Forschung
Sexsüchtiges Verhalten und unkontrollierbarer Pornografiekonsum
Es gibt Schätzungen, dass etwa 5 % der männlichen Bevölkerung unter sexueller Sucht leiden. Für die Betroffenen bedeutet das, dass sie sich ihren sexuellen Bedürfnissen ausgeliefert fühlen und die Kontrolle über ihr sexuelles Verhalten immer mehr verlieren. Ein sexsüchtiges Verhalten kann sich sehr unterschiedlich äußern: Manche Männer haben sehr häufig wechselnde sexuelle Kontakte, die ihnen nicht gut tun, geben sehr viel Geld für Prostituierte aus oder verbringen sehr viel Zeit in Sex-Chats. Am häufigsten ist jedoch ein exzessiver Konsum von Pornografie.
Das Hauptmerkmal einer sexuellen Sucht ist der Kontrollverlust: Die Betroffenen sehen sich gezwungen, ihr problematisches Verhalten auszuführen, nämlich z. B. übermäßig viel Pornografie zu konsumieren. Erst wenn dadurch ein subjektives Leiden entsteht, zum Beispiel weil die Partnerschaft in Mitleidenschaft gezogen wird, kann man von einem sexsüchtigen Verhalten sprechen.
Das am häufigsten gezeigte sexsüchtige Verhalten (ca. 80 % der Betroffenen berichten davon) besteht aus einem unkontrollierbaren Pornografiekonsum. Neuere Zahlen belegen, dass der Konsum von Pornografie generell weitverbreitet ist und durch die flächendeckende Verfügbarkeit des Internets und dem anonymen sowie meist kostenlosen Zugang eine neue Dimension erreicht hat.
Nach einer Analyse der weltweiten Internetnutzung mittels des Internetanalysetools der Firma Similarweb (www.similarweb.com) ist davon auszugehen, dass weltweit ca. 8,5 % des Internetverkehrs pornografisches Material enthält. Deutschland nimmt hier mit 12,5 % einen internationalen Spitzenplatz ein.
Während die meisten Menschen ihren Konsum als unproblematisch bewerten, scheinen andere im Laufe der Zeit einen Kontrollverlust über das Ausmaß Ihres Pornografiekonsums zu erleben. Trotz erheblicher negativer Konsequenzen (z. B. berufliche Schwierigkeiten, Probleme in der Partnerschaft, Depressionen) sind Betroffene nicht in der Lage, ihren Konsum nachhaltig zu reduzieren, sie sind folglich süchtig nach Pornografie. Die neueste Version der International Classification of Diseases (ICD-11; WHO, 2018) berücksichtigt dieses Phänomen nun unter der Diagnose der zwanghaften sexuellen Verhaltensstörung.
Da es bisher zu wenig Forschung zu dieser Störung gibt, möchten wir mit unseren Studien zu einem besseren Verständnis dieser Problematik beitragen und freuen uns über alle, die uns dabei unterstützen!
Die Sucht nach Pornografie stellt ein relativ neues Phänomen dar, zudem es noch viele unbeantwortete Fragen gibt. Wir beschäftigen uns mit folgenden Fragen:
- Wie weit ist das Phänomen verbreitet und gibt es bestimmte Risikofaktoren?
- Was sind die Unterschiede zwischen Menschen, die an ihrem Sexualverhalten leiden und denen, die dies nicht tun?
- Was sind die Ursachen für unterschiedliche Pornografiesucht-Risiken zwischen Männern und Frauen?
- Welchen Einfluss hat Stress auf die Verarbeitung von sexuellen Reizen?
- Gibt es eine genetische Veranlagung? Welche neurobiologischen Mechanismen stecken dahinter?
- Wie kann denjenigen geholfen werden, die unter sexsüchtigen Verhaltensweisen leiden?
Wo beginnt die Pornografiesucht?
Bei der Erforschung dieses Phänomens stehen wir vor mehreren Problemen. Zum einen verfügen wir über keine allgemeingültigen Zahlen darüber, was „normales“ menschliches Sexualverhalten bedeutet. Die Intimität dieses Themas erschwert die Erfragung über beispielsweise der Anzahl sexueller Kontakte oder darüber, wie oft masturbiert oder Pornografie konsumiert wird. Zum anderen können wir nicht direkt von einem Problem ausgehen, wenn Personen außerhalb dieser „Norm“ liegen und z. B. ein extrem niedriges oder hohes sexuelles Verlangen zeigen. Der entscheidende Faktor ist, ob das Verhalten Leiden verursacht. Und dies ist von Person zu Person verschieden.
Mittlerweile schlägt die Weltgesundheitsorganisation bei der oben beschriebenen Problematik die Diagnose der zwanghaften sexuellen Verhaltensstörung vor, die durch unkontollierbares Wiederholen eines sexuellen Verhaltens gekennzeichnet ist. Die sexuellen Aktivitäten werden zentral für das Leben der Person bis zu dem Punkt, an dem Gesundheit, Selbstfürsorge und andere Interessen in den Hintergrund rücken. Weitere Kriterien sind mehrfache gescheiterte Versuche das sexuelle Verhalten zu reduzieren und das Aufrechterhalten des Verhaltens trotz negativer Konsequenzen oder der Abnahme bzw. das Ausbleiben der Befriedigung durch dieses. Die Kriterien müssen über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten vorhanden sein und für die Person bedeutende Beeinträchtigungen im familiären, sozialen, personellen oder im beruflichen Alltag haben. Leidensdruck, der ausschließlich auf moralischer Beurteilung oder gesellschaftlicher Ablehnung sexueller Impulse oder Verhaltensweisen beruht, ist für die Diagnose unzureichend.
Publikationen
Stirn, A., Stark, R., Tabbert, K., Wehrum-Osinsky, S. & Oddo, S. (Hrsg.) (2013): Sexualität, Körper und Neurobiologie, Stuttgart: Kohlhammer.
Stark, R. (2015). Sexuelle Sucht Diagnose-Ursachen-Therapie. neuro aktuell, 8, 1-6.
Stark, R. & Wehrum-Osinsky, S. (2016). Sexuelle Sucht. Reihe Fortschritte der Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe Verlag
Fachpublikationen in Englisch
Klucken, T., Schweckendiek, J., Merz, C.J., Tabbert, K., Walter, B., Kagerer, S., Vaitl, D. & Stark, R. (2009). Neural activations of the acquisition of conditioned sexual arousal: effects of contingency awareness and sex. Journal of Sexual Medicine, 6, 3071-3085.
Kagerer, S., Klucken, T., Wehrum, S., Zimmermann, M., Schienle, A., Walter, B., Vaitl, D. & Stark, R. (2011). Neural activation towards erotic stimuli in homosexual and heterosexual males. Journal of Sexual Medicine, 8, 3132–3143.
Wehrum, S., Klucken, T., Kagerer, S., Walter, B., Hermann, A., Vaitl, D. & Stark, R. (2013). Gender commonalities and differences in the neural processing of visual sexual stimuli. Journal of Sexual Medicine, 10, 1328-1342.
Kagerer, S., Wehrum-Osinsky, Klucken, T., Walter, B., Vaitl, D & Stark, R. (2014) Sex attracts: Investigating individual differences in attentional bias to sexual stimuli. Plos One, 9, e107795.Wehrum‐Osinsky, S., Klucken, T., Kagerer, S., Walter, B., Hermann, A., & Stark, R. (2014). At the second glance: stability of neural responses toward visual sexual stimuli. The Journal of Sexual Medicine, 11(11), 2720-2737.
Stark, R., Kagerer, S., Walter, B., Vaitl, D., Klucken, T. & Wehrum-Osinsky, S. (2015). Trait Sexual Motivation Questionaire: Concept and validation. Journal of Sexual Medicine, 12 (4), 1080-1091
Klucken, T., Wehrum-Osinsky, S., Schweckendiek, J., Kruse, O. & Stark, R. (2016). Altered appetitive conditioning and neural connectivity in subjects with compulsive sexual behavior. Journal of Sexual Medicine, 13, 627-36.
Stark, R., Kruse, O., Snagowski, J., Brand, M., Walter, B., Klucken, T., Wehrum-Osinsky, S. (2017). Predictors for (problematic) use of Internet sexually explicit material: role of trait sexual motivation and implicit approach tendencies towards sexually explicit material. Sexual Addiction & Compulsivity, 24, 180-202
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Stark, R., Klucken, T., Potenza, M. N., Brand, M., & Strahler, J. (2018). A current understanding of the behavioral neuroscience of compulsive sexual behavior and problematic pornography use. Current Behavioral Neuroscience Reports, 5, 218-23
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Stark, R., Klein, S., Kruse, O., Weygandt, M., Leufgens, L.K., Schweckendiek, J., & Strahler, J. (2019). No sex difference found: Cues of sexual stimuli activate the reward system in both sexes. Neuroscience, 416, 63-73.
Strahler, J., Baranowski, A., Walter, B., Huebner, N., & Stark, R. (2019). Attentional bias towards and distractibility by sexual cues: A meta-analytic integration. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 105, 276-287.
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Brand, M., Wegmann, E., Stark, R., Müller, A., Wölfling, K., Robbins, T.W., & Potenza, M. (2019). The Interaction of Person-Affect-Cognition-Execution (I-PACE) model for addictive behaviors: Update, generalization to addictive behaviors beyond internet-use disorders, and specification of the process character of addictive behaviors. Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 104, 1-10.
Unsere Forschung und Arbeitsgruppe in den Medien
Am 14.03.2017 waren unsere Studien Teil eines Beitrages zum Thema „Wissenschaft der Pornographie“ der Sendung Quarks&Caspers im WDR.
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