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Das Siegel der Fakultät

Das 1607 entstandene Siegel der Medizinischen Fakultät Giessen, das die Aufschrift "Insignia Facultatis Medicae" trägt, nimmt einen einzigartigen Platz unter den Fakultätsemblemen ein.


 

Es zeigt als Wappentier die Asklepiosschlange, die im Verständnis der Zeit als geflügelter Drachen mit Vogelkopf und Echsenschwanz erscheint [zur späteren Interpretation s. unten; die Red.]. Sie verkörpert Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, Eigenschaften, die den guten Arzt kennzeichnen. Markant sind die Bedeutungsinhalte: Der Apfelzweig im Schnabel erinnert an den biblischen Sündenfall, durch den die Krankheiten in die Welt gelangt sind. Sie sind Gegenstand der ärztlichen Tätigkeit.


Das Stundenglas in der Klaue mahnt an die Kürze des menschlichen Lebens. Es ruft auf zum "NOSCE TE IPSUM!" und zum "MEMENTO MORI ET AEGROTANDI!".

Das Motto "NAEPHE!" fordert: "SEI KRITISCH!" Denn nüchterner Sinn und kritischer Verstand machen den guten Arzt aus.

So verlangt das Emblem vom Angehörigen der Medizinischen Fakultät Giessen eine unermüdliche Tätigkeit und Wachsamkeit bei der Verhütung und Behandlung von Krankheiten, einen stets nüchternen Sinn und kritischen Verstand, sowie die Einsicht in die eigene Hinfälligkeit.

Das Siegel vereinigt damit antik-heidnische (Asklepiosschlange und delphische Selbsterkenntnis) sowie biblisch-christliche (Apfelzweig und Sündenfall) Aussagen. Insbesondere trägt das Siegel Forderungen der hippokratischen Pflichtenlehre weiter. Denn hinter dem Aufruf zur unermüdlichen Tätigkeit und Wachsamkeit steht der erste Aphorismus: "DAS LEBEN IST KURZ, DIE KUNST IST LANG, DER GÜNSTIGE AUGENBLICK IST FLÜCHTIG, DIE ERFAHRUNG IST TRÜGERISCH UND DAS URTEIL IST SCHWIERIG!" Damit ist zugleich die Verpflichtung nach lebenslanger ärztlicher Fortbildung ausgesprochen.

Denn nur so kann dem obersten hippokratischen Grundsatz entsprochen werden: "PRIMUM NIL NOCERE!"

[Geschichte und Interpretation des Siegels wurden rechtzeitig zur 375-Jahr-Feier der Universität aufgeklärt durch die Arbeit von Jost Benedum und Markwart Michler: Das Siegel der Medizinischen Fakultät Giessen; Universitätsbibliothek Giessen 1982. Auch später noch wurde in der Fakultät ein Siegel verwendet, das auf eine Darstellung von 1737 zurückgeht, die wiederum von einem Holzschnitt abgenommen wurde. Anm. d. Red.] Diese Kopie weist zahlreiche Ungenauigkeiten auf, die zu Lasten des notwendigerweise vergröbernden Holzschnittes gehen und eine Interpretation erschweren. Das originale Siegelbild von 1607 hingegen entstammt einer Metallarbeit. [Dem heute verwendeten und oben abgebildeten Siegel liegt eine Nachzeichnung dieses Originals durch Chr. Thiele, Inst. f. Anatomie und Zytobiologie, zugrunde. Die digitale Überarbeitung erfolgte 2007 durch Henrik Kropp, Anm. d. Red.]

Etwaige Zweifel an der Deutung des Emblemtieres als Asklepiosschlange werden z. B. durch drei Bildwerke ausgeräumt: Die Darstellung der Asklepiosschlange auf der Tiberinsel vom Jahre 1581 und des Asklepios mit Schlangenstab von Maerten de Vos vom Jahre 1592. Beide Male ist die Drachenschlange abgebildet. Der Titelkupfer von 1649 mit der Darstellung des Asklepios mit dem Schlangenstab in der Hand und dem Drachen zu Füßen trennt bereits beide Symboltiere. Das Wort "Draco" konnte - bis zur Klärung durch Ausgrabungen im 18. Jhd. - Drache und Schlange bedeuten. Ein anläßlich der Trauerfeier des im Amt verstorbenen Gießener Rektors Johann Stephan Müller 1768 gemaltes Fakultätssiegel beweist, daß das Siegelbild schon damals nicht mehr vollständig verstanden wurde. Denn aus dem Vogelkopf mit Schnabel war ein Drachenmaul mit Zähnen geworden. Noch 1957 anläßlich der 350-Jahrfeier wurde von einem "Phönix oder Greif" gesprochen, die aber ohne Bezug zur Medizin sind.

Originalautor: Jost Benedum, früherer Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin