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Die Entwicklung von Rechtssystemen in ihrer gesellschaftlichen Verankerung

Erfolgreicher Abschluss eines deutsch-türkischen Forschungsprojektes im Rahmen einer vierjährigen Alexander von Humboldt-Institutspartnerschaft – Weitere Zusammenarbeit geplant

 

Nr. 10 • 16. Januar 2014

Die Entwicklung des deutschen und des türkischen Straf- und Strafprozessrechts vergleichend zu untersuchen, stand im Fokus eines deutsch-türkischen Forschungsprojekts der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU), der staatlichen Universität Istanbul und der privaten Kültür-Universität Istanbul. Die Alexander von Humboldt-Stiftung förderte dieses Projekt von 2009 bis 2013 im Rahmen ihres Institutspartnerschaftsprogramms. Mit dem zum Jahreswechsel 2013/14 erschienenen Band „Die Entwicklung von Rechtssystemen in ihrer gesellschaftlichen Verankerung, Forschungsband zum deutschen und türkischen Strafrecht und Strafprozessrecht“, herausgegeben von Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Gropp, Prof. Dr. Bahri Öztürk, Prof. Dr. Adem Sözüer und Dr. Liane Wörner, LL.M. (UW Madison), findet das Forschungsprojekt nun seinen Abschluss – die Zusammenarbeit der deutschen und türkischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedoch wird weitergehen.

„Außergewöhnlich ist bei diesem Projekt nicht nur die langfristige Vernetzung deutscher und türkischer Strafrechtswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in Forschungstandems, sondern auch die Diskussion beider Straf- und Strafprozessrechte auf Augenhöhe – also kein weiterer Export des deutschen Strafrechts“, so Prof. Gropp vom Franz-von-Liszt-Institut für internationales Recht und Rechtsvergleichung der JLU. Den Anlass für die wissenschaftliche Zusammenarbeit bildeten die umfassenden Reformen des türkischen Straf- und Strafprozessrechts zwischen 2003 und 2005. Ziel der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler war es, voneinander zu lernen und gemeinsam zu erforschen, wie ein Strafrecht aussehen muss, das in einem gesellschaftlichen Kontext auch angewendet wird.

Das neue türkische Straf- und Strafprozessrecht enthält neben Anleihen beim deutschen,  italienischen, spanischen, französischen und US-amerikanischen Recht auch originär türkische Elemente. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchten, wie sich die Formen der Rechtsanwendung nach eigenen gesellschaftsinternen Mechanismen verhalten – soll es nicht bei symbolischen Reformen ohne gesellschaftliche Auswirkungen bleiben, muss dies auch die rechtssetzende Gewalt eines Staates mit berücksichtigen.
 
Ziel der Institutspartnerschaft war auch die Förderung von deutschen und türkischen Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die gemeinsam mit den Institutsleitern aus dem jeweils anderen Land in Tandemprojekten forschten, sowie die frühe Einbindung von Studierenden in forschende rechtsvergleichende Aufgabenstellungen. Deshalb wurde dem Forschungsprojekt im Sommersemester 2012 noch ein Studierendenprojekt angegliedert.

Allein zwischen 2009 und 2012 verbrachten insgesamt 15 deutsche und türkische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Nachwuchswissenschaftlerinnen und
-wissenschaftler einen einmonatigen Forschungsaufenthalt an einem der Partnerinstitute, um gemeinsam mit einer Kollegin oder einem Kollegen der jeweiligen Einrichtung an einem Projekt der Institutspartnerschaft zu arbeiten.

Der nun erschienene Forschungsband ist nach dem Tagungsband von 2009 (Gropp/Öztürk/Sözüer/Wörner (Hrsg.): „Beiträge zum deutschen und türkischen Strafrecht und Strafprozessrecht“, Nomos-Verlag 2009) der zweite veröffentlichte Band der Institutspartnerschaft. Der Forschungsband 2014 enthält nicht nur die in den zehn Tandemprojekten ausgearbeiteten Rechtsvergleiche, sondern auch die Beiträge der Studierenden zur Vergleichung der strafgerichtlichen Rechtsprechung in beiden Staaten. Externe Expertinnen und Experten setzen sich zudem in dem Band kritisch mit den Tandemforschungen auseinander.

Der abschließende Beitrag der Forschungskoordinatorin und Mitherausgeberin Dr. Liane Wörner spannt den Bogen über das Gesamtprojekt: Die Studie zeigt einen Blick auf ein türkisches Strafverfahrensrecht, dem die Belange der Beschuldigten und die Herstellung einer prozessualen Waffengleichheit ein Anliegen sind und das sich dem Ausbau und der Festigung von Justizgrundrechten, der umfassenden Einführung von Beweisverboten nach US-amerikanischem Vorbild und der Neuordnung seines Rechtsmittelverfahrens verschrieben hat. Genannt seien die – im Unterschied zum deutschen Strafverfahrensrecht – obligatorische Beiordnung eines Verteidigers in allen Strafverfahren und die grundsätzliche Unverwertbarkeit von Beweisen, die unter Verstoß gegen Beweiserhebungsregeln gewonnen worden sind. Die Umsetzung der Rechtsmittelreform bereitet noch erhebliche Schwierigkeiten, weil erforderliche Berufungsgerichte erst noch eingerichtet werden müssen. Im materiellen Strafrecht erfüllt das neue türkische Strafgesetzbuch seine Garantiefunktion mit klaren Definitionen und einer weitreichend objektiven Auslegung. Es ist dem deutschen Strafgesetzbuch zum Beispiel hinsichtlich des Begriffs der Waffe, aber auch bezüglich der Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit überlegen. Die deutsche Strafrechtswissenschaft ist hier auf die Entwicklung eigener Maßstäbe angewiesen, die bei der Anwendung auf den konkreten Fall auch Schwächen erkennen lassen.

  • Veröffentlichung

„Die Entwicklung von Rechtssystemen in ihrer gesellschaftlichen Verankerung, Forschungsband zum deutschen und türkischen Strafrecht und Strafprozessrecht“, herausgegeben von Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Gropp, Prof. Dr. Bahri Öztürk, Prof. Dr. Adem Sözüer und Dr. Liane Wörner, LL.M. (UW Madison), Nomos-Verlag 2014 
www.nomos-shop.de/20477

  • Kontakt

Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Gropp
Akad. Rätin Dr. Liane Wörner, LL.M. (UW-Madison)
Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht und Strafrechtsvergleichung
Licher Straße 76, 35394 Gießen
Telefon: 0641 99-21540

 

Pressestelle der Justus-Liebig-Universität Gießen, Telefon 0641 99-12041

Schlagwörter
Forschung