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Quantentunneln der Kohlensäure

Internationales Team der Justus-Liebig Universität Gießen und der University of Georgia (USA) entdeckt neue Eigenschaft der Kohlensäure

Nr. 103 • 13. Juni 2016

Quantentunneln ist eines der seltsamsten Phänomene der Quantentheorie. Es erlaubt die Umwandlung eines Moleküls in ein anderes, in dem es durch statt über eine Energiebarriere reagiert. Man könnte einen solchen Tunnelprozess bildhaft mit der Durchfahrt eines Alpentunnels mit dem Auto vergleichen, wobei ein Tunnel tatsächlich gar nicht vorhanden wäre, erläutert Prof. Peter. R. Schreiner vom Institut für Organische Chemie der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU). Ein solcher Vorgang scheine deshalb nahezu unmöglich und folge auch nicht den Gesetzen der klassischen Physik.

So fremdartig dem Laien dieses Phänomen auch erscheinen mag, ein wissenschaftliches Team der Arbeitsgruppe von Prof. Schreiner (JLU) und der University of Georgia, USA, (Arbeitsgruppe Prof. Wesley D. Allen) konnte zeigen, dass Quantentunneln ständig passiert, und zwar in Substanzen, mit denen wir alle bestens vertraut sind: in kohlensäurehaltigen Getränken.

Eine Arbeit hierzu wurde am 24. Mai 2016 in dem Fachjournal Chemical Communications (doi: 10.1039/C6CC01756H) veröffentlicht. Das für die prickelnde Erfrischung verantwortliche Molekül – gasförmiges Kohlendioxid (CO¬2) – bildet sich dabei aus der schnellen Zersetzung der in diesen Getränken enthaltenen Kohlensäure (H2CO3).

Sehr lange war man sich in der Wissenschaft nicht einmal einig, ob es die Kohlensäure in der Gasphase denn überhaupt gibt oder sie sich vielmehr extrem schnell in CO2 und Wasser zersetzt. So gab es erste Hinweise auf die Gasphasenstabilität der H2CO3 erst seit 1987; eine Bestätigung fanden diese aber erst im Jahr 2009.  

Die Arbeitsgruppe von Prof. Schreiner hat kürzlich einen neuen synthetischen Zugang zu gasförmigen Kohlensäure eröffnet (DOI: 10.1002/ange.201406969) und diese unter sehr kalten Bedingungen eingehend untersucht. Die Untersuchungen erfolgten bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt und damit unter Bedingungen, wie man sie auch im Weltraum findet.  Dabei fanden die Wissenschaftler zwei geometrische Isomere, sogenannten Konformere, deren gegenseitige Umwandlung über einen gewissen Zeitraum genau nachverfolgt werden konnte.

Es stellte sich heraus, dass das energetisch höher liegende Konformer sich in wenigen Stunden (abhängig von der exakten Temperatur und dem umgebenden Material) in das energetisch tiefer liegende Konformer umwandelt, obwohl hierfür nicht ausreichend Energie zur Verfügung steht. Qualitativ sehr hochwertige Berechnungen der Arbeitsgruppe von Prof.  Allen zeigen, dass es sich hier um einen quantenmechanischen Tunnelprozess handeln muss.

Die komplexen Zerfalls- und Umwandlungsmechanismen wurden mittels mathematischer Modelle, wie sie schon für das sogenannte „Domino-Tunneln“ (DOI: 10.1021/jacs.5b03322) entwickelt wurden, beschrieben.

Die vorliegende Analyse der Kohlensäure zeigt, dass konformatives Tunneln ein weit verbreitetes Phänomen ist, das empfindlich von der Umgebung abhängt und damit auch von außen kontrolliert werden kann. In der Weiterentwicklung solcher Studien können sich also neue Möglichkeiten zur Kontrolle von Selektivitäten chemischer Reaktionen eröffnen.


  • Publikation

J. Philipp Wagner, Hans-Peter Reisenauer, Vivii Hirvonen, Chia-Hua Wu, Joseph L. Tyberg, Wesley D. Allen, and Peter R. Schreiner: „Tunneling in Carbonic Acid“, Chemical Communications, May 24, 2016
DOI: 10.1039/C6CC01756H   
http://pubs.rsc.org/en/content/articlelanding/2016/cc/c6cc01756h#!divAbstract


  • Weitere Informationen

www.uni-giessen.de/fbz/fb08/Inst/organische-chemie/agschreiner/research/tunneling
www.uni-giessen.de/schreiner


  • Kontakt


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Heinrich-Buff-Ring 17, 35392 Gießen
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Pressestelle der Justus-Liebig-Universität Gießen, Telefon 0641 99-12041




Schlagwörter
Forschung