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Wer wird noch behandelt?

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Gießen (csk). Gefühlt rückt das Dilemma durch Corona bedrohlich näher. Zwei schwer kranke Patienten kommen ins Krankenhaus, der eine Rentner und 85 Jahre alt, der andere Familienvater Mitte 30. Wegen schwindender Kapazitäten kann nur einer die lebensrettende intensivmedizinische Behandlung erhalten. »Tod oder (Weiter-)Leben: Existentielle Verteilungsentscheidungen in sogenannten Triage-Situationen« hieß am Mittwochabend das Thema im gesundheitsrechtlichen Praktikerseminar an der Justus-Liebig-Universität. Es beschäftigte sich mit Situationen wie der soeben skizzierten - und mit denkbaren Rechtsregeln dafür.

Als Ausgangspunkt diente den Teilnehmern ein Papier, das unter Federführung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) Ende März publiziert wurde. Diverse Fachgesellschaften betonen darin speziell einen Punkt: Einzig vertretbares Kriterium, um in Extremlagen wie der Triage zu entscheiden, sei die medizinische Erfolgsaussicht. Alter, Familienstand, Herkunft, Behinderungen und anderes dürfe keine Rolle spielen. Das, so die erste Diagnose im Online-Praktikerseminar, belasse die Verantwortung grundsätzlich bei den Ärzten.

»Es handelt sich aber um ein normatives, nicht um ein medizinisches Problem«, sagte Katja Gelinsky, Referentin für Recht und Politik bei der Konrad-Adenauer-Stiftung. Gefragt sei der Gesetzgeber. Er müsse bislang fehlende Grundlagen schaffen. Dieser Schritt könne indes »Konsequenzen für die gesamte Rechtsordnung« haben, erwiderte Steffen Augsberg. Der JLU-Professor für Öffentliches Recht warnte davor, Listen mit »positiven Auswahlkriterien« zu definieren - weil sie »alle abwerten würden, die nicht darauf passen«. Die Konsequenz sei »eine Negativauswahl mit tödlichem Ergebnis«.

Mehrfach erklärten die Experten, dass die Triage hierzulande auch heute schon mitnichten ein »rechtsfreier Raum« sei. Prof. Reinhard Merkel, der bis vor Kurzem im Deutschen Ethikrat saß, unterschied in seinem Impulsvortrag drei Varianten. Eine Auswahl »ex post«, also das Abkoppeln des 85-Jährigen vom Beatmungsgerät zugunsten des neu eingewiesenen Mittdreißigers, sei eine verbotene »Tötungshandlung«. Ebenfalls nicht erlaubt sei es, Kapazitäten präventiv zu blocken - falls der Senior komme, während noch ein letztes Intensivbett zur Verfügung steht.

Die allein zulässige Variante der Triage bleibe so ihre Ex-ante-Form: Demnach bräuchten älterer und jüngerer Patient praktisch gleichzeitig eine Beatmung, doch nur einer könnte sie erhalten. Das Strafrecht kenne für dieses Dilemma den Begriff der »Pflichtenkollision«, erläuterte Merkel. Die Ärzte würden jetzt so oder so nicht beide Patienten retten, sie müssten dabei »möglichst nach ihren moralischen Vorstellungen« agieren - und machten sich unter diesen Bedingungen keinesfalls strafbar.

»Nachgerade vermessen« nannte Merkel die Idee, der Gesetzgeber könne die gesamte Last von den Medizinern nehmen. Gleichwohl, befand der Anwalt Oliver Tolmein, brächten Gesetze »eine klare Entlastung«. Am Ende der Debatte beleuchteten Gelinsky und Matthias Brumhard, Ethikbeauftragter am Uniklinikum Gießen-Marburg, noch selbstbestimmte Entscheidungen der Patienten im Vorhinein für oder gegen eine Privilegierung in Triage-Situationen. Auch der Ethiker Kurt W. Schmidt meinte, er sehe im Klinikalltag »viel mehr altruistische Menschen, als man denkt«.

Das Statement eines Zuhörers, der für einen Primat moralischer Abwägungen gegenüber rechtlichen Regeln plädierte, wollte Merkel allerdings nicht unkommentiert lassen. Wie auch immer man die Triage in Zukunft gesetzlich fasse: Recht müsse stets Vorrang vor Moral haben, sagte er. »Denn es gibt nie nur eine Moral.«

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