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Amoktaten: Motivbündel von Wut, Hass und Rachegedanken

Gießener Team legt kriminologische Analyse von Amoktaten im Rahmen des BMBF-geförderten Verbundprojekts TARGET vor – Unterschiede zwischen jugendlichen und erwachsenen Tätern – Warnsignale ernst nehmen – Beratungsnetzwerk Amokprävention

Nr. 116 • 23. Juni 2016

Warum begehen Menschen Amoktaten, wie lassen sich Risikofaktoren identifizieren und die Gewalttaten verhindern? Ursachen und Prävention von Amoktaten zu erforschen ist das Ziel des Verbundprojekts TARGET (Tat- und Fallanalysen hoch expressiver zielgerichteter Gewalt), an dem die Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) mit dem Teilprojekt „Kriminologische Analyse von Amoktaten – junge und erwachsene Täter von Amoktaten, Amokdrohungen“ beteiligt ist. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat das Verbundprojekt von März 2013 bis Juni 2016 gefördert. Bei der Abschlusstagung des Gießener TARGET-Teilprojekts am 23. Juni 2016 in Gießen wurden die Ergebnisse vorgestellt. Im Rahmen dieses kriminologischen Teilprojekts wurden interdisziplinär Fälle junger und erwachsener Täter von (versuchten) Mehrfachtötungen anhand von Strafakten, Interviews und psychiatrisch-psychologischen Gutachten analysiert.

Eine Untersuchung, die in den vergangenen Tagen erneut traurige Aktualität bekam, wie Prof. Dr. Britta Bannenberg, Professorin für Kriminologie an der JLU und Leiterin des Gießener Teilprojekts feststellt: „Die jüngsten Taten durch Einzeltäter in Orlando oder das Attentat auf Jo Cox in Großbritannien zeigen Täterpersönlichkeiten, die in ihrer Mischung aus Hass und Extremismus auch in dieser Studie wiederzufinden sind.“

Jugendliche Täter und selten Täterinnen

Das Team von Prof. Bannenberg hat im Rahmen von TARGET nahezu alle Amoktaten junger Täter bis 24 Jahre in Deutschland zwischen 1990 und 2016 untersucht – insgesamt 35 Fälle, darunter die Taten aus Erfurt, Emsdetten und Winnenden/Wendlingen. Die Gießener Studie zeigt, dass die jungen Amoktäter eine geplante Mehrfachtötung begehen, weil sie als sonderbare Einzelgänger psychopathologisch auffällig sind und ein Motivbündel von Wut, Hass und Rachegedanken entwickeln, das nicht rational begründet ist. Ihre Persönlichkeit zeigt narzisstische und paranoide Züge, die jungen (ganz überwiegend männlichen) Täter sind extrem leicht zu kränken, aber nicht impulsiv oder aggressiv auffällig. Sie fühlen sich oft gedemütigt und schlecht behandelt, ohne dass die Umwelt dieses nachvollziehen kann und beginnen, im Internet nach Vorbildern und Ventilen für ihre Wut zu suchen. Sie sinnen lange über „Rache“ und eine grandiose Mordtat nach, entwickeln ausgeprägte Gewalt- und Tötungsphantasien. Insbesondere in der Tat an der Columbine High School im April 1999, die im Internet in vielfältiger Form auffindbar ist, finden sie eine Möglichkeit der Identifikation, so die Erkenntnisse der Forscherinnen und Forscher.

Das zeigt, dass es jugendtypische Aspekte dieser Taten gibt: Die Inszenierung der Tat und die Selbststilisierung als sich rächendes Opfer, was mit der Realität nichts gemein hat, ist eine jugendtypische Facette dieser Taten. Deshalb haben die in der Öffentlichkeit häufig als Ursache missverstandenen Ego-Shooter, Gewaltvideos und hasserfüllten Liedtexte sowie die Waffenaffinität nach Ansicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch eine besondere Bedeutung: Als Inspiration und Verstärker für die schon vorhandenen Gewaltphantasien spielen sie eine Rolle bei der Selbstdarstellung der im realen Leben erfolglosen, überforderten und sich ständig gekränkt fühlenden Täter. Teilweise planen die Täter die Medienresonanz bewusst ein.

Verwenden die Täter Schusswaffen, ist die Opferzahl in der Regel besonders hoch. Die jungen Täter griffen bei den untersuchten Fällen meist auf nicht ordnungsgemäß gesicherte Schusswaffen im Haushalt zurück. Alternativ verwendeten sie Hieb- und Stichwaffen sowie Brandsätze.

Die Forscherinnen und Forscher stellten sowohl bei den jugendlichen als auch bei der heterogeneren Gruppe der erwachsenen Täter eine hohe Bedeutung des Suizids bzw. des Suizidversuchs nach der Tat fest. Es handelt sich hier nicht um depressive Verzweiflung, sondern um die Inszenierung eigener Großartigkeit. Die Täter demonstrieren ihre Macht und ihren Hass auf die Gesellschaft und/oder besonders attackierte Gruppen mit einer öffentlichkeitswirksamen Mehrfachtötung, der der Suizid folgt.

Erwachsene Täter und seltener Täterinnen

Das Gießener Team analysierte zudem eine Auswahl von 40 erwachsenen Tätern – überwiegend männliche Einzelgänger, die Studie umfasste nur zwei Frauen. Bei den Erwachsenen dominiert die Psychose vor allem in Form der paranoiden Schizophrenie bei etwa einem Drittel, ein weiteres Drittel hat eine paranoide Persönlichkeitsstörung. Auch die anderen erwachsenen Täter sind psychopathologisch auffällig und zeigen häufig narzisstische und paranoide Züge. Sie sind leicht zu kränken, fühlen sich schlecht behandelt und nicht beachtet. Es finden sich auch psychopathische Persönlichkeiten ohne Empathie mit sadistischen Anteilen. Die Erwachsenen in den analysierten Fällen sind häufiger querulatorisch auffällig und scheitern in Beruf und Partnerschaft. Anders als bei jugendlichen Tätern spielt bei ihnen Alkohol- und Drogenmissbrauch eine Rolle als Verstärker.

Erwachsene, so ein weiteres Ergebnis der Studie, orientieren sich nicht konkret an medialen Vorbildern und ahmen auch keine Kleidungsstile und andere jugendtypische Attribute nach, sie hinterlassen seltener Selbstzeugnisse. „Allerdings dürften auch sie von Zeitströmungen und Medienberichten über extreme Gewalttaten inspiriert sein“, so Prof. Bannenberg. Kern ihrer Motive sei Hass und Groll auf bestimmte Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes, weshalb sie ihre Taten auch oft als Racheakte verstehen.

Prävention und Prognose

Bei der Prävention ist nach Aussage der Studie danach zu unterscheiden, ob die Täter vor der Tat erkennbar sind und welche Behandlungsmöglichkeiten nach der Inhaftierung bzw. der Unterbringung im Maßregelvollzug wirksam sind. In der Untersuchung zeigte sich, dass junge Täter im schulischen Kontext vor allem ihren Mitschülerinnen und Mitschülern als seltsam oder bedrohlich auffallen und frühe Interventionen häufiger sind als bei Erwachsenen. Auch ist das Droh- und Warnverhalten der jungen Täter ausgeprägter.

Bei Erwachsenen werden viele Warnsignale und Andeutungen der Tat häufig nicht ernst genommen oder nur im familiären Umfeld registriert. Polizei und Psychiatrie werden in der Regel nicht informiert – auch nicht, wenn die Personen als Sportschützen Zugang zu Schusswaffen haben. Auch im beruflichen Kontext wird nicht die Polizei eingeschaltet. Eher versucht man, die betreffenden Mitarbeiter zu kündigen.

„Die Prognose verurteilter und untergebrachter Täter ist nur dann gut, wenn sich die Persönlichkeitsstörung nicht verfestigt, persönliche Entwicklungsperspektiven ergriffen werden und eine Distanzierung von den Hassgedanken gelingt“, so Prof. Dr. Britta Bannenberg. „Dies ist insgesamt eher selten.“

Zur Studie

Als Amoktaten wurden in der Studie beabsichtigte oder vollendete Mehrfachtötungen gewertet. Die qualitativen Fallanalysen stützen sich auf Strafakten und Asservate, Selbstzeugnisse der Täter, Interviews mit ihnen, den Opfern und Menschen aus dem sozialen Umfeld sowie auf psychiatrisch-psychologische Einschätzungen. Sofern die  soweit die Täter nach der Tat durch Suizid oder provozierten Suizid verstorben sind, erfolgte auch eine psychologische Autopsie, bei der Daten aus der Vergangenheit der Personen genutzt werden, um Motive für die Tat zu finden.

Beratungsnetzwerk Amokprävention

Prof. Dr. Britta Bannenberg berät kostenlos Menschen bei der Abklärung einer Amok-Bedrohung (Gefahrenprognose) und beim Umgang mit der bedrohlichen Person. Wer sich Sorgen macht über das Verhalten einer Person, sich unsicher ist, ob von jemandem eine Gefahr ausgeht, ob man die Polizei benachrichtigen oder externe Berater einschalten sollte, kann sich an der Professur für Kriminologie der JLU Rat holen. Prof. Bannenberg arbeitet dabei mit dem Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden zusammen.

Telefon: 0641 99-21571 (Montag bis Donnerstag von 9 bis 12 Uhr und von 13 bis 15 Uhr)


  • Weitere Informationen

www.uni-giessen.de/fbz/fb01/professuren/bannenberg
www.uni-giessen.de/fbz/fb01/professuren/bannenberg/news/beratungsnetzwerk-amokpraevention (Beratungsnetzwerk Amokprävention)

  • Kontakt


Professur für Kriminologie
Licher Straße 64, 35394 Gießen
Telefon: 0641 99-21570

Pressestelle der Justus-Liebig-Universität Gießen, Telefon 0641 99-12041

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Forschung