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T I-4 Thronende Frau

 

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 


Thronende Frau, Inv. T I-4. Alte Inv.-Nr. 162  

Prov.: Erworben von Bruno Sauer mit Sondermitteln zum Universitätsjubiläum 1907.

 

Zustand: Kopf mit Hals schräg abgebrochen und angefügt. Verletzungen am Schleier und an der Seitenlehne rechts. Fehlstelle am linken unteren Rand des Sessels.

Vorderseite aus der Matrize, Rückseite nicht ausgearbeitet, glatt, am Kopf gerundet. Unten hohl (Brennloch).

Fein geschlämmter bräunlicher (7,5 YR 7/5) Ton. Weiße Engobe. Reichlich rote Farbspuren, vor allem am Thron und an den Füßen. Dunkles Graublau im Haar und an den Schultern. Unterarme und Hände dunkelgrau umrissen; Finger gestrichelt.

 

Maße: H: 14,4 cm. B: 8,1 cm; T: 6,5 cm.

Lit.: D. Graen – M. Recke, Herakles & Co (Gießen 2010) 45 f. Abb. 11; M. Recke, Neues aus der Antikensammlung - Jahresbericht  2010-2011, 5 b; E. Neuffer, Griechische Terrakotten, Heimat im Bild Nr. 17, 1930, 66, Abb. 1; W. Zschietzschmann, Gießener Antiken, Hessische Heimat 15, 18. 07. 1962, 57 Abb. 1.


Beschreibung: Die weibliche Gestalt thront auf einem Ohrensessel mit gerader Lehne, die Füße auf einem rechteckigen Schemel; die Hände mit den sorgfältig angegebenen schlanken Fingern ruhen auf den Knien. Über einem enganliegenden Chiton trägt die Frau einen Mantel, der auch Kopf und Stephane umfängt und symmetrisch über die Schultern fällt. Ein dicker Wulst aus vier Reihen Buckellocken bildet einen Bogen über der Stirn und reicht bis zu den Wangen herab. Das längliche Gesicht, das sich gegen das vorspringende breite Kinn verjüngt, wird beherrscht von der großen Nase. Unter hohen Orbitalen wölben sich weit auseinander liegende Augen.

 

Kommentar: Mit Diademen in unterschiedlicher Höhe geschmückte Frauen, die auf Ohrensesseln thronen, sind in Attika besonders verbreitet. Der Prototyp wurde vermutlich in Athen angefertigt. Eine bedeutende Zahl von ihnen fand sich auf der Akropolis.  Mit einem Gorgoneion oder einem Helm ausgestattete Exemplare beziehen sich unmissverständlich auf Athena, die Schutzgöttin der Stadt[1].
Von der zwischen 510 und 490 v. Chr. datierten sog. Ear-Muffs Group[2], die sich durch ein hohes, ausladendes Diadem und ein breites sich straff verjüngendes Gesicht auszeichnet[3], unterscheidet sich die Gießener Statuette durch ihren schmalen Umriss, die längliche Kopfform und das zierliche Diadem. Geradlinige Wangen und ein breites Kinn geben dem Untergesicht eine gewisse Schwere. Die Wölbung der Augäpfel ist vergleichsweise gering ausgeprägt. Die Seitenkanten des Ohrensessels verlaufen streng vertikal, während sie bei der "Ear-Muffs Group" nach unten leicht auf einander zu streben[4].
Die engere Vergleichsgruppe für die Gießener Thronende ist ziemlich klein. Exemplare in Brauron und Houston[5], Amsterdam, Paris und Hannover gehören dazu[6], sowie eine ebenfalls in Amsterdam aufbewahrte schreitende Gewandfigur[7].
Das schwere Untergesicht von T I-4 deutet bereits auf den Strengen Stil hin. Die bräunliche Tonfarbe gibt keinen sicheren Hinweis auf die Entstehungslandschaft; Attika und Böotien kommen gleichermaßen in Betracht.
    

Einordnung: gegen 480 v. Chr.; attischer Typ.

TI-12c



[1] Mit Gorgoneion: A. Köster, Die griechischen Terrakotten (Berlin 1926) 52 Taf. 26; R. Nicholls, Two Groups of attic terracottas, in: D. Kurtz – M. Sparkes, The Eye of Greece. Festschr. M. Robinson (Cambridge 1982) 99 Abb. 24 b. ebenda Abb. 24 g; E. Rohde, Griechische Terrakotten (Berlin - Tübingen1968) 39, Taf. 12; P. Schollmeyer – D. Grassinger, Athena – Lehrerin und Schutzherrin prächtiger Werke, in: Die Rückkehr der Götter. Berlins verborgener Olymp (Berlin 2008) 213 Abb. 212; V. M. Strocka, Mütterliche Athena, in: M. Kiderlen – V. M. Strocka (Hrsg.), Die Götter beschenken (München 2005) 106 Abb. 107. Mit Helm: Acropolis museum. guide (Athens 2016) 166 f. Abb. 194; M. S. Brouskari, Musée de l'Acrople (Athènes 1974) 36 f. Abb. 41.

[2] Nicholls a. O. 93-105 Abb. 23 a – 25 d

[3] z. B. durch Gefäßbeigaben auf 490 v. Chr. datiert: Vierneisel-Schlörb a. O. 27 Nr. 70 Taf. 17, 1.

[4] Instruktive Abbildung dazu, übereinander im Vergleich: "Ear-Muffs Group und sog. Klismos Group, Nicholls a. O. 93-106 Abb. 23 d. und 25 e.

[5] V. Mitsopoulos Leon, Brauron. Die Tonstatuetten aus dem Heiligtum der Artemis Brauronia (Athen 2009) 164 Nr. 394 Abb. 1 Taf. 55; B. Sismondo Ridgway, Images of Athena on the Acropolis, in: J. Neils (Hrsg.), Goddess and Polis (Princeton 1992) 122. 148 Abb. 6.

[6] P. Leyenaar-Plaisier, Griekse Terracotta's (Haag 1986) 29 Abb. 11; S. Mollard-Besques, Cat. raisonné des figurines et reliefs en terre-cuite grecs, étrusques et romains (Paris 1954) 14 B 82 Taf. 10, angeblich aus Tanagra; U. Liepmann, Griechische Terrakotten, Bronzen, Skulpturen. Kestner-Museum (Hannover 1975) 46 T 19

[7] Nicholls a. O. 108 Abb. 29 d.