Sollen sie doch sterben, wenn sie sich nicht impfen lassen?

Warum werden Kimmich oder Precht so hart angegriffen, wenn sie Corona-Maßnahmen bezweifeln? Steffen Augsberg vom Ethikrat über die Gefahr der Bevormundung.

Schriftlicher Debattenbeitrag: Fans des FC Bayern richten sich an den ungeimpften Fußballprofi Joshua Kimmich, der zuvor eine Hexenjagd erlebte.
Schriftlicher Debattenbeitrag: Fans des FC Bayern richten sich an den ungeimpften Fußballprofi Joshua Kimmich, der zuvor eine Hexenjagd erlebte.imago/Koch

Berlin-Professor Steffen Augsberg beobachtet in der Corona-Pandemie einen Hang zu Hysterie. Der Jurist und Mitglied des Ethikrats spricht im Interview über Beschränkungen für Ungeimpfte, Druck, der Gegendruck erzeugt – und Fußballer als Politikum.

Berliner Zeitung: Herr Augsberg, Fußballprofi Joshua Kimmich hat mit seinem Bekenntnis, nicht gegen das Coronavirus geimpft zu sein, heftige Reaktionen ausgelöst. Steht dieser Fall für die Debattenkultur nach fast zwei Jahren Corona-Pandemie?

Steffen Augsberg: Es hat eine Art Hexenjagd stattgefunden. Man kann sicher darüber diskutieren, ob es zusammenpasst, sich einerseits für eine coronabezogene Hilfskampagne zu exponieren und sich andererseits selbst nicht impfen zu lassen. Doch die Bedenken, die er äußert, sind nicht vollkommen abwegig. In skandinavischen Ländern, jetzt auch in Sachsen, wird der Impfstoff von Moderna erst ab 30 Jahren empfohlen. Der Mann ist 26, und jetzt werfen wir ihm vor, dass er nicht zwischen verschiedenen Impfstoffen differenziert?

Müssen wir Kimmich für die Debatte dankbar sein?

Sie ist insofern sinnvoll, als wir uns ehrlich Gedanken darüber machen, warum wir impfen. Fehlinformationen benennen und Risiken analysieren, auch auf Generationen bezogen. Ein 26-Jähriger hat ein vergleichsweise niedriges Risikoprofil. Zugleich werden gerade Profisportler sehr auch auf geringe Leistungsabfälle achten. Es geht um gruppenbezogene und individuelle Risiko-Nutzen-Abwägungen.

Sind wir nicht mehr fähig zu solchen Abwägungen?

Wir erleben eine starke Polarisierung, die gerade angesichts der doch nach wie vor zahlreichen offenen Fragen erstaunlich ist. Auf der einen Seite heißt es: Corona ist nur eine Grippe, ein Vorwand für eine Gesundheitsdiktatur. Auf der anderen Seite: Lockerungen werden Hunderttausende Tote zur Folge haben; Kritiker sind „Menschenfeinde“. Ein argumentativer Austausch findet kaum statt, vielleicht auch, weil die Corona-Schutzmaßnahmen gerade Orte des zivilgesellschaftlichen Diskurses – Vereine, Gaststätten und ähnliches – stark begrenzt haben.

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imago/Popow
Zur Person
Steffen Augsberg, 45, ist Professor für öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seit 2016 gehört er dem Deutschen Ethikrat an. Mit seinen Stellungnahmen und Empfehlungen gibt das Gremium Orientierung für Gesellschaft und Politik. Die Mitglieder werden vom Präsidenten des Deutschen Bundestages ernannt.

Es heißt, Kimmich müsse ein Vorbild sein. Ist das so falsch?

Der Mann spielt Fußball, er hat bezüglich Schutzimpfungen keine Vorbildfunktion. Es werden überzogene Erwartungen konstruiert. Wenn die nicht genau erfüllt werden, wird draufgehauen. Das ist das Gegenteil einer sachbezogenen Debatte.

Versuchen wir mal eine sachbezogene Debatte: Wie viel Gesundheitsschutz ist möglich, wie viel Freiheit nötig?

Man kann nicht allgemein sagen: Ab diesem Grad der Freiheitsbeeinträchtigung ist Gesundheitsschutz irrelevant oder umgekehrt. Eine Gesellschaft muss sich möglichst transparent darauf verständigen, welche Szenarien auf jeden Fall verhindert werden müssen. Dem muss man dann die Transaktionskosten entgegenhalten: Das ist nur zu diesem oder jenem Preis zu haben. Das ist eine verfassungsrechtliche, zumal eine demokratische Aufgabe.

Was fänden Sie nicht vertretbar?

Etwa die Situation einer Triage, eines Auswahlverfahrens auf Intensivstationen. Dass der Staat Todesurteile zuteilt, können wir normativ und faktisch nicht aushalten. Deshalb müssen wir fast alles tun, um das zu vermeiden.

Müssen die Risiken nicht ständig neu abgewogen werden, weil wir in der Pandemie dazulernen?

Ja, die Informationslage und auch Einstellungen ändern sich. Momentan steigen die Infektionszahlen, ähnlich wie vor einem Jahr, doch die Bereitschaft in der Bevölkerung, Einschränkungen zuzulassen, ist deutlich gesunken. Das hängt nicht nur mit den Impfungen zusammen. Es gibt eine Müdigkeit in Bezug auf Beschränkungen.

Wir verzichten auf ein Tempolimit und nehmen damit in Kauf, dass Menschen bei Unfällen sterben. Warum schaffen wir es in einer Pandemie nicht, uns auf ein vertretbares Risiko zu verständigen?

Eine solche offene Verständigung ist eher selten. Meist läuft das eher unbewusst, oder Zusammenhänge werden gar nicht thematisiert. Die hohe Zahl von Grippetoten in manchen Jahren dürfte etwa einem Gutteil der Bevölkerung nicht bekannt gewesen sein.

Die Zahl der Corona-Toten wird täglich kommuniziert.

Wir hatten die Vorstellung, dass wir diese Pandemie in den Griff kriegen, möglichst ohne schwerwiegende Lebens- oder Gesundheitsgefahren. Diese Idee schwingt immer noch mit: „Das muss man nicht aushalten, damit muss man nicht leben lernen.“ Über ein solches punktuelles Ereignis lässt sich zudem leichter sprechen. Wir sehen aber auch, wie schwierig es ist, die Langzeitperspektive einzubeziehen. Etwa in Bezug auf die Folgen der Pandemie für Kinder in mehreren Jahren. Was bewirken Ausgrenzungen oder ein eingeschränkter Schulunterricht? Wir haben dafür kein optimales Instrumentarium, auch in der Jurisprudenz nicht. Wir müssten aber eine aktuelle unsichere Gefahrensituationen ins Verhältnis setzen zu einer noch unsicheren künftigen Entwicklung.

Wie könnte so etwas gelingen?

Vor allem müsste es überhaupt thematisiert werden. Ein ideales Forum wäre der Wahlkampf gewesen. Ein Teil des Erfolgs der FDP gerade bei jungen Wählern ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass sich diese Partei zum Programm gemacht hat, gewisse Risiken in Kauf zu nehmen. Alle anderen haben sich darin überboten, möglichst wenige Risiken zulassen zu wollen.

Eine Strategie der Risikovermeidung ist, Menschen ohne Impfung den Zutritt zu bestimmten Orten zu verweigern, nur Genesenen und Geimpften die vollen Freiheitsrechte zu gewähren. Ist diese 2G-Regelung juristisch und ethisch korrekt?

Sie ist aus verschiedenen Gründen problematisch. Die Politik hat sich sehr lange geweigert, 3G oder 2G einzuführen in einer Situation, in der die Impfwirkung gegen das Virus klarer zu bestimmen war. Aber jetzt, da die Delta-Variante dazu führt, dass die Infektiosität geimpfter Menschen nicht so stark absinkt und es vermehrt zu Impfdurchbrüchen kommt, wird 2G befürwortet. Und das ist nicht der einzige Widerspruch.

Welche Widersprüche sehen Sie noch?

Eine Impfpflicht wird abgelehnt, doch politisch werden Instrumente zugelassen, sogar gefördert, um Ungeimpften das Leben schwer zu machen. Genau so wurde es ja zum Teil wörtlich formuliert.

Wie beurteilen Sie als Verfassungsrechtler diesen Zwang durch die Hintertür?

Wenn das die Zielsetzung ist, ist es jedenfalls ein erheblicher Widerspruch zu dem, was in der Politik lange erklärt wurde. Aber unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung ist es zunächst richtig, unterschiedliche Risikoprofile zu berücksichtigen. Wenn von einem Geimpften oder einem Genesenen ein deutlich geringeres Risiko ausgeht, darf man das nicht ignorieren.

Oder von einem Getesteten?

Deshalb können 2G- oder 3G-Modelle ihre Richtigkeit haben. Dazu muss man aber feststellen, ob es einen signifikanten Unterschied gibt bei Geimpften und Genesenen gegenüber negativ Getesteten. Bei 2G müsste darauf hingewiesen werden, warum die Risiken, die von negativ Getesteten ausgehen, als unzumutbar betrachtet werden. Was für einen Rechtsstaat problematisch ist, sind indes die 2G- bzw. 3G-Plus-Regelungen.

Warum?

Dem privaten Sektor wird die Risikobewertung überantwortet, die eigentlich der Staat vornehmen sollte. Gleichzeitig gibt der Staat Anreize, nur Geimpften oder Genesenen Zutritt zu gewähren. Es wird so getan, als handele es sich um eine mildere Maßnahme, weil sie dem privaten Bereich überlassen wird.

Die medizinische Datenlage ist unsicher in der Frage, ob von Getesteten ein höheres Risiko ausgeht als von Genesenen oder Geimpften. Ist 2G dennoch vertretbar?

In einer modernen, dynamischen Gesellschaft ist unser Wissen grundsätzlich unsicher und im Fluss. Entwicklungen sind schwer zu prognostizieren. Das gilt erst recht in Bereichen, in denen wir wenig Erfahrung haben. Doch umso eher müsste man erklären, wie man mit den Unsicherheiten umgeht. Das ist die politische Aufgabe dieser Zeit. Problematisch ist es, auf eine „evidenzbasierte“ Ausgangslage zu warten.

Die auch keine hundertprozentige Gewissheit liefert.

Genau. Das läuft darauf hinaus, dass man durch Nichtstun Fakten schafft. Keine noch so gute Studie kann eine normative Entscheidung vorgeben.

Damit wären wir wieder bei Joshua Kimmich: Wenn der FC Bayern in einer Arena spielt, in der die 2G-Regel gilt, was dann?

Wenn Kimmich zwar spielen darf, aber nicht als Zuschauer in die Arena gelassen würde? Der ehemalige Bayern-Spieler Paul Breitner hat neulich sogar gesagt, Kimmich würde bei ihm nicht einmal trainieren. Ein junger, gesunder Mensch, häufig getestet – worin liegt der Sinn, den vom Training auszuschließen? Außer darin, ihn zu disziplinieren? Meine Sorge ist, dass solche Formen der Disziplinierung unter denjenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, zu einem Trotz-Effekt führen. Nach dem Motto: Die wollen uns gar nicht mehr überzeugen, die üben nur Druck aus.

Ist das eine Ursache der Polarisierung?

Manche neigen in dieser Debatte zu Überreaktionen. Über den Germanisten Richard David Precht kann man geteilter Meinung sein, aber als er kürzlich äußerte, er würde Kinder nicht impfen lassen, gab es sofort einen enormen Aufschrei und massive Vorwürfe. Warum wird Menschen eine persönliche Einschätzung des Risikos nicht zugestanden?

Ja, warum eigentlich nicht?

Offensichtlich haben viele in der Pandemie einen stark ausgeprägten Hang zum Kollektivismus entwickelt. Dann wird erwartet, dass sich dem auch andere Menschen fügen. Das steht im Gegensatz zu den Autonomie-Bestrebungen, die sonst unsere Gesellschaft prägen: Es wird versucht, das Individuum in seiner Einzigartigkeit zu erhalten und ihm die grundlegendsten Entscheidungen zu überlassen – bis hin zur Geschlechtsbestimmung.

Könnte dieser Kollektivismus über die Pandemie hinaus wirken?

Das wäre ein Problem. Es gibt zahlreiche Tätigkeiten, die für das Gesellschaftssystem Belastungen mit sich bringen. Ein banales Beispiel aus dem Gesundheitsbereich: Handballspielen ist ein verletzungsintensiver Sport, kostet die GKV (gesetzliche Krankenversicherung, Anm. d. Red.) jährlich viel Geld. Das fehlt dann an anderer Stelle, auch bei Personen, die sich nicht freiwillig in Gefahr begeben haben. Aber mal ehrlich: Wollen wir wirklich zu solchen Differenzierungen kommen? Wir müssen aufpassen, dass wir nicht über den Kollektivismus in einen Paternalismus geraten, bei dem die Menschen bevormundet werden.

Regelmäßig wird darüber debattiert, ob ungeimpfte Corona-Patienten auf Intensivstationen bei Versorgungsengpässen zurückstehen sollten. Wäre so etwas rechtlich denkbar?

Nein, aber das erscheint mir auch eher eine Abschreckungsdebatte zu sein. Allerdings können sich wohl viele Menschen so etwas durchaus vorstellen und sagen: Jawohl, dann sollen sie doch sterben, wenn sie sich nicht impfen lassen wollen. Für eine solidarische Gesellschaft ist das eine bedenkliche Aussage.

Welche Debatten werden da erst geführt, wenn demnächst Kinder unter zwölf Jahren geimpft werden dürfen?

Die Impfmöglichkeit wird insbesondere in der Schule schnell zum sozialen Impfzwang. Über eine Impfung kann zudem eine Zehnjährige nicht eigenverantwortlich entscheiden, das machen die Eltern. Die Kinder müssen mit der Entscheidung leben, was problematisch werden könnte, wenn Eltern eine Impfung ablehnen.

Was würden Sie der künftigen Bundesregierung in dieser Frage raten?

Zunächst einmal nimmt die Ständige Impfkommission, die Stiko, eine medizinische Abwägung von Risiko und Nutzen vor. Ich fand den Druck auf die Stiko unzulässig, als es um die Impfung der unter 16-Jährigen ging, das sollte man diesmal – bitteschön – vermeiden. Wissenschaftliche Politikberatung ist nicht Politik. Gegebenenfalls muss man so ehrlich sein zu sagen, dass etwas politisch gewollt ist. Die Politik muss den Bürgern sehr genau Vor- und Nachteile erläutern.

Wie würde Ihre Abwägung ausfallen?

Dass wir in eine Situation geraten, in der wir die Pandemie nur in den Griff kriegen, indem wir die Kinder zwangsimpfen, kann ich mir einfach nicht vorstellen. Dass wir es nicht schaffen sollten, zu einem erträglichen Miteinander zu kommen, ohne diese kleine Gruppe mit einem stark reduzierten Risikoprofil in die Pflicht zu nehmen. Nur weil die Erwachsenen keine höhere Impfquote erreicht haben. Das ist problematisch. Das Impfproblem müssen wir bei den Erwachsenen lösen.

Müssen wir lernen zu akzeptieren, dass wir nie wieder von Pandemien vollständig befreit sein werden?

Wir müssen es schaffen, dass unser System und unser Miteinander nicht daran zerbrechen. Möglichst wenige Infektionen haben zu wollen und dafür massivste Beschränkungen in Kauf zu nehmen, reicht als Strategie nicht. Wenige Infektionen sind ein leeres Ziel, wenn wir nicht sagen, warum wir das anstreben.