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Gießener Ethikrats-Mitglied befürwortet Lockerungen für Geimpfte: „Solidarität heißt auch: ‚Ich gönne‘“

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Mit dem Aufkleber eines Corona-Impfstoffes im Impfpass, wie hier Comirnaty von Biontech/Pfizer, könnte es Lockerungen für die Passinhaber geben. Steffen Augsberg, Mitglied des Deutschen Ethikrates, sieht damit auch keine Zweiklassengesellschaft aufkommen.	FOTO: DPA
Mit dem Aufkleber eines Corona-Impfstoffes im Impfpass, wie hier Comirnaty von Biontech/Pfizer, könnte es Lockerungen für die Passinhaber geben. Steffen Augsberg, Mitglied des Deutschen Ethikrates, sieht damit auch keine Zweiklassengesellschaft aufkommen. FOTO: DPA © Red

Während das Impfen langsam beginnt, verläuft parallel eine Debatte über mögliche Impfprivilegien. Steffen Augsberg ist Mitglied des Deutschen Ethikrats und Professor für Öffentliches Recht in Gießen. Er befürwortet Lockerungen für Geimpfte.

Herr Augsberg, dürfen Restaurants, Kinos oder Theater entscheiden: Den bediene ich, denn er ist geimpft, und den bediene ich nicht, denn er ist nicht geimpft?

Ja. Privatpersonen dürfen potentielle Vertragspartner grundsätzlich sogar willkürlich ablehnen. Gesetzlich ausgeschlossen ist es zwar, den Vertragsschluss etwa wegen der Religion oder Hautfarbe zu verweigern. Aber der Impfstatus zählt nicht zu den entsprechenden Kriterien. Auf ihn abzustellen, kann zudem einen nachvollziehbaren Grund darstellen. Wenn von Geimpften tatsächlich keine signifikante Ansteckungsgefahr mehr ausgehen sollte, was wir derzeit noch nicht wissen, könnten etwa in der Reisebranche Risiken reduziert und Dinge ganz anders organisiert werden; Dann kommen vielleicht auch mehr Kunden zurück.

Was ist mit privaten Unternehmen, auf die man angewiesen ist? Lebensmittelgeschäfte, Ärzte oder der ÖPNV?

Da ist es etwas anders. Je mehr man darauf angewiesen ist, dass ein Unternehmen mit einem einen Vertrag abschließt, desto weniger kann es einen einfach ausschließen. Gegebenenfalls bedarf es hier neuer gesetzlicher Regelungen. Allerdings ist es ein sehr unwahrscheinliches, dystopisches Szenario, dass alle Geschäfte anfangen, den Impfpass zu kontrollieren, und Ungeimpfte dann nirgendwo mehr einkaufen können.

Und staatliche Stellen wie Ämter oder Gerichte?

Wenn nicht die Privatwirtschaft, sondern der Staat eine solche Regelung träfe, läge eine indirekte Impfpflicht vor. Das gibt es zum Beispiel bei Kitas und der Masernimpfung. Der Staat schreibt zwar nicht vor, dass man sein Kind impfen lassen muss, aber es darf ungeimpft nicht in die Kita. Für eine solche Regelung gibt es bei Corona aber keine politischen Befürworter.

Wie kam die Diskussion überhaupt von der Impfpflicht zu den Privilegien?

Die Politik hatte sich schnell darauf festgelegt, dass es keine Impfpflicht geben soll. Dann wurde das ausgeweitet, und aus der Absage an die Impfpflicht wurde eine Absage an Lockerungen für Geimpfte. Dabei ist das kein überzeugender Schluss. Vielmehr gilt umgekehrt: Wenn die Voraussetzung für die Einschränkungen nicht mehr vorliegt, muss der Staat sie aufheben.

Aber ist es fair, wenn einige Menschen wieder ein normales Leben führen dürfen und andere nicht, nur weil die einen früher mit dem Impfen an der Reihe waren als die anderen?

Ja. Es bedeutet auch keine Zweiklassengesellschaft. Die aktuell vorgenommene Reihenfolge beim Impfen ergibt sich, weil wir besonders Gefährdete zuerst impfen. Das sind zumeist kranke oder sehr alte Menschen, die oft immobil sind. Sie werden also nicht direkt die Bars und Restaurants stürmen, und selbst wenn sie das täten, würde dadurch den anderen nichts genommen. Als Ungeimpfter habe ich nichts davon, wenn Geimpften etwas weiterhin verboten ist. Solidarität heißt auch: Ich gönne ihnen die Freiheitsrückgewinne.

Wenn nur Geimpfte wieder ins Kino oder in den Sportverein dürfen, dann heißt das ja, man muss sich impfen lassen, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das wird sich für Impfgegner wie ein Impfzwang anfühlen.

Es gibt natürlich Vorteile und Anreize. Aber sie sind nicht mit Zwang gleichzusetzen. Wenn im Gesangsverein mit Ausnahme von mir jeder geimpft ist, dann ist es sinnvoll zu sagen: Alle dürfen wieder singen außer mir. Es kann doch nicht wegen meiner individuellen Entscheidung die Freiheit aller anderen beschränkt bleiben.

Es wird nur noch stichprobenartig überprüfbar sein, ob zum Beispiel die Menschen in der Fußgängerzone keine Maske tragen, weil sie geimpft sind, oder ob es sich um Maskengegner handelt. Das spricht doch gegen Impfprivilegien?

Abstrakt betrachtet ist das ein Argument. Jede Norm muss durchsetzbar sein. Aber es ist nicht unvorstellbar, dass das Ordnungsamt Leute anspricht, die dann mit einem Impfausweis nachweisen müssen, dass sie geimpft sind. Deswegen zieht das Kontrollargument nicht so richtig. Was überzeugend ist: Wenn im öffentlichen Raum Ungeimpfte keine Maske tragen, verunsichert das ihre Mitmenschen. Deshalb könnte der Staat sagen: Weil sie dies nur sehr gering belastet, besteht auch für die Geimpften weiterhin eine Maskenpflicht. So etwas kann man aber nur in den Bereichen machen, in denen es um vergleichsweise harmlose, aber öffentlich wahrnehmbare Einschränkungen der Freiheit geht.

Wir wissen nicht, ob Geimpfte zwar immun gegen die Krankheit sind, aber trotzdem Überträger des Virus sein können. Ändert das etwas?

Das mit hinreichender Sicherheit zu wissen, wäre überhaupt die Voraussetzung für viele Lockerungsmaßnahmen. Deshalb ist die Debatte derzeit noch etwas spekulativ. Solange davon auszugehen ist, dass auch Geimpfte den Virus weiter verbreiten können, sollten grundsätzlich auch ihnen gegenüber die Kontaktbeschränkungen aufrechterhalten werden. Aber auch hier gibt es Grenzen.

Es sollte also auch Lockerungen geben, wenn der Virus trotz Impfung übertragbar wäre?

Ja, das muss man genau prüfen. Ein Punkt, der mir sehr wichtig ist, sind die Alten- und Pflegeheime, in denen jetzt die Impfungen losgehen. Auch unter der Annahme, dass die geimpften Menschen zwar nicht mehr krank werden, aber trotzdem Überträger des Virus sein können, sollte es hier Lockerungen für sie geben. Alles andere fände ich unbegreiflich. Wir müssen die internen Kontaktbeschränkungen aufheben. Damit sich die Menschen zumindest gegenseitig wieder besuchen können, nicht mehr alleine auf ihren Zimmern sitzen müssen. Damit gegebenenfalls die geimpfte Physiotherapeutin wieder kommen kann. Wir müssen im Blick behalten, was wir für diese besonders belastete Gruppe tun und wie wir ihnen möglichst bald wieder Lebensqualität zurückgeben können.

Lassen Sie sich impfen?

(lacht.) Bis ich soweit bin, dauert es noch. Auch eine Erkenntnis der Coronakrise: Kaum jemand ist weniger systemrelevant als Universitätsprofessoren. Zudem kann ich mich in meinem Beruf sehr gut zurückziehen: Forschung und Online-Lehre funktionieren auch vom heimischen Schreibtisch aus. Aber ja, wenn ich an der Reihe bin, werde ich mich impfen lassen.

Zur Person

Steffen Augsberg wurde 1976 in Gießen geboren und ging in Wetzlar zur Schule. Er studierte in Trier Rechtswissenschaften und erlangte in Heidelberg den Doktortitel. 2011 habilitierte sich Augsberg in Köln und trat eine Professur für Öffentliches Recht an der Universität des Saarlandes an. 2013 wechselte er an die Justus-Liebig-Universität. Seit 2016 ist Augsberg Mitglied des Deutschen Ethikrates. FOTO: PM

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