolg im Digitalen. Der amerikanische Kommunikationswissenschaftler, Blogger und Internetguru Jeff Jarvis sieht die Zukunft im „hyperlocal journalism“. In der Tat sprechen einige Neugründungen in den USA dafür, dass sich vor allem Lokalzeitungen genau diese „Nischen suchen müssen, die unsere Lebenswirklichkeit unmittelbar abbilden.“ Die Experten sind sich einig: Wenn gründlich recherchierter und gut gemachter Journalismus noch Wachstumspotenziale hat, dann mit Berichten „über die Kriminalitätsrate in meiner direkten Nachbarschaft, Debatten um die katastrophale Müllentsorgung in meinem Viertel oder Kommentaren zur Kita-Situation bei mir um die Ecke.“ Was zählt, ist der „Nutzwert auf Stadtteil-Ebene“.

Gerade wenn es darum geht, den etablierten Nachrichtenmedien Konkurrenz zu machen, haben Blogger auf lokaler Ebene die besten Voraussetzungen. Ein weitläufiges Korrespondentennetz braucht es nicht und auch die technische Infrastruktur ist nicht der Rede wert – wenn man einen Blog betreibt und auf die Distribution der Nachrichten mittels Papier verzichtet. Das haben auch Verlagshäuser erkannt und so genannte Mitmachzeitungen gegründet. Bei Lichte betrachtet, stellen diese Unternehmen den aberwitzigen Versuch dar, einen Blog in Papierform zu publizieren. Die erste Mitmachzeitung in Deutschland war die Gießener Zeitung. Die lokalen Werbetreibenden wissen diesen hybriden Versuch zu honorieren und sorgen dafür, dass das Geschäftsmodell offenbar funktioniert.

Doch können kostenlose Mitmachzeitungen eine Antwort auf die durch das Internet induzierte Krise des Qualitäts- und Lokaljournalismus sein? Im Folgenden beschreibt dieses Dossier die bestehenden Zielkonflikte zwischen Offline- und Onlinejournalismus, benennt mediale Fehler, die in der Vergangenheit gemacht wurden, und skizziert auf diese Weise genau jene Anforderungen, denen ein funktionierender (Lokal-)Journalismus im Angesicht von Internet, Social Media und einer zunehmenden Virtualisierung der Lebenswelt von immer mehr Menschen gerecht werden muss.

Eine Bestandsaufnahme: Journalismus im medialen Umbruch
Bevor es um die Frage geht, wie ein medial neu zu definierender Journalismus in einer digitalen Zukunft aussehen kann und soll, gilt zunächst zu klären, was das denn eigentlich sei, dieser Journalismus - und zwar aus der Perspektive seiner Macher. Denn egal, ob man dem medialen Wandel durch das Internet affirmativ oder pejorativ gegenübersteht; lange Zeit behauptete Gewissheiten stehen plötzlich auf dem Prüfstand. Damit einher geht eine Diskussion über das Selbstverständnis des Journalismus: Wer schreibt hier eigentlich für wen? Und kann es vielleicht sein, dass die journalistischen Produkte ihre eigentliche Zielgruppe schon länger verfehlt haben? Ist das Internet also nicht Ursache für die Krise des Journalismus, sondern eher Symptom für ein tiefer liegendes Problem?

Vielleicht ist gar nicht „das Internet“ an allem schuld, wie Springer-Chef Mathias Döpfner behauptet, sondern hat der Journalismus selbst ein Problem. Wie sonst ist es zu erklären, dass nicht nur Printzeitungen in ihrer Existenz bedroht sind, sondern auch reine Onlineblätter wie die NETZEITUNG. Diese wurde aus wirtschaftlichen Gründen nach fast zehn Jahren im November 2009 geschlossen. Nicht ohne Grund stellt sich hier die Frage: „Wer stirbt schneller?!“ – die Zeitungen oder die Online-Medien? Zuletzt vom Verlagshaus M. Dumont Schauberg herausgegeben, versuchte die NETZEITUNG klassischen Tagesjournalismus auf das Web zu übertragen. Das Experiment scheiterte. Warum? Haben Journalisten mit ihren Themen an ihrer Zielgruppen vorbeigeschrieben? Und was hat es zu bedeuten, wenn sich die Pageviews der NETZEITUNG in den letzten Wochen ihres redaktionellen Bestehens dem Blog www.spreeblick.com angenähert haben und teilweise sogar geringer waren. Der Erfolg eines Blogs kann aber nicht über die generell angespannte wirtschaftliche Situation von Online-Medien hinwegtäuschen. Denn im Zuge der Wirtschaftskrise wirken „kommerziell orientierte Blogs […] ebenso ausgezehrt wie die Qualitäts-Printmedien bzw. deren Online-Angebote. Man leidet gemeinsam unter dem flauen Anzeigenmarkt.“

In der Zeitungspresse hat sich eine Dreiteilung der Publikationen in (überregionale) Qualitätszeitungen, Lokalzeitungen und Anzeigenblätter etabliert. Im Rundfunk wird von einer ganz ähnlichen Kaskade ausgegangen: an der Spitze stehen die drei Programme des Deutschlandfunks, respektive Deutschlandradios. Es folgen die Kultur- und Infowellen der regionalen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Das qualitative Schlusslicht bilden die privaten Sender beziehungsweise der so genannte „Dudelfunk“. Für die deutsche Fernsehlandschaft lässt sich ähnliches behaupten. Das gilt für das öffentlich-rechtliche wie das private Fernsehen. Kurz: Die Kritik am Journalismus, egal in welcher medialen Form, ist so alt wie der Journalismus selbst. Erst mit der Digitalisierung der Produktion von Öffentlichkeit (bspw. in Blogs) steht jedoch das Selbstverständnis des Journalismus auf der Agenda; plötzlich stellen Journalisten die Sinnfrage an ihren eigenen Berufsstand – unmittelbar induziert durch eine digitale Gegenöffentlichkeit. Damit stellt sich eine journalistische Grundsatzfrage, die von Jeff Jarvis unter dem Phänomen „Prozessjournalismus“ zusammengefasst wird. Das hat nichts mit Gerichtsreportagen zu tun, sondern meint einen Journalismus, „der sich nicht auf die Veröffentlichung eines Artikels, Beitrags oder einer Dokumentation beschränken lässt, sondern der den User einschließt, schon während die Geschichte, die erzählt wird, entsteht und auch nachdem sie veröffentlicht wurde.“ Also ein Journalismus, der die Bedingungen des „ Hybridmediums Internet“ ernst nimmt. Gleichzeitig zollt dieser Prozessjournalismus dem Umstand Rechnung, dass die Nachrichtenströme im Netz nicht nur beschleunigt, sondern auch vervielfältigt werden. Mitunter auch von Lesern, die zugleich Experten sind, das Thema des Artikels aufnehmen und weiterbearbeiten. In der Konsequenz heißt das, dass Artikel und Nachrichten niemals abgeschlossen, niemals fertig sind. Außerdem: Nachrichtenströme lassen sich, einmal in die Welt gesetzt, nicht mehr stoppen. Informationen werden unkontrollierbar. Damit sind auch Gerüchten und gezielt gestreuten Falschinformationen Tür und Tor geöffnet. Das hat Konsequenzen für die Themensetzung in Redaktionen.

Redakteure und Journalisten fragen sich, ob sie selbst eine Verantwortung für das übernehmen müssen, was sie schreiben. Zuletzt wurde diese Frage während der weltweiten Finanzkrise virulent: So bestellte Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits am 8. Oktober 2008 die wichtigsten Chefredakteure der größten deutschen Medien ins Kanzleramt und „bat die Journalisten, zurückhaltend über die Krise zu berichten und keine Panik zu schüren“. Gegen diese Bitte, gegen diesen Appell protestiert Jakob Augstein, Herausgeber der Wochenzeitung Der Freitag, aufs Schärfste. Journalisten haben nur eine einzige Verantwortung: „der Wahrheit gegenüber. Alles andere geht sie nichts an. Journalisten sind für die Landesverteidigung nicht zuständig und für die Stabilisierung des Kapitalismus auch nicht, das Überleben der Bundesregierung muss ihnen ebenso gleichgültig sein, wie der deutsche Außenhandelsüberschuss. Sie kommen andernfalls in Teufels Küche.“ Offenbar verhalten sich Journalisten nicht immer wie Kurt Kister, heute Chefredeakteur der Süddeutschen Zeitung. „Als der neue Bundeskanzler Gerhard Schröder ihn seinerzeit in einem Berliner Restaurant traf und ihm gönnerhaft zurief, ihn doch einmal in seinem neuen Kanzleramt zu besuchen, da soll Kister ihm entgegnet haben: ‚Das ist nicht Ihr Kanzleramt, Herr Bundeskanzler.‘“

An solchen Beispielen wird deutlich, dass nicht nur die Gallionsfiguren des deutschen Journalismus regelmäßig über ihren Berufsstand reflektieren. Journalisten sind es gewohnt, ihr Tun gerade auch in Bezug auf gesellschaftliche Veränderung zu hinterfragen. In einer Sache aber haben sie offenbar versagt. Sie haben zu spät verstanden, was im Internet geschieht. So verwundert es nicht, dass Hajo Schumacher noch im Jahr 2010 fordert: „Wenn Journalismus eine Zukunft haben soll, dann muss er sich zunächst einmal selbst so kritisch betrachten wie den Rest der Gesellschaft." Auch Wolfgang Blau schlägt in die gleiche Kerbe: „Journalisten preisen ihren Berufsstand gerne als vierte Gewalt und als Wächter der Demokratie. Sollte der Journalismus diese Aufgabe tatsächlich haben, ist es geradezu eine Pflichtverletzung, wenn Journalisten sich nicht darum bemühen, das Netz zu verstehen.“

Schaut man sich an, wie Journalismus vor dem digitalen Zeitalter funktioniert hat, wird verständlich, warum viele Verlage offenen Auges in ihr Verderben gerannt sind und noch immer rennen: sie sind bequem und träge geworden. Warum auch nicht? Schließlich haben sie prächtig verdient. Beispielsweise die Eigentümer des Nordkuriers, einer Regionalzeitung aus Mecklenburg-Vorpommern. Jahrelang hat die Zeitung mehr als drei Millionen Euro verdient – und das in einer strukturschwachen Region. Das entspricht einer Rendite von „fünf bis sechs Prozent“ und liegt damit über dem Niveau eines Weltkonzerns wie Volkswagen . „Doch die Besitzer von Regionalzeitungen sind mehr gewohnt. Ihr Monopol hat den meisten Verlegern jahrelang Renditen von wenigstens zehn Prozent eingebracht.“ Andererseits zeigt eine Studie unter 147 Führungskräften aus allen Sektoren der deutschen Verlagswirtschaft, dass in Verlagen, in denen vornehmlich „alte Print-Hasen das Sagen“ haben, Investitionen ins Internetgeschäft blockiert werden. Demnach sind die „verlagsinternen Befindlichkeiten […] das größte Problem“. Die Studie hat ergeben, dass selbst in Großverlagen mit einem Umsatz von mehr als 250 Millionen Euro pro Jahr Schwierigkeiten bestehen, Geld für digitale Angebote zu akquirieren. 49 Prozent der Manager sehen die Gründe dafür in der Firmenkultur.

Kurzschlüsse zwischen Offline- und Online-Welt
Zusammenfassend ergibt sich so ein mehr als ambivalentes Bild des Journalismus in Deutschland. Einerseits ist ein sensibilisiertes Problembewusstsein und Verantwortung gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen auszumachen. Andererseits scheint gerade die Verlagswirtschaft auf das Internet zu schauen wie das Kaninchen auf die Schlange. Die Gründe dafür sind einleuchtend: Es geht im Problemfeld Journalismus - Internet um weit mehr, wie der Psychologe, Netzwerkforscher und von der Blogosphäre hochgeschätzte Internettheoretiker Peter Kruse zusammenfasst: „Das Netz ist kein schrilles Informationsmedium mehr, das man vorsichtig und möglichst geschickt nutzen sollte, sondern es ist selbst zu einem faszinierenden Kommunikations- und Lebensraum geworden, den es zu erkunden und mitzugestalten gilt.“ Diese Feststellung hat für den Journalismus, egal in welcher medialen Ausprägung, eine weit reichende Konsequenz, die über das Rezipienten-Produzenten-Verhältnis hinausgeht.

Davon zeugen nicht zuletzt die publizistischen Rückzugsgefechte derjenigen, die auch und gerade dank ihrer „analogen“ Mediensozialisation in die Position kultureller Opinion-Leader gekommen sind: Internationale Vertreter sind Jaron Lanier und Nicolas Carr. In Deutschland hat es in diesem Zusammenhang Frank Schirrmacher mit seinem Buch „Payback“ zu bemerkenswerter Publizität gebracht. Da Schirrmacher auch Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) ist, ist der Konnex zum Journalismus gegeben. In „Payback“ beklagt der Autor die Überforderung durch die tägliche Informationsflut aus dem Netz und warnt vor einer computerdominierten Zukunft. Der Untertitel bringt das Programm seines Buches auf den Punkt: „Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen.“ Stellvertretend für die Blogosphäre kritisiert Peter Kruse Schirrmachers Standpunkt, der ihn den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen lasse: „Schirrmacher begeht in seinem Buch einen erstaunlichen Denkfehler durch die Einseitigkeit der von ihm gewählten Perspektive: Er betrachtet die digitale Welt ausschließlich aus dem Blickwinkel einer Person, die das Geschehen als distanzierter und bewertender Beobachter erlebt. Wer sich nicht selbst in den Netzwerken bewegt und sie als eine schwer zu ertragende Kakophonie empfindet, der fühlt sich logischerweise überfordert und vielleicht sogar aggressiv belästigt.“ Kurz: Schirrmacher konstruiert einen „scharfen Gegensatz zwischen den Netzen und den Nutzern“.

Kruses Feststellung könnte ein Erklärungsmoment dafür liefern, warum es Verlegern, Herausgebern, aber auch Bloggern bis heute nicht gelungen ist, ein funktionierendes journalistisches Publikations- respektive Geschäftsmodell im Internet zu entwickeln. Denn unter den Bedingungen der vollständigen Entmaterialisierung von Information und der Entstehung eines neuen Kommunikationsraums wird das ehemals scheinbar funktionierende Modell der Nachrichtendistribution heute ad absurdum geführt. Noch komplizierter wird die Situation durch das Auftreten neuer Akteure, die ebenfalls publizistische Interessen vertreten. „Die Urheber sind gezwungen, als Verwerter aufzutreten. Das Internet ändert die bisherige Rollenverteilung. Zugangsprovider, Gerätehersteller, Suchmaschinen und soziale Netzwerke treten in die Fußstapfen der traditionellen Verleger. Verleger und Urheber entwickeln sich zu konkurrierenden Anbietern auf dem Inhalte-Markt.“ Die analogen Gewissheiten des Zeitungsgewerbes funktionieren in den fluiden Medien des Digitalen mit ihren heterogenen Akteuren schlicht nicht mehr.

Das gilt nicht nur für Fragen der technischen Distribution, sondern auch für das Aufsprengen tradierter Gattungsgrenzen, wie der Intendant des Deutschlandradios, Ernst Elitz, konstatiert: „Überkommene Privilegien sind hinweggefegt. Das Fernsehen hat den Alleinvertretungsanspruch auf das Bewegtbild verloren. Videos schmücken Zeitungsportale. Die Zeitung wird Radio, Print-Journalisten sprechen ihre Kommentare ins Netz. Das Radio wird Zeitung. Hörfunk- und Fernsehbeiträge sind im Internet nachzulesen.“ Die Realität sieht jedoch anders, ernüchternder aus. Für Stefan Niggemeier, einen der so genannten deutschen Alpha-Blogger, gibt es in Deutschland wenig, „das man wirklich als ‚Online-Journalismus’ bezeichnen könnte“. Vielmehr zeichnen sich viele Internetangebote durch „Übernahmen aus Printmedien“ aus, die „ergänzt durch Bildergalerien“ vor allem den Versuch widerspiegeln, „möglichst viele Klicks zu generieren“. Resigniert stellt Niggemeier fest, dass es sich dabei meist um „automatisch oder halbautomatisch übernommene Agenturmeldungen“ handelt, die „mit dem erstbesten Symbolfoto aus dem Archiv“ illustriert werden. So „war der Print-Journalismus in vielen Bereichen auch schon, aber den Lesern der Emder Zeitung fiel natürlich nicht auf, wenn in der Braunschweiger Zeitung dieselben Meldungen standen.“

Das Internet legt nun nicht nur all diese redaktionellen Funktionsweisen oder Missstände offen, sondern bietet anderen Akteuren eine Kommunikationsinfrastruktur, die zeigt, dass es auch anders geht: Blogger. Nimmt man den Begriff der Blogosphäre ernst – und damit die Existenz eines neuen Kommunikationsraums –, dann wird deutlich, dass das Problem des Journalismus ein Problem seiner Macher, d.h. der Journalisten, Redakteure, Reporter und Verlagsmanager ist. „Journalismus ist keine exklusive Profession mehr“, behauptet Wolfgang Blau. „Journalismus ist zu einer Aktivität geworden, die nur noch von einer Minderheit professionell ausgeübt wird. Ob ein Journalist professionell ist, bemisst sich nicht mehr daran, ob er mit seiner Arbeit Geld verdient, sondern allein daran, ob er professionelle Standards einhält, etwa in der Sorgfalt und Fairness seiner Recherche und der Qualität seiner Sprache. Darin liegt für viele Redakteure – junge, wie alte – eine Kränkung.“ Diese Kränkung mag das unaufhörliche Blogger-Bashing der professionellen Meinungsmacher in den etablierten Medien erklären. Handelt es sich doch schlicht um eine Konkurrenzsituation, die von einigen als bedrohlich, offenbar existentiell eingeschätzt wird.

Daher passt es gut ins Bild, welche Hoffnungen die Verlagswirtschaft mit den so genannten Tablet-PCs verbindet – mit Apples iPad an erster Stelle. Hier werden die technischen Hürden wieder höher gelegt. Verleger „wollen mit mobilen Geräten wie Smartphones und Tablet-PCs endlich durchsetzen, dass Leser für Online-Inhalte zahlen.“ Springer-Chef Matthias Döpfner möchte sogar niederknien und Steve Jobs betend dafür danken, dass „er die Verlagsbranche rettet“. Obwohl der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) für Deutschland positive Zahlen vermeldet, sind die App-Verkäufe in den USA schon wieder rückläufig. Gespannt beobachtet die Branche, wie sich die Verkäufe der ersten reinen App-Zeitung, The Daily, des 79-jährigen Medienmoguls Rupert Murdoch entwickeln. Trotz aller Zahlenschiebereien darf nicht aus den Augen verloren werden, welchen Weg die Verlagsbranche versucht, mit dem App-Store-Modell einzuschlagen. Schließlich geht es auch um die Frage, wo (digitaler) Journalismus zukünftig stattfinden soll. Im immer noch recht freien und wenig regulierten Internet oder in der geschlossenen Konsumwelt der App-Stores? Denn ohne Frage revolutioniert die Tablet-Zeitung die mediale Distribution der Zeitung. An den hier grundsätzlich zur Diskussion gestellten Problemen ändert sich jedoch nichts. Viel eher wird versucht, den ‚Brandsatzbeschleuniger’ Internet nicht mehr nur zu ignorieren, sondern mittels App-Stores auszuschließen. An dieser Stelle sei deswegen die These gewagt, dass es sich bei den Hoffnungen, die in die App-Zeitungen gesetzt werden, um einen teuren Kurzschluss zwischen Offline- und Online-Welt handeln könnte.

Während die Verlage der überregionalen Qualitätszeitungen auf das geschlossene App-Store-Modell setzen, lässt sich, wie bereits angedeutet, im Lokaljournalismus eine gegensätzliche, eine bottom-up Bewegung beobachten. Dies ist insofern bemerkenswert, da hier der globale Kommunikationsraum Internet lokalisiert wird. (Qualitäts-)Probleme, die der Journalismus im Großen hat, werden hier im Kleinen fokussiert und treten noch deutlicher hervor. Die Angriffsflächen scheinen größer und nicht umsonst gilt die lokale Berichterstattung unter Bloggern als „das nächste große Online-Ding“.

Lokaljournalismus – „das nächste große Online-Ding“?
Rumort hat es schon länger, inzwischen tut sich etwas. Und was sich tut, lässt sich exemplarisch an folgenden Internetangeboten festmachen:


Es handelt sich hierbei um lokale Stadt- oder Stadtteilblogs. Die thematische Ausrichtung mag sich im Detail von Blog zu Blog unterscheiden und auch die Gründungsgeschichten dürfen nicht in einen Topf geworfen werden. Dennoch steht fest, dass einige dieser Blogs „einen journalistischen Anspruch entwickelt“ haben, der „mit den Lokalzeitungen konkurrieren will“. Doch warum und welche publizistischen Motive und Geschäftsmodelle stehen hinter den neuen Lokalmedien? Sind sie eine Alternative zur kriselnden Lokalzeitung oder doch wieder nur ein neuer Hype im Internet?

Die in diesem Zusammenhang aufregendste „Story“ bietet das Heddesheimblog und sein Macher Hardy Prothmann. Um dieses Blog entwickelte sich geradezu ein Hype – sowohl in den traditionellen Printmedien als auch in der Blogosphäre –, wirft es doch ein Schlaglicht auf die Misere des Lokaljournalismus. Am Heddesheimblog lässt sich beobachten, wie neue Plattformen „den etablierten Medien unerwartet das Wasser abgraben“ – und das induziert aus Gründen privater Unzufriedenheit mit der bestehenden Lokalberichterstattung. Auf carta.info macht Wolfgang Michal auf diese Missstände aufmerksam und rührt kräftig die Werbetrommel für den publizistischen Neuanfang an der „Heimatfront“: „Solche Blog-Redaktionen versuchen, durch eigene Recherchen die ursprüngliche Aufgabe einer Lokalzeitung wieder zu beleben, das heißt, nicht bloß über Pressekonferenzen, sondern auch über Interessenkonflikte zu berichten. Vor allem wollen sie die Einengung der Lokalberichterstattung auf Schützenfeste, Hochsitz-Einweihungen und Ehrungen stellvertretender Ortsbrandmeister nicht länger hinnehmen. In den unzufriedenen Lesern haben sie dabei die besten Verbündeten. Die Leser in der Provinz suchen nach einer ernst zu nehmenden Alternative. Sie haben die unerträgliche Mischung aus Agenturmeldungen, Hofberichterstattung, Honoratioren-PR und Allerweltsgewäsch aus Gesundheitsratgebern und Testberichten satt. Sie wollen nicht länger mit den 50er-Jahre-Phrasen ‚…wurde kräftig das Tanzbein geschwungen’ und ‚Der Wettergott hatte ein Einsehen’ veräppelt werden.“ Für diese Form von Berichterstattung hat sich das Label "Bratwurstjournalismus" etabliert. Auch das Kulturportal perlentaucher.de schlägt im Bericht über die neue journalistische Graswurzelbewegung in die gleiche Kerbe: „Lokale Internetblogs distanzieren sich von der Klientelpolitik der Lokalblätter und verweisen mit selbst recherchierten, spezifisch lokalen Themen auf eine neue, hyperlokale Informationskultur im Internet.“ Diese Einschätzungen machen vor allem eines deutlich: die Messlatte für die neuen Lokalblogs wird hoch gelegt. Zu hoch?

Für das vorliegende Dossier lautet die argumentationsleitende These deshalb weiterhin, dass nicht das Internet als solches Schuld an der Krise des Lokaljournalismus hat, wie es immer wieder behauptet wird, sondern die neuen Freiheiten und Funktionsmechanismen des Netzes die selbst- und hausgemachten Probleme der journalistischen Branche offen legen. Gerade in Bezug auf den Lokaljournalismus kann abschließend diese These noch einmal stark gemacht werden. Denn zusätzlich scheint hier jene Erläuterung plausibel, die von einer mangelnden publizistischen Konkurrenz ausgeht. „Denn meist ist es nur eine Tageszeitung, die in einer Region die gesamte lokale Nachrichtenberichterstattung leistet.“ Diese Feststellung impliziert zugleich den Vorwurf, dass damit eine „zur Normalität gewordene Abhängigkeit dieser Tageszeitung von Interessen der örtlichen Wirtschaft und der Politik“ einhergeht.

Dass nicht alle Lokalzeitungen schlecht sind, ist genauso evident, wie auch im umgekehrten Fall gilt, dass in einigen Regionen Deutschlands die Verleger „vornehmlich auf die Auslastung ihrer Druckmaschinen erpicht sind“ und gerade auf Basis dieses Missstands die Voraussetzungen für die Gründung von Lokalblogs wachsen. Doch nicht nur an den aus dem Boden schießenden Lokalblogs ist ablesbar, dass im Bereich des Lokaljournalismus etwas ins Wanken geraten ist. Auch andere Akteure, die dezidiert und primär kommerzielle Interessen verfolgen, wagen neue publizistische Wege. Gemeint sind kostenlose Mitmachzeitungen wie die Gießener Zeitung. Diese Medien machen ihre Leser zu kostenlosen Bürgerreportern. Solche Modelle zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie nicht mehr von ausgebildeten und handwerklich sauber arbeitenden Journalisten getragen werden, sondern von am Geschehen direkt beteiligten Laien. In der Summe sei die Gießener Zeitung damit eine „Zeitung ohne Distanz, ohne Probleme, ohne Skandale. Eine Zeitung fast ohne Journalisten“. Die zuvor dargestellten Probleme werden hier also nicht angegangen, sondern mit einem neuen, kostengünstigen Geschäftsmodell kaschiert. An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, ob es sich hierbei um eine Form von Realitätsverlust handelt? Schließlich wird hier ein weiteres Mal ein Qualitäts- und Alleinstellungsmerkmal des Journalismus zur Disposition gestellt: Glaubwürdigkeit.

Ganz ähnlich entwickeln sich Projekte der etablierten Medienhäuser. So startet der Axel Springer Konzern mit dem Hamburger Abendblatt das „interaktive Stadtteilprojekt ‚Mein Quartier – Die Stadtteilreporter’“ und versucht so, in der sublokalen Berichterstattung Fuß zu fassen. Auch hier sind nicht „professionelle Journalisten zuständig, sondern engagierte Normal-Bürger“. Erstmalig sind die 18 Bürgerreporter zur Hamburger Bürgerschaftswahl in die Stadtteile ausgeschwärmt. Nicht nur aufgrund dieses zeitlichen Zusammenhangs heißt es abzuwarten, ob sich aus diesem Projekt eine journalistische Institution entwickelt. Zumal die Bürgerjournalisten nur dann für ihre Berichte, Fotos und Videos bezahlt werden, wenn diese auch in die Printausgabe gedruckt werden. Für die Online-Versionen gibt es nichts. Entsprechend gehässig reagiert die schreibende Konkurrenz: „Ob das Abendblatt mit der Beschäftigung von Amateuren seine ‚lokale Kompetenz vertieft’ – wie es selbstbeweihräuchernd heißt – oder ob das Lokale nun endgültig zur PR-Maßnahme in eigener und fremder Sache verflacht – ‚Vodafone stellt als Projektpartner die Netbooks und Smartphones zur Verfügung’ – ist noch nicht ausgemacht.“

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass die Frage nach der Zukunft des Journalismus auch eine ideologische ist. Denn schenkt man der Blogosphäre Glauben, dann bieten die Lokalblogs eine ernst zu nehmende Option: die Idee eines Journalismus ganz ohne Verleger, ohne administrative Unterstützung eines Verlagshauses, ohne feste Mitarbeiter. Ein Geschäftsmodell der digitalen Bohème. Bemerkenswerterweise kommt in dieser Hinsicht der Widerspruch von einem der hoch gelobten Lokalblogs. Denn laut der thueringerblogzentrale.de ist der „Versuch, regionale ‚Nachrichtenportale zu etablieren, [...] eine traurige Geschichte zwischen PR, Selbstausbeutung bis hin zu skrupelloser politischer Manipulation. Mit Journalismus hat das alles nicht mehr viel zu tun.“ Nimmt man dieses desaströse Urteil ernst, dann haben Lokalblogs die gleichen Probleme wie etablierte Lokalmedien (plus Selbstausbeutung). Weiter heißt es bei den Thüringer Bloggern: „Hier also von einem 'Boom' zu schreiben, ist nicht nur maßlos übertrieben, sondern offenbar eine gezielte Irreführung der Öffentlichkeit und der möglichen Werbekunden.“

Damit steht ein ernüchterndes Fazit im Raum. Zum einen wurde deutlich, dass „zentrale Probleme des Journalismus nicht extern, sondern intern verursacht sind – etwa durch mangelnde Entdeckungs- und Innovationsbereitschaft im neuen Medienumfeld“. Zum anderen bietet sich gerade für jene, die in Technologie- und Innovationsführerschaft gehen, weder ein zufriedenstellendes Publikationsmodell, noch gewinnbringendes Geschäftsmodell. Auch die Hoffnungen auf die Tablet-PCs waren verfrüht. Schlussendlich kann zusammengefasst werden: dem Journalismus gehört die Zukunft. Nicht jedoch den traditionsversessenen Verlagshäusern vom alten Schlag. Aber den Bloggern auch nicht. Kurzum: Der Journalismus ist tot, lang lebe der Journalismus!