„Wir haben längst eine Mehr-Klassengesellschaft“

Der Impfstoff ist da, doch noch lange nicht für alle. Ein Gespräch mit dem Verfassungsrechtler Steffen Augsberg über Grundrechte und Solidarität.

Prof. Dr. Steffen Augsberg ist Mitglied des deutschen Ethikrats.
Prof. Dr. Steffen Augsberg ist Mitglied des deutschen Ethikrats.imago/Metodi Popow

Berlin-Der Impfstoff ist endlich da, doch noch lange nicht für alle. Ob bereits geimpfte Personen privilegiert werden sollten, wird kontrovers diskutiert. Während die Koalition ein Verbot von „Sonderrechten“ für Geimpfte erwirken will, können Privatunternehmer ihre Kunden nach Impfstatus aussuchen.

Herr Professor Augsberg, was halten Sie von der Debatte um Sonderrechte für Geimpfte? Handelt es sich überhaupt um Sonderrechte?

Sonderrechte passt in der Tat nicht. Man muss differenzieren und schauen, ob eine Besserstellung von Geimpften durch den Staat oder durch Private erfolgt. Wenn staatliche Infektionsschutzmaßnahmen zurückgenommen werden, ist das kein Sonderrecht, sondern gewissermaßen nur die Rückgewähr von Grundrechten. Die Beschränkungsmaßnahmen beruhen auf der Annahme, dass man möglicherweise infiziert und damit gefährlich für sich und andere ist. Wenn die Impfung eine Immunisierung und Nichtinfektiösität bedeutet, dann entfällt gegenüber Geimpften der grundsätzliche Berechtigungsgrund für die staatliche Maßnahme. Damit sind im Prinzip all die Beschränkungen, die wir jetzt haben, ihnen gegenüber nicht mehr zulässig. Das ist kein Sonderrecht und auch kein Privileg, sondern eine Rückkehr zum Normalzustand. Aus einer grundrechtlichen Perspektive gesprochen darf der Staat die Beschränkungen dann insoweit nicht aufrechterhalten.

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn appelliert an die Solidarität der Geimpften, da viele Menschen noch nicht die Möglichkeit hatten, sich impfen zu lassen.

Ich verstehe diesen Rekurs auf die Solidarität so, dass er – anders als andere – verstanden hat, dass rechtlich betrachtet die Freiheiten zurückgegeben werden müssen. Aber das ist ein relativ vages Kriterium, und zudem kann man das Solidaritätsargument auch umkehren: Ist es nicht auch ein Zeichen der Solidarität der Nicht-Geimpften mit den Geimpften, dass man sagt: Ich gönne euch, dass wenigstens ihr ein Stück weit Normalität zurückgewinnt? Zumal sich hierdurch für mich als Ungeimpften ja überhaupt nichts ändert?

Das klingt nach einer Neiddebatte.

Das kann man so sehen. Es ist zugegebenermaßen schwierig, an dieser Stelle Neidgefühle von Solidaritätsargumenten genau zu trennen. Jedenfalls ist es aber nicht überzeugend, pauschal zu verlangen, dass man weiterhin gemeinsam den Beschränkungen unterliegt.

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Foto: imago/Christian Ditsch
Steffen Augsberg
Der Verfassungsrechtler Steffen Augsberg, 44, ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Gießen. Er hat in Trier und München studiert. Seit 2016 ist er Mitglied des deutschen Ethikrats. 

Wie sieht es im privatwirtschaftlichen Bereich aus?

Private dürfen sich aussuchen, mit wem sie Verträge schließen. Grenzen setzt vor allem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Dort gilt, dass bestimmte Dinge für den Geschäftsverkehr irrelevant sind; ob jemand helle oder dunkle Hautfarbe hat oder an Jesus Christus glaubt, ist beispielsweise für ein Mietverhältnis egal. Wenn das ein Vermieter individuell anders sieht, wird dies rechtlich nicht akzeptiert. Das heißt aber nicht, dass sich das AGG blind stellt für sachlich begründete Unterscheidungen. Es gibt Rechtfertigungsmöglichkeiten. Bezogen auf unsere Situation ist zu beachten, dass erstens der Impfstatus bislang nicht als Diskriminierungsmerkmal normiert ist. Zweitens stellte die Impfung zumindest in aller Regel einen sachlichen Differenzierungsgrund dar: Wenn geimpfte Personen mich und andere nicht anstecken können, kann man mit ihnen ganz anders umgehen als mit ungeimpften Personen.

Im konkreten Fall geht es nicht nur um Krankheit, die auch sonst unterschiedliche Behandlungen rechtfertigen kann – sogar im staatlichen Bereich, etwa bei einer Verbeamtung –, sondern um eine von der Krankheit ausgehende Gefährlichkeit. Das kann man erst recht als Differenzierungsmerkmal einsetzen.

Wie weit darf die Privatwirtschaft dabei gehen? Kann es dazu kommen, dass für Ungeimpfte kein „normales Leben“ mehr möglich ist?

Prinzipiell ja. Wir haben dafür aktuell keine Regelung. Wenn es dazu kommen sollte, wäre der Staat verpflichtet einzugreifen. Davon sind wir aber weit entfernt. Es ist auch sehr unwahrscheinlich, dass es dazu kommt. Wir nehmen die Privatautonomie mit gutem Grund ziemlich ernst. Nach der alten Adam-Smith-Einsicht: Der Bäcker verkauft mir nicht die Brötchen, weil er mir einen Gefallen tun möchte, sondern weil er Gewinn erzielen möchte. Das gilt hier auch. Die Unternehmen werden sich genau überlegen, ob es von Vorteil ist, etwas nur für Geimpfte anzubieten. Und in dem Moment, in dem es mehr Geimpfte gibt, wird es wahrscheinlicher, dass die allgemeinen Beschränkungsmaßnahmen aufgehoben werden.

Wie wird sich das ändern, wenn es genug Impfstoff für alle gibt?

Wenn es später eine freiwillige Entscheidung ist, ob wir einen zur Verfügung stehenden Impfstoff nutzen oder nicht, ist das erst recht keine soziale Spaltung, sondern eine persönliche Entscheidung. Wir müssen lediglich aufpassen, dass man eine Diskriminierung verhindert von Menschen, die aus krankheitsbedingten Gründen die Impfung nicht vertragen. Aber das ist ein sehr kleiner Prozentsatz im Vergleich zur Gesamtdebatte.

Wir schulden es den Menschen in der Pflege, so viele Kontakte wie möglich zu erlauben.

Steffen Augsberg

Das liegt noch in der Zukunft. Aktuell betrifft es erst einmal die alten Menschen in den Heimen.

Das ist die jetzt aktuelle Problematik. Wir haben angefangen, die Heime durchzuimpfen. Dennoch dauert es noch Monate, bis wir mit dieser Risikogruppe durch sind. Wollen wir wirklich die Kontaktbeschränkungen in den Heimen aufrechterhalten, bis alle Heime oder sogar alle sonstigen Impfwilligen durchgeimpft sind? Wenn alle in einer Einrichtung geimpft sind, ist die Frage der Nicht-Infektiösität gar nicht so entscheidend. Dann könnten sie sich wenigstens wieder intern besuchen gehen. Das zu verbieten finde ich in höchstem Maße zynisch. Einer 93-Jährigen zu sagen: Du musst jetzt noch einmal drei Monate durchhalten, bis es besser wird – das können wir als Gesellschaft nicht machen.

Wie sollten wir es machen?

Es gibt bereits Anfragen aus Heimen, ob sie Restriktionen lockern können. Die Antwort aus meiner Sicht müsste eindeutig sein: Ihr könnt nicht nur, ihr müsst sogar! Das sind scheinbare Kleinigkeiten, die aber eine deutliche Verbesserung der Lebenssituation bedeuten können – etwa, weil man wieder gemeinsam Kuchen essen kann und nicht nur alleine auf dem Zimmer sitzen muss. Wir haben uns zu diesem konkreten Problem als Ethikrat noch nicht geäußert. Allerdings haben wir vor Weihnachten eine Ad-hoc-Empfehlung vorgestellt zum erforderlichen Mindestmaß an sozialen Kontakten in der Langzeitpflege. Daran wäre meiner Meinung nach anzuknüpfen: Wir schulden es den Menschen in der Pflege, so viele Kontakte wie möglich zu erlauben.

Das ist auch ein gutes Beispiel, um zu verdeutlichen, wie schwierig das Solidaritätsargument ist. Da wird der Gesellschaft unterstellt, dass wir nicht großzügiger sein könnten. Wir können und wir sollten anderen etwas gönnen – und zwar gerade denen, die durch die Pandemie besonders belastet sind.

Wie wählt man die Heime aus, in denen zuerst geimpft wird? Sollten diese ausgelost werden?

Das ist eine schwierige Aufgabe. Beim ersten Verteilungsgang gibt es logistische Gründe für eine bestimmte Reihenfolge. Aber innerhalb der gleich gefährdeten Gruppe ist das Zufallsprinzip sicher eine Option. Klar ist, dass nicht individuell entschieden werden darf, sondern gruppenbezogen. Insofern mag es zu kleinen Ungerechtigkeiten kommen. Aber die sind der Effizienz und Effektivität der Maßnahmen geschuldet.

Wir haben längst eine Mehr-Klassengesellschaft.

Steffen Augsberg

Das Isolationsproblem kann sicher jeder nachvollziehen, der in einer kleinen Wohnung wohnt.

Das ist ein wichtiger Punkt. Wir tun oft so, als ob die Zwei-Klassen-Gesellschaft erst durch die Unterscheidung von Geimpften und Ungeimpften entstünde, als ob Covid-19 ansonsten sozial indifferent sei. Das trifft nicht zu. Wer im eigenen Haus mit Grundstück lebt und vernünftige Lieferservices hat, die er sich unproblematisch leisten kann, den berührt das alles vergleichsweise wenig. Wer demgegenüber mit mehreren Generationen auf engem Raum wohnt, hat ein erhöhtes Expositionsrisiko und ist stärker belastet.

Menschen mit unsicheren beruflichen Perspektiven, insbesondere, aber keineswegs nur in prekäreren Beschäftigungsverhältnissen, haben offensichtlich ganz andere Sorgen und Beschwernisse als jemand wie ich in seinem privilegierten Beamtentum. Nicht nur psychisch, sondern auch physisch, weil etwa ein Homeoffice schlicht nicht möglich ist.

Die Gesellschaft ist also schon längst gespalten.

Jedenfalls müssten wir in vielen Bereichen sozial sensibler sein: C Für einen Gutteil der Bevölkerung ist das nicht so – und das meine ich überhaupt nicht als Vorwurf. Die negativen Effekte der Pandemie sind allgemein sehr unterschiedlich verteilt, und das hängt auch mit sozialen Vorbedingungen zusammen.

Insoweit haben wir längst eine Mehr-Klassengesellschaft. Ich finde es erstaunlich, dass das Thema ausgerechnet bei der Differenzierung zwischen Geimpften und Ungeimpften aufgebracht wird. Die beruht auf einer Priorisierung, die gerade nicht sozialer Natur ist, sondern an der besonderen Gefährdung ansetzt. Das ist keine soziale Spaltung. Erst recht gilt das, wenn es später von einer persönlichen Entscheidung abhängt, ob man geimpft ist oder nicht.

Wenn etwa Homeschooling als unproblematisch dargestellt wird, ist das eine sehr bildungsbürgerliche Sicht der Dinge.

Steffen Augsberg

Sind die Klagen dagegen schon absehbar?  

Ganz sicher. Ich vermute, dass die Verbote reihenweise aufgehoben würden. Es entfällt schlicht die Begründung. Minimalinvasive Maßnahmen wie die Alltagsmaske kann man vermutlich aufrechterhalten. Das berührt einen vergleichsweise gering. Aber wenn ein Theater, Kino oder Gesangsverein nicht betrieben werden kann und damit genuin grundrechtlich relevante Handlungen betroffen sind, kann man das nicht damit begründen, dass es für andere komisch wäre, wenn beispielsweise ein „durchgeimpfter“ Gesangsverein wieder singt.

Umso wichtiger ist es, dass wir den Bürgern nicht zumuten, dass sie ihr Recht erst erstreiten müssen. Grundrechtspositionen zurückzugewähren, wenn die Beschränkungsbegründungen entfallen, ist eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit.

Vielen Dank für das Gespräch.