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Sitzender Knabe mit Kranz: Dionysos

 

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 

Sitzender Knabe mit Kranz: Dionysos, Inv. T I-47

Provenienz: Aus der Sammlung Margaritis, erworben von Bruno Sauer.

Vollplastisch, von Hand gearbeitet, Gesicht aus der Matrize, Kranz angesetzt.
Rötlicher (2.5YR 6/6) Ton. Reste weißer Engobe. Spuren roter Bemalung im Bereich des Nackens.


Erhaltung: Verloren sind die rechte Hand, der linke Arm unterhalb der Schulter, der vordere Abschnitt des rechten Fußes und Elemente aus dem Kranz. Das linke Bein ist im Oberschenkel gebrochen, ein dreieckiges Fragment an der linken Kopfseite teilweise wieder angesetzt.
Größere oberflächliche Defekte über dem linken Knie und am Gesäß. Versintert.

Maße: H: 6,5 cm; B: 3,3 cm; T: 5,0 cm.

Lit.: Unpubliziert.

 

Beschreibung: Die unbekleidete bekränzte Knabenfigur nimmt eine sitzende Stellung mit angewinkelten, überkreuzten Beinen ein. Zwischen den Oberschenkeln deuten sich die Genitalien an. Die Arme waren nach vorn gestreckt; der rechte Unterarm berührt das rechte Knie. Der Kopf ist leicht angehoben und geringfügig nach rechts gewandt. Unter dem Kranz, der sich aus kugelförmigen Früchten und kleinen dicken Blättern zusammensetzt, treten wellige Haarsträhnen ohne erkennbare Binnengliederung hervor; sie rahmen die niedere Stirn und die glatten Wangen bis zur Höhe der Ohren. Das Gesicht verjüngt sich und zeigt ein rundes, leicht zurückweichendes Kinn. Der kleine Mund ist waagerecht geschnitten. Die großen Augen sind von schmalen Lidern umgeben.

Kommentar: Die Statuette ist rundplastisch angelegt, mit sorgfältig ausgearbeiteter Rückenpartie. Auf Grund der abgeriebenen Oberfläche am Gesäß lässt sich vermuten, dass der Knabe nicht auf einer glatten, sondern einer unregelmäßigen Unterlage, vielleicht auf dem Arm einer größeren Gestalt, gesessen hat. Der vegetabile Kranz verbindet ihn mit der Sphäre des Dionysos, der in seiner kindlichen Erscheinungsform auf dem Arm eines Satyrn oder Silens sitzen kann [1]. Die Haltung der unteren Extremitäten mit unterkreuzendem linken Bein begegnet  auch außerhalb des dionysischen Kontextes, etwa bei der für hellenistisch gehaltenen Bronzestatuette eines Knaben vom Peribolos des Opheltes in Nemea [2]. Von der Beinstellung weicht diejenige der sog. Tempelknaben ab. Diese sitzen im Allgemeinen auf glatten, ebenen Unterlagen und ziehen das flach liegende linke Bein zu sich heran, ohne das aufgestellte rechte zu unterkreuzen [3].
Was die stilistische Einordnung der Statuette T I-47 angeht, so weisen die schmalen Wangen und die eher einem Erwachsenen als einem Kleinkind entsprechenden Körperformen [4] in eine vor-hellenistische Entstehungszeit. Dem gegenüber steht der üppige Kranz, der von  zahlreichen 'dionysischen' Köpfen des 2. und 1. Jhs. v. Chr., vor allem bei Statuetten aus Werkstätten im Westen Kleinasiens, vertraut ist [5]. Auch  Terrakottagruppen derselben Zeit wie Dionysos in Gesellschaft der Ariadne [6] oder mit Panther und Eroten [7] zeigen den jugendlichen Gott mit ähnlich reich dekorierten Kränzen. Ein solcher Kranz könnte bei einer späteren Matrizenabformung an den wenig kindlichen Kopf des Knaben T I-47 angefügt worden sein, z. B. um einen durch den Brennvorgang bedingten Größenverlust auszugleichen oder um die Figur mit einer Applikation an den veränderten Zeitgeschmack anzupassen [8]. Nach ihrem jüngsten Kriterium, dem Kranz, wird die Statuette erst in hellenistischer Zeit fertiggestellt worden sein.        
Die Landschaft, in der die kleine Figur entstand, lässt sich derzeit nicht sicher bestimmen. Der Ursprung der beiden Vergleichsgruppen von Satyrn mit dem kindlichen Dionysos auf dem Arm, Pergamon und Myrina, spricht für eine Werkstatt an der Westküste Kleinasiens.

Einordnung: Hellenistisch. Aus Kleinasien?



[1] Vgl. Papposilen mit Dionysosknaben aus Pergamon, E. Töpperwein, Terrakotten von Pergamon (Berlin1976) 227 Nr. 392 Taf. 56; T. Kekeç, Pergamon (Istanbul 1989) 106 Abb. c; S. Mollard-Besques, Cat. raisonné des Figurines et reliefs en terre-cuite grecs et romains II Myrina (Paris 1963) 80 Taf. 96 b; LIMC III (1986) 481 Nr. 695 Taf. 380 s. v. Dionysos (C. Casparri).

[2] St. G. Miller, Excavations of Nemea, 1979, Hesperia 49, 1980, 192 Taf. 42 a. b; Mind and Body (Athen 1988) 241 Abb. 133. Ferner mit leicht abweichendem Haltungsmotiv der Beine: U. Liepmann, Griechische Terrakotten, Bronzen, Skulpturen. Kestner-Museum (Hannover 1975) 102 T 117.

[3] C. Beer, Temple-Boys (Jonsered 1993/94); H.-G. Buchholz – W. Wamser-Krasznai, Tempelknaben in Tamassos, RDAC 2007, 229-256 Abb. 5 d; R. A. Stucky, Die Skulpturen aus dem Eschmun-Heiligtum bei Sidon (Basel 1993) 30-34 Nr. 113-115 Taf. 28.

[4] Vgl. z. B. den kindlichen Eros mit Pausbacken und rundem Bäuchlein in der Gruppe E 128, W. Hamdorf – F. Leitmeir, Die figürlichen Terrakotten der Staatlichen Antikensammlungen München (Lindenberg im Allgäu 2014) 401 E. 128 und Farbtaf. S. 346; Mollard-Besques a. O. 77-79 Taf. 93-95.

[5] Myrina: D. Burr, Terra-Cottas from Myrina in the Museum of Fine Arts, Boston 1934, 53 Taf. 21. 56 Taf. 22; Mollard-Besques a. O. 161 f. Taf. 196 b. e. g. 197 h; Troja: D. Burr Thompson, Troy (Princeton 1963) 135 Nr. 261 f. Taf. 52; Pergamon: Töpperwein a. O.234 Nr. 475 Taf. 71.

[6] Mollard-Besques a. O. 78 f. Taf. 94 f.

[7] s. Anm. 4.

[8] Ein aus der Sicht des Betrachters links von seiner Gefährtin sitzender Jüngling erhielt nachträglich einen zweiten Kranz mit Tänien und Rosetten, während der erste im Umfang reduzierte Wulstkranz zusammen mit der Figur abgeformt ist, W. Wamser-Krasznai, Für Götter gelagert (Budapest 2013) 17. 127 Abb. 56; H. Herdejürgen, Die tarentinischen Terrakotten des 6. bis 4. Jahrhunderts v. Chr. (Basel – Mainz 1971) 10-13; E. Jastrow, Abformung und Typenwandel in der antiken Tonplastik, OpArch 2, 1941, 3-7 Taf. 5; G. Kleiner, Tanagrafiguren (Berlin 1942) 267 f.