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Gruppenbilder

Von der Kunst des Gemeinsam-Seins – die Antikensammlung der JLU Gießen in Zeiten von CoVid-19

Queen Elizabeth II. von Großbritannien zeigte sich in ihrer Ansprache am 5. April 2020 anlässlich der Corona-Situation in einem Raum umgeben von Blumen – echten und gemalten. Die altgediente Monarchin ist ein echter Medien-Profi – die Hintergrunddekoration kaum zufällig. Umso mehr überrascht sie, denn das Oberhaupt des Commonwealth ist bei ihren Fernsehansprachen in der Regel im Kreis von Gruppenbildern ihrer Familie zu sehen. In Zeiten von Corona wäre die Vergegenwärtigung vom Gemeinsam-Sein nicht angemessen, so scheint die Wahl der Queen ausdrücken zu wollen – ein derartiger Verweis zu schmerzvoll für jene, die nicht bei ihren Lieben sein können, und für die, die Mitmenschen verloren haben.

Das Beispiel der Queen demonstriert das Paradox, dass unser Gemeinsam-Sein in Zeiten von CoVid-19 kennzeichnet: Um als Gemeinschaft bestehen zu können, müssen wir uns als Individuen voneinander distanzieren. Im Fehlen der sonst so üblichen Gruppenbilder in der Ansprache der Queen artikuliert sich zugleich die Rolle von Bildern, die Menschen gemeinsam darstellen – von Bildern, die damit die jeweils herrschenden Vorstellungen von Gemeinsam-Sein und Gruppenzugehörigkeit abbilden, formen oder auch hinterfragen können.

Gruppenbilder ziehen sich durch die Bilderwelten historischer Gesellschaften. So handeln auch die Bilder der antiken Kulturen Griechenlands und Roms immer wieder vom Gemeinsam-Sein. Die Antikensammlung der JLU Gießen wird sich in ihrer nächsten Sonderausstellung Gruppenbilder. Von der Kunst des Gemeinsam-Seins ab dem Herbst 2020 mit diesen Bildern beschäftigen, auch wenn derzeit nicht klar ist, in welchem Format dies geschehen wird – wie üblich in den Räumen des Oberhessischen Museums im Wallenfels'schen Haus oder in einer Art, die auch aus physischer Distanz erlebbar ist.

Die Gießener Sammlung umfasst zahlreiche Beispiele für antike Gruppenbilder, so die neuzeitliche Gipskopie der Gemma Augustea, deren römisches Original sich im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet (www.khm.at/de/object/0df9b7bb28/). Diese mehrfigurige Darstellung zeigt Mitglieder der ersten römischen Kaiserdynastie um Augustus, welche wohl aus der Perspektive einer höfischen Lobby-Gruppe die kaiserliche Nachfolge bildlich darlegt und damit die Institutionalisierung der Kaiserherrschaft im römischen Staat auch über Augustus hinaus konkretisiert. Die Römer verstanden es aber auch, das Gemeinsam-Sein ihrer Gesellschaft und die Homogenität ihrer Staatsform so auszudrücken, dass die Gruppe durch eine Person repräsentiert werden konnte. Dafür erdachten sie die Figur des Genius Populi Romani, eine Personifikation, die das römische Volk als Ganzes repräsentieren sollte – ein für unsere heutigen Augen und im Rahmen von Gleichstellungsbemühungen nicht unproblematisches Konzept, denn bei dieser Figur handelt es sich stets um einen jungen Mann.

Angesichts unserer akuten Erfahrung von Gemeinschaft in Zeiten einer Pandemie sind zwei Vasen aus dem klassischen Athen besonders interessant, die zu den wichtigsten Objekten der Gießener Antikensammlung gehören. Sie stammen, soweit wir dies wissenschaftlich feststellen können, aus der Zeit kurz vor bzw. kurz nach einer verheerenden Seuche, die die griechische Metropole auf der Höhe ihres politischen und kulturellen Einflusses 430 v.Chr. erlebte. Ein Drittel der Bevölkerung erlag dieser Infektionskrankheit, darunter auch Perikles, der führende Staatsmann der Stadt. Das Ereignis wurde als "Pest des Thukydides" bekannt, denn der Geschichtsschreiber dokumentierte in seinem Werk (II 47-54) in beeindruckender diagnostischer Präzision die Auswirkungen der Seuche auf sich selbst, der er sie überlebte, und auf das athenische Staatswesen - und dies mit dem Ziel eines geisteswissenschaftlichen Beitrags zur Seuchenbekämpfung, um durch seine Schilderung die Widerstandsfähigkeit kommender Generationen gegenüber derartigen Bedrohungen zu unterstützen.

Der rotfigurige Krater (Inv.-Nr. KIII-72), ein großes Gefäß zum Mischen von Wein für gemeinschaftliche Gelage der athenischen Männer, entstand um 440 v.Chr., also vor dem Ausbruch der Seuche. Auf einer Seite spielt im Zentrum eine Sitzende ein Saiteninstrument, ein Barbiton, während die vor ihr Stehende ein Schmuckkästchen hält (Abb. 1). Links und rechts betrachtet jeweils eine weitere Frau die beiden in der Mitte. Die reichen Gewänder der Frauen, ihre aufwändigen Frisuren und die Interaktion drücken aus, dass sie alle denselben sozialen Status haben. Die Gegenstände, die im Hintergrund aufgehängt sind, zeigen ebenso wie das teure Mobiliar an, dass die Szene im gynaikeion, dem Wohnbereich der Frau im Haus einer wohlhabenden athenischen Familie zu verorten ist. Auf der Rückseite des Gefäßes stehen drei junge Männer ins Gespräch vertieft beisammen; ihre Attribute weisen sie als attische Bürger aus: der Mantel, der Bürgerstab und das Schabeisen, das man zur Reinigung des Körpers nach dem gemeinsamen sportlichen Training benutzte. Den Betrachtern des Gefäßes, bei denen es sich ebenfalls um Athener Bürger gehandelt haben dürfte, wurde damit eine ebenso exklusive wie geschlossene Gesellschaft kommuniziert, die sie in ihrer eigenen Gruppenzugehörigkeit bestätigen und bestärken konnte – jeweils getrennt nach weiblichem Aktionsbereich im Hausinnern und männlichem Agieren im öffentlichen Draußen.

Die rotfigurige Bauchlekythos (Inv.-Nr. KIII-47), ein kleines Gefäß zur Aufbewahrung von Salböl, wurde zwischen 430 und 420 v.Chr. produziert, aller Wahrscheinlichkeit während bzw. wenige Jahre nach der Athener Pest. Das Gefäß zeigt eine sitzende Frau, der sich von links Eros aus der Luft nähert (Abb. 2) – der geflügelte Liebesgott, der ihr eine Schmuck-Binde bringt. Eros wird häufig als Chiffre für die Schönheit der Dargestellten oder ihren Status als Braut gedeutet, weist in dieser Szene aber vor allem darauf hin, dass diese Zweier-Gruppe eine Interaktion von Figuren aus unterschiedlichen Sphären thematisiert: der Götterwelt und der Menschenwelt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die Wahl solch einer mythologischen Figur als Partner – und damit der Verzicht auf die Darstellung zwischenmenschlicher Interaktion – aus den Erfahrungen einer Zeit erklären lässt, in der

Kontakt mit anderen Menschen potentiell todbringend war, wie Thukydides dies eingehend beschreibt. Und trotzdem blieb in der attischen Bilderwelt das Bedürfnis stark, die Interaktion von Wesen in menschlicher Gestalt zu zeigen – der Einsatz von Figuren wie unserem Eros oder den Personifikationen in Menschenform, die gerade in den 420er Jahren v.Chr. zahlreich auf attischen Vasen auftreten, mögen ein antikes Beispiel dafür sein, wie man die positiven Aspekte menschlicher Nähe artikuliert, ohne das abzubilden, was Einzelne in Gefahr bringen könnte.

Gruppenbilder wie auf diesen beiden Gefäßen der Gießener Antikensammlung führen vor Augen, wie uns die Antike auch heute noch etwas über uns als Menschen sagen kann. Unsere Sammlung – wie auch die nationale und internationale Museumslandschaft insgesamt – lebt von dieser Interaktion zwischen Objekten, Besucherinnen und Besuchern sowie den Kuratierenden. In der Antikensammlung vermissen wir dieses Gemeinsam-Sein wie etwa im Rahmen unserer sonst üblichen Gruppenveranstaltungen und Führungen gerade mit Schulklassen. Trotzdem, wir sehen in dieser neuen Herausforderung auch eine Chance für uns, neue Interaktionsformen für die museumsdidaktische Vermittlung von Wissen zu erproben. So bieten wir auf unseren Sozialen Medien seit Mitte März ein digitales Angebot für aller Altersgruppen an, um auch während der Schließung die Objekte der Antikensammlung zugänglich zu halten (Facebook und Instagram) – ein Angebot, das wir in den nächsten Monaten und im Vorlauf der Ausstellung Gruppenbilder weiter ausbauen werden. Wir freuen uns, so mit unserem Publikum in Kontakt zu bleiben – gemeinsam aus der Distanz.

Abb. 1: Attisch-rotfiguriger Kelchkrater des Christie-Malers, Gießen, Antikensammlung Inv. K III-72 (um 440 v. Chr.) (Foto: M. Recke)

 

 

Abb.2: Attisch-rotfigurige Bauchlekythos, Gießen, Antikensammlung Inv. K III-44 (um 430/20 v. Chr.) (Foto: M. Stark)