Die Diskussion wird dieser Tage heiß geführt. Keine Impfpflicht, so lautet vielfach die Forderung. Oder: Die 2G-Regel sei eine Impfpflicht durch die Hintertür! Das hatte der Virologe Hendrik Streeck jüngst bei Markus Lanz kritisiert. Das alles klingt so, als sei die Pflicht, sich impfen zu lassen, in der Bundesrepublik undenkbar. Aber: Die Impfpflicht gab es in der BRD bereits, und das sogar insgesamt für eine lange Zeit.

Bis 1954 gab es eine Impfpflicht gegen Diphtherie (Infektionskrankheit, befällt die oberen Atemwege), je nach Bundesland auch gegen Scharlach (durch Streptokokken ausgelöste Infektionskrankheit). Und: Von 1949 bis 1975 galt eine allgemeine Impfpflicht gegen die Pocken. Ab 1976 wurde sie schrittweise aufgehoben, komplett beendet war sie dann aber erst 1983. Dabei lagen die Ursprünge dieser Pflicht noch weiter zurück.

Schon am 26. August 1807 hatte das Land Bayern die Pflichtimpfung gegen Pocken eingeführt. Verweigerern drohten hohe Geldstrafen. Nach und nach taten es andere deutsche Länder gleich, bis die Pflicht dann schließlich 1874 für alle Bürger im Deutschen Reich galt. Nach dem Zweiten Weltkrieg löste diese Pflicht, die immer noch auf dem alten Reichsimpfgesetz beruhte, juristische Diskussionen aus - sie sei nicht mit dem Persönlichkeitsrecht des einzelnen Menschen laut Grundgesetz vereinbar.

Am 14. Juli 1959 urteilte aber das Bundesverwaltungsgericht: "Der durch das Impfgesetz vom 8. 4. 1874 (...) angeordnete Impfzwang ist mit dem Grundgesetz vereinbar." Geklagt hatte damals ein Vater für seine zwei Jahre alte Tochter. Die Bundesrichter entschieden damals aber, dass die Impfpflicht verfassungsgemäß sei: "Die Vereinbarkeit des Impfzwanges mit dem Grundgesetz ist zu bejahen. Die Impfung stellt zwar einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar. Er fällt jedoch unter den Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 Grundgesetz."

Kommt eine neue Impfpflicht?

Dieser Artikel des Grundgesetzes hat unverändert Gültigkeit: In die Rechte auf körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person kann nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Eine solche Gesetzesvorschrift existiert im Moment zwar nicht, aber ist es ausgeschlossen, dass sie im Zuge der Corona-Pandemie eingeführt wird? "Nein, ganz ausschließen ist kann man das zum jetzigen Zeitpunkt nicht", sagt Steffen Augsberg, Verfassungsrechtler und Mitglied des Deutschen Ethikrates, unserer Zeitung. Der Gesetzgeber hat eine solche Pflicht ja auch bei der Masernimpfung eingeführt." In der Sache wäre eine Impfpflicht zwar eine massive Grundrechtsbeeinträchtigung, aber die Pandemie habe uns gelehrt, dass auch andere Grundrechtseinschnitte akzeptiert worden seien. "Ich sehe in der Politik einen sich eher auflösenden Konsens gegen eine Impfpflicht."

Gründe hierfür seien auch im aktuellen Wahlkampf zu suchen und in Befürchtungen für die pandemische Lage im Herbst. "Und mit dem Bild steigender Infektionszahlen vor Augen greifen wir auf die Maßnahmen zurück, die wir bereits haben - Abstand, Masken, Händewaschen und eben Impfen. Innovationen in der Bekämpfung der Pandemie sind eher nicht zu erkennen, das sieht man unter Anderem daran, dass es nicht ansatzweise gelungen ist, beispielsweise die Schulen mit Lüftungssystemen auszustatten." Heißt also: Die Frage, ob eine den Bürgern auferlegte Pflicht komme, sei nicht nur eine rein gesetzestechnische - auch solche Entscheidungen und die Entwicklung bis dorthin würden von der politischen Großwetterlage mitbeeinflusst. Augsberg: "Was man hier der Politik meines Erachtens aber vorwerfen kann, ist, dass die Debatte hierum nicht ehrlich genug geführt wird. Dass nicht klar gesagt wurde, welche Mittel eingesetzt werden sollen, um bestimmte Ziele zu erreichen." Das sehe man zum Beispiel an Hamburg, wo aber immerhin kommuniziert würde, dass die Umsetzung der 2G-Regel Druck auf Ungeimpfte ausüben solle. Käme aber eine Impfpflicht, würde das nicht zu einer weiteren Spaltung der Gesellschaft führen? Augsberg: "So drastisch sehe ich das nicht. Aber natürlich würde das aus Sicht der Impfgegner ihre schlimmsten Erwartungen erfüllen. Und ein Vertrauensverlust in die Politik könnte auch die Folge sein. Immerhin hätte dann der Bundesgesundheitsminister ein Versprechen gebrochen, das er mehrfach gegeben hat."