Nadel verpflichtet: Brauchen wir eine Impfpflicht?

Hannover. Als Wissenschaftler aus Erfurt und Aachen vor ungefähr fünf Jahren 300 Studentinnen und Studenten für eine Studie zum Thema Impfen um ihre Entscheidungen baten, stießen sie auf ein altbekanntes Phänomen: die Reaktanz.

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Dieser Begriff aus der Psychologie beschreibt das Phänomen, dass wir Freiheiten, die uns an der einen Stelle genommen wurden, an einer anderen wieder zurückholen wollen. Immer dann, wenn wir merken, dass uns ein Verhalten versagt werden soll, erscheint es uns plötzlich umso attraktiver. Man kann dieses Phänomen in vielen Bereichen beobachten, es ist wie ein allgemeines Gesetz. Dazu ist die Reaktanz eng verwandt mit einem Verhalten, das sich vor allem in Kinderzimmern gut beobachten lässt: dem Trotz.

Wie entsteht ein Impfstoff?

Nach einem Impfstoff gegen Covid-19 wird unnachgiebig geforscht. Innerhalb von nur einem Jahr war bereits der erste Kandidat in der Zulassungsphase.

Geringere Bereitschaft zur zweiten Impfung

Für die Studie sollten die Studenten in einer bestimmten Versuchsanordnung Impfentscheidungen treffen. Eine erste Gruppe durfte sich frei für eine erste und danach für eine zweite Impfung entscheiden. Bei der zweiten Gruppe war die erste Impfung verpflichtend, erst für die zweite Impfung durften sich die Probanden frei entscheiden. Das Ergebnis war eindeutig: In der zweiten Gruppe, der mit der Impfpflicht, war die Bereitschaft für eine zweite Impfung dann um 39 Prozent niedriger als in der ersten.

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Die Impfpflicht brachte also keinen Fortschritt, im Gegenteil. „Die Einführung einer teilweisen Impfpflicht kann also paradoxe Effekte haben“, so fasste Cornelia Betsch von der Universität Erfurt das Ergebnis der Studie zusammen. Gerade diejenigen, deretwegen man die Impfpflicht überhaupt einführt, die Impfskeptiker, könnten mit einer Verweigerung bei weiteren Impfungen oder auf anderen Feldern reagieren. Im schlechtesten Fall kann eine Impfpflicht also letztlich mehr schaden als nützen.

Das ist das Problem.

In wenigen Punkten gab es während der Corona-Pandemie so viel Einigkeit wie in diesem: Eine allgemeine Impfpflicht werde es nicht geben – das haben die Bundesregierung, Vertreter der anderen Parteien und Wissenschaftler immer wieder betont. Unterhalb dieser Schwelle aber gibt es durchaus Ideen und Forderungen, die Impfung gegen Covid-19 teilweise oder indirekt zu erzwingen. Wenn Kreuzfahrtschiffe irgendwann nur noch Immunisierte an Bord lassen und Kneipen „Bier nur für Geimpfte”-Schilder ins Fenster hängen, dann wäre irgendwann die Grenze vom Impfanreiz zur Impfpflicht überschritten: Ein normales Leben wäre dann an die Impfung gegen Sars-CoV-2 gekoppelt.

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Söders Vorstoß einer Impfpflicht

Außerdem hat der bayerische Ministerpräsident Markus Söder gerade erneut eine Impfpflicht für Pflegekräfte angeregt. Der Pflegebeauftragte der Bundesregierung wiederum fordert die bislang oft noch zurückhaltenden Pflegerinnen und Pfleger dazu auf, die Impfung „aufgrund ihres Berufsethos“ als Pflicht zu empfinden. Wer Bedenken hat und zögert, steht da zumindest unter Rechtfertigungsdruck.

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Der Übergang von einem Anreiz, sich impfen zu lassen, hin zu einer faktischen Verpflichtung ist fließend. Die Frage ist jedoch, ob eine zumindest teilweise Impfpflicht wirklich die Bereitschaft hervorruft, sich impfen zu lassen – und welche Nebenwirkungen eine Verpflichtung hätte.

Die Frage nach der Impfpflicht ist deshalb so heikel, sie produziert deshalb so viele Widerstände, weil sie eine der Grundfragen moderner Gesellschaften stellt: die nach dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft. Impfen ist einerseits ein individueller Akt: Ich selbst nehme das Risiko auf mich, mir abgetötete Virenbestandteile – oder deren genetische Informationen – spritzen zu lassen. Es mag, wie im Fall der bislang zugelassenen Impfungen gegen Covid-19, sehr gering sein. Aber, wie auch bei fast allen Medikamenten: Ein Risiko existiert.

Corona-Impfung als sozialer Akt

Auf der anderen Seite bin nicht nur ich selbst der Nutznießer, sondern die Gemeinschaft. Insofern ist die Impfung immer auch ein sozialer Akt. Und es gibt nicht wenige, die sich mit solchen Akten schwertun.

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Zumindest juristisch ist die Frage nach einer teilweisen Impfpflicht oder sogenannten Sonderrechten für Geimpfte relativ einfach. Eine Impfpflicht für bestimmte Gruppen existiert in Deutschland bereits: Seit März vergangenen Jahres müssen Erzieher, Lehrer und Kinder in Kitas und Schulen gegen Masern geschützt sein. Steffen Augsberg, Professor für Öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitglied des Deutschen Ethikrats, hält zudem impfbasierte Ungleichbehandlungen auch in diesem Fall für denkbar.

„Möglicherweise beseitigt die Impfung die Möglichkeit, andere anzustecken, oder sie reduziert diese Gefahr zumindest deutlich“, sagt Augsberg. Sie zu erfassen und bestimmte Regelungen daran zu knüpfen stelle dann einen „sachlichen Rechtfertigungsgrund“ dar und sei keine Diskriminierung. Wem Wirte Bier ausschenken und ob Hoteliers ihre Betten nur Geimpften anbieten, ist ohnehin ihre Sache, hier hat der Staat bislang kein Zugriffsrecht. Zudem werden sich Geimpfte auch an keine 15-Kilometer-Regel oder andere Ausgangsbeschränkungen mehr halten müssen. Wobei dies kein „Privileg“ für Geimpfte wäre, sondern ein Grundrecht, das nur unter extremen Bedingungen eingeschränkt werden darf.

Auch vor einer Infektion geschützt?

Voraussetzung für all das wäre allerdings, dass Geimpfte nicht nur selbst gegen Covid-19 geschützt sind, sondern das Virus auch nicht mehr weiterverbreiten können. Da wiederum beginnt der schwierige medizinische Teil, der die ganze Debatte ohnehin überflüssig machen könnte: Bislang ist unklar, ob Geimpfte nicht nur vor einer Erkrankung, sondern auch vor einer Infektion geschützt sind. Gewissheit darüber wird es erst in einigen Monaten geben. Falls Geimpfte aber das Virus doch weitergeben könnten, müssten sie auch weiter Vorsichtsregeln einhalten – und zumindest der Streit über Vorrechte wäre hinfällig.

Setzt man aber eine sogenannte sterile Immunität der Geimpften voraus, könnten Vorrechte dann ein Anreiz sein, dass sich mehr Menschen gegen Covid-19 impfen lassen? Wird jemand, der aus welchen Gründen auch immer Angst vor dieser Impfung hat, sich deshalb umstimmen lassen, weil er hinterher mit der „Aida“ übers Mittelmeer fahren darf?

Bis zum Sommer, so hat es Gesundheitsminister Jens Spahn angekündigt, soll jeder, der es möchte, „ein Impfangebot erhalten“. Sollte es so kommen, könnten diese Fragen dann tatsächlich aktuell werden.

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Diskussion bislang zu stark polarisiert

Wir müssen lernen, gesellschaftlich wieder aufeinander zuzugehen.

Steffen Augsberg, Jurist und Ethiker

Ethikratsmitglied Augsberg hat aber Zweifel dass das der richtige Weg wäre – und betont die Freiwilligkeit. Die gesamte Diskussion sei bislang zu stark polarisiert, kritisiert er. Der Impfstoff sei nach allen bislang bekannten Daten sehr sicher und wirksam; „es gibt aber ein breites Spektrum von Menschen, die aus nicht abwegigen Gründen unentschieden sind“. Diese Personen könne man nur überzeugen, wenn man ihre Sorgen ernst nimmt. „Wir müssen lernen, gesellschaftlich wieder aufeinander zuzugehen“, sagt der Jurist und Ethiker. Impfpflichten jedoch sind stets auch provokativ, sie können nur so etwas wie das letzte Mittel sein. Auch von einer verpflichtenden Impfung für Pflegepersonal, ist Steffen Augsberg überzeugt, „sind wir weit entfernt“.

Psychologen haben eine klare Vorstellung von dem, was es braucht, um die Impfbereitschaft zu steigern. Die Menschen müssten sich umfassend und ehrlich informiert fühlen – und es müsse genauso einfach sein, sich impfen zu lassen, wie sich nicht impfen zu lassen.

Als Altenpfleger und -pflegerinnen jetzt gefragt wurden, warum sie vor einer Impfung zögerten, sagten viele, sie arbeiteten seit Monaten am Anschlag und jetzt verlange man von ihnen, ohne mit ihnen zu reden, den nächsten Schritt. Wie Versuchskaninchen, so fühlten sie sich.

Man mag das widersprüchlich finden. Aber es klingt zumindest nicht danach, als sei es ganz unmöglich, noch den einen oder anderen vom Sinn der Impfung zu überzeugen. Ohne Zwang.

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