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Klagen gegen 15-Kilometer-Regel in Hessen: Corona-Maßnahme juristisch umstritten

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Im Rahmen des Erlaubten: Tagesausflüge von Wißmar nach Krofdorf-Gleiberg, Staufenberg oder Ruttershausen sind kein Problem. Eine Wanderung auf dem Hoherodskopf oder der Sackpfeife ist Bewohnern des Landkreises Gießen hingegen momentan nicht erlaubt. 	 FOTO: LKL
Im Rahmen des Erlaubten: Tagesausflüge von Wißmar nach Krofdorf-Gleiberg, Staufenberg oder Ruttershausen sind kein Problem. Eine Wanderung auf dem Hoherodskopf oder der Sackpfeife ist Bewohnern des Landkreises Gießen hingegen momentan nicht erlaubt.

Bislang wurden keine Verstöße gegen die 15-Kilometer-Regel im Landkreis Gießen registriert. Doch die Maßnahme ist umstritten. Bei hessischen Verwaltungsgerichten stehen noch Entscheidungen aus.

Gießen (lkl). Seit Montag gilt im Kreis Gießen die 15-Kilometer-Regel, die den Bewegungsradius der Bewohner beschränkt. Doch obwohl sich die Maßnahme explizit nur auf touristische Tagesausflüge bezieht, ist sie sehr umstritten - und zwar gleich aus mehreren Gründen.

Zum einen stellt sich die Frage, inwiefern die Einhaltung der Vorgaben überprüft werden kann. So kritisierte FDP-Kreistagskandidat Dr. Christian Krauss die Bestimmung in dieser Woche als »Papiertiger«, welcher »durch die Behörden unmöglich durchzusetzen geschweige denn überhaupt zu kontrollieren« sei und »lediglich eine Symbolwirkung« entfalte. Doch was haben die Kontrollen bislang ergeben?

15-Kilometer-Regel in Hessen: Bislang keine Verstöße geahndet - Polizei setzt auf Kommunikation

Zunächst einmal sind einige beliebte Ziele in der Nähe des Gießener Landes aktuell ohnehin gesperrt - etwa die Sackpfeife bei Biedenkopf. Verstöße von Personen aus dem Landkreis Gießen habe man im Zuge der regelmäßigen Kontrollen dabei nicht feststellen können, teilte Ordnungsamtsleiter Thomas Rößner auf GAZ-Anfrage mit. In Schotten, wo die Zufahrt zum Hoherodskopf täglich zwischen 9 und 16 Uhr gesperrt ist, verwies das Ordnungsamt hingegen auf die Polizeistation Osthessen, die dort »täglich vor Ort« sei.

Der dortige Pressesprecher Dominik Möller sieht das kritisch, weil die originäre Zuständigkeit bei den jeweiligen Gesundheits- und Ordnungsämtern liegt. Allerdings, sagt er, unterstütze die Polizei diese im Rahmen der Amtshilfe und achte bei ihren Kontrollen zur Einhaltung der Corona-Maßnahmen auch auf die 15-Kilometer-Regel. »Wenn wir den Verdacht eines Verstoßes haben, kontrollieren wir«, sagt Möller. Dabei setze die Polizei jedoch bevorzugt auf einen kommunikativen Ansatz. Verstöße von Personen aus dem Landkreis Gießen, die geahndet wurden, habe es bislang nicht gegeben.

Ein ähnliches Bild zeichnet sich beim Polizizeipräsidium Mittelhessen ab: Man leiste mit Unterstützung der hessischen Bereitschaftspolizei Amtshilfe zur Überwachung und Durchsetzung der gegenwärtigen Beschränkungen und führe verstärkt Kontrollen durch, teilte Pressesprecher Jörg Reinemer mit. Verstöße gegen die nächtlichen Ausgangsbeschränken seien dabei schon öfter festgestellt worden, Verstöße gegen die 15-Kilometer-Regel jedoch bislang nicht. »Fakt ist, dass sich ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger im Landkreis an die Maßgaben halten«, lautet Reinemers Einschätzung.

Klagen im Eilverfahren gegen die 15-Kilometer-Regel in Hessen: Entscheidungen stehen noch aus

Umstritten ist die Regel, die in Hessen zunächst nur hierzulande und im Landkreis Limburg-Weilburg galt, mittlerweile jedoch auch im Kreis Fulda und im Vogelsberg in Kraft getreten ist, jedoch trotzdem. Dazu, ob es tatsächlich wirksam und verhältnismäßig ist, Ausflüge an der frischen Luft einzuschränken, haben sich zuletzt zahlreiche Experten geäußert. Und auch juristische Zweifel spielen eine Rolle. Bei hessischen Verwaltungsgerichten stehen aktuell noch zwei Entscheidungen bei Klagen in Eilverfahren gegen die 15-Kilometer-Regel aus.

Steffen Augsberg, Mitglied im Deutschen Ethikrat und Professor für Öffentliches Recht an der JLU in Gießen, sieht ein Problem darin, dass mit der Neuregelungs des Infektionsschutzgesetzes im November 2020 »eine präzisere Grundlage für infektionsschutzbedingte Freiheitsbeschränkungen« geschaffen werden sollte, die nun für die 15-Kilometer-Regel jedoch wieder weit ausgelegt werden müsse. »Ausdrücklich vorgesehen ist diese Maßnahme dort nämlich nicht«, sagt Augsberg.

Auch sei die »Inzidenz ein zweifelhafter Indikator für die Zulässigkeit weitreichender Grundrechtsbeschränkungen«, da einzelne Ereignisse, wie Corona-Ausbrüche in Seniorenheimen, Beschränkungen für alle in einem Kreis Wohnenden bedeuten können. »Außerdem müsste meines Erachtens noch besser erklärt werden, was genau eigentlich mit der Regelung erreicht werden soll und warum nicht andere, weniger eingreifende Maßnahmen möglich wären«, sagt Augsberg, der auch die unterschiedliche Handhabung der Regel in den Bundesländern kritisch sieht. »Verständlicher wird die Regelung dadurch nicht«, sagt er.

Trotz Inzidenz über 200: Landkreis Hersfeld-Rotenburg hält 15-Kilometer-Regel für »nicht verhältnismäßig«

Und selbst innerhalb Hessens gibt es Unterschiede: So ist im Vogelsberg Wintersport wie Rodeln oder Langlauf explizit von der Beschränkung ausgenommen, während dies hierzulande als touristischer Tagesausflug gilt. Zuletzt hat sich der Landkreis Hersfeld-Rotenburg, obwohl die Sieben-Tage-Inzidenz an drei Tagen hintereinander über dem kritischen Wert von 200 lag, sogar gegen die Einführung der 15-Kilometer-Regel entschieden, weil diese »nicht verhältnismäßig« sei. Hierzulande gilt sie hingegen noch mindestens bis Sonntag. Erst wenn die Inzidenz fünf Tage in Folge unter 200 liegt, soll die Regel aufgehoben werden.

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