Für die Zukunft Libyens
forum forschung am 3. Juni 2020
SEIT MEHR ALS NEUN JAHREN HERRSCHT BÜRGERKRIEG IN DEM NORDAFRIKANISCHEN LAND. DIE SICHERHEITSLAGE IST PREKÄR. GIESSENER GEOGRAFINNEN UND GEOGRAFEN ARBEITEN AN KOOPERATIONEN MIT KOLLEGINNEN UND KOLLEGEN AUS LIBYEN.
Texte: Katja Irle >> Während die ganze Welt im Januar nach Berlin auf den internationalen Libyen-Gipfel schaute, hatte die Justus-Liebig-Universität ihre eigene Libyen-Konferenz schon erfolgreich beendet. Zwar waren es keine Staatsund Regierungschefs, die in Gießen zusammenkamen, sondern Geografinnen und Geografen. Sie verhandelten auch nicht über eine dauerhafte Waffenruhe für das Bürgerkriegsland. Und doch kann das Treffen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu beitragen, dass Libyen eine Zukunft hat.
„Wenn wir helfen, Institutionen und Initiativen zu stärken, dann vergrößert das die Chance, das Land zu stabilisieren“, sagt Andreas Dittmann, Professor für Anthropogeografie und Geografische Entwicklung an der JLU. Der Libyen-Experte formuliert vorsichtig, wenn es um die Ziele der Konferenz geht, aber auch ho nungsvoll. Er und sein Team arbeiten seit rund zwei Jahren im Rahmen eines DAAD-Projekts an der Kooperation mit Hochschulen in Libyen. Nach zwei vorbereitenden Workshops in Tunis kamen mehr als 30 Kolleginnen und Kollegen im vergangenen Dezember nach Gießen. Zum ersten Mal waren auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem Osten Libyens dabei, der von General Ha ar kontrolliert wird, der gegen die Zentralregierung in der westlichen Hauptstadt Tripolis unter al-Sarradsch kämpft.
Kooperationen und Arbeitstreffen über Kontinente hinweg sind im internationalen Wissenschaftsbetrieb eigentlich nichts Besonderes. Aber der akademische Austausch mit Libyen hat nichts von der Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit vieler anderer weltweit vernetzter Forschungsprojekte.
Das fängt schon bei den Abläufen an. Um nach Deutschland zu kommen, mussten die libyschen Konferenz-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer zweimal ins benachbarte Tunesien reisen: Das erste Mal, um in Tunis ein Visum zu beantragen, weil es in Libyen keine deutsche Botscha mehr gibt. Das zweite Mal, um von Tunis aus nach Deutschland zu fl iegen, weil der internationale Flughafen in Tripolis geschlossen ist.
Auch die Arbeitsbedingungen vor Ort verlangen den Forschenden und Studierenden in Libyen viel ab. „Wir können uns nicht vorstellen, unter welchen Umständen die libyschen Kolleginnen und Kollegen versuchen, den Universitätsbetrieb und die Lehre aufrechtzuerhalten“, erzählt Dittmann. Er kennt das mittlerweile zum „gescheiterten Staat“ (failed state) erklärte nordafrikanische Land seit mehr als 40 Jahren. Er weiß um die prekäre Sicherheitslage, kennt die politischen Konfl iktlinien wie kaum ein anderer. Trotzdem ist auch er immer wieder beeindruckt, mit welcher Energie die Wissenscha lerinnen und Wissenschaftler ihrer Arbeit nachgehen – allen Widrigkeiten zum Trotz.
Große Sehnsucht nach Normalität
Die militärischen und politischen Auseinandersetzungen beeinträchtigen die Arbeit von Lehrenden und Lernenden massiv. Beim Treffen in Gießen habe sich aber gezeigt, dass sich die Frontverläufe innerhalb der Geografie- Community überhaupt nicht widerspiegeln, sagt Dittmann. Im Gegenteil: „Es gibt eine große Sehnsucht nach Normalität, nach einem Berufsalltag fern von Krieg und Terror.“
Dabei haben neun Jahre Bürgerkrieg das Verhältnis der Libyer zum Thema Sicherheit stark verändert. Wie unerschrocken die Forscherinnen und Forscher in Nordafrika ihrer Arbeit nachgehen, zeigt das Beispiel einer Geografin aus Tripolis, deren Universität im etwa 70 Kilometer entfernten Sabrata liegt. Die Straße dorthin führt durch ein besonders unruhiges Gebiet entlang der libyschen Küste. Viele Flüchtlingsboote starten von dort aus Richtung Europa. „Hier sind skrupellose Menschen unterwegs, die mit dem Schicksal der Geflohenen Geschäfte machen, oft ist Gewalt im Spiel“, weiß Dittmann. Außerdem sei die strategisch wichtige Region zwischen den Akteuren des Bürgerkriegs umkämpft.
Die libysche Kollegin kennt die Gefahren genau – und macht sich trotzdem fast täglich auf den Weg zur Hochschule. Zur Planung nutzt sie eine Sicherheits-App, die über gefährliche beziehungsweise unproblematische Strecken informiert. „Ihr habt in Deutschland doch auch Wetter-Apps“, erklärte sie den verblüfften Forscherinnen und Forschern beim Treffen in Gießen: „In Libyen ist das Wetter immer gleich, dafür haben wir unsere App zur Terrorvorhersage.“
Während Teile des Landes im Chaos versinken, versuchen Menschen wie diese Wissenschaftlerin ihren Alltag – und damit Strukturen – aufrechtzuerhalten. Sie versorgen ihre Familien, treffen Freunde, stützen die noch funktionierenden Bildungsinstitutionen durch ihre tägliche Arbeit und tragen so dazu bei, dass es überhaupt eine Perspektive gibt, wenn das Land bei einem möglichen Friedensprozess wieder zur Ruhe kommen sollte. Für Andreas Dittmann bilden diese Kolleginnen und Kollegen „das Rückgrat des Wiederaufbaus“.
Doppelte Herausforderung
Für die künftige akademische Arbeit in dem Land sieht der Geograf eine doppelte Herausforderung, bei der die Gießener unterstützen wollen: Zum einen müssten die durch den Bürgerkrieg zerstörten Strukturen wiederaufgebaut werden. So sei etwa im zentralen Süden und Südosten des Landes der Universitätsbetrieb komplett zusammengebrochen, berichtet Dittmann. Auch in anderen Teilen Libyens sei die Lage sehr unübersichtlich.
Aber es gibt noch weitere Defi zite, die nach Dittmanns Einschätzung lange vor dem Bürgerkrieg, während der Zeit von Machthaber Gaddafi entstanden sind. „Seitdem ist Libyen vom internationalen akademischen Austausch weitgehend abgehängt“, sagt der Geograf. Für die Kooperation mit den Wissenscha lerinnen und Wissenscha lern bedeutet das zum Beispiel: Curricula überarbeiten und Abschlüsse vergleichbar machen, damit die künftige Studierenden-Generation in Libyen wieder Anschluss an die internationale Forschung findet – oder zumindest in einem ersten Schritt mit Nachbarländern wie Tunesien oder Ägypten kooperieren kann.
Dass die libysch-deutsche Wissenscha spartnerscha überhaupt zustande kam, liegt an Kontakten, die Professor Dittmann über Jahre, teils Jahrzehnte hinweg geknüpft hat. Vor mehr als 40 Jahren bereiste er das Land zum ersten Mal. Aus dieser Zeit stammt auch sein „Straßen-Arabisch“, das er bis heute spricht. Das heißt: Dittmann kann, wie er einschränkt, zwar keine „hochtrabenden akademische Gespräche auf Arabisch führen“, aber sich trotzdem fl ießend mit den Kolleginnen und Kollegen aus Libyen in ihrer Landessprache unterhalten.
Gelernt hat der Wissenscha ler die Sprache tatsächlich auf der Straße – genauer: beim Straßenbau. 1980 schu ete er nach Abitur und Bundeswehrzeit auf einer Baustelle in der libyschen Wüste, um Geld zu verdienen. Auftragnehmer war eine Firma aus Hessen. Libyen war Dittmanns „erstes afrikanisches Land“ – und er erinnert sich bis heute genau daran, wie er beim Anfl ug der Maschine mit vielen anderen Bauarbeitern die libysche Küste sah. „Vielleicht habe ich so eine Art Geo-Gen in mir. Was Libyen betriftt: Es ist ein bisschen wie bei der ersten Liebe, man vergisst sie nie.“ Damals hat der Geograf auch mehrmals Gaddafi getroffen. Im Straßenbaucamp in der libyschen Wüste verlegte Dittmann Teppichboden in einem repräsentativen Zelt, in dem der Alleinherrscher dann später auf der Durchreise schlief.
Gaddafi , arabischer Frühling, Bürgerkrieg – Dittmann kennt fast alle Details der wechselhaften politischen Geschichte des Landes. Als Experte erklärt er bei Fernsehsendern wie Phönix regelmäßig die komplexen Zusammenhänge – zuletzt nach der internationalen Libyenkonferenz in Berlin, mit Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Maas. „Es war ein Erfolg, dass diesmal alle Akteure dabei waren“, resümiert Dittmann. Zwar redeten die libyschen Gegenspieler al-Sarradsch und General Ha ar nicht direkt miteinander, aber erstmals nahmen beide an einem solchen Treffen teil.
Damit enden für Dittmann die Erfolge aber auch schon. „Die vereinbarte Waffenruhe ist längst wieder gebrochen, auch das Waffenembargo wird nicht eingehalten“, sagt er ernüchtert. Als langjähriger Beobachter der kriegerischen Auseinandersetzungen mit starker militärischer Einmischung von außen hatte er von Anfang an wenig Hoffnung, dass die Berliner Konferenz wirklich eine Wende im Libyen-Konflikt einleiten würde.
Doch auch wenn diplomatische Wunder bislang ausbleiben, halten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Gießen und Libyen an ihrer Kooperation fest. Gerade dann. Sie warten nicht auf die internationale Politik, sondern legen los. Dittman ist sicher: „Es wird eine Zeit nach dem Bürgerkrieg geben – und wir fangen mit dem Wiederaufbau jetzt schon mal an.“
EIN LAND, VIELE AKTEURE
Nach dem Sturz von Diktator Gaddafi im Jahr 2011 ringen in dem nordafrikanischen Land zwei Mächte um die Vorherrschaft. Die Milizen von General Haftar kontrollieren vor allem den Osten des Landes. Sie kämpfen gegen die von den UN anerkannte Zentral-Regierung im westlichen Tripolis unter al-Sarradsch. Außerdem greifen internationale Akteure von außen in den Konflikt ein, die ganz eigene Interessen verfolgen. Zum einen ist Libyen reich an Erdöl. Zum anderen schaut Europa mit Sorge auf das Land, weil der Bürgerkrieg einen Teil der Bevölkerung zur Flucht über das Mittelmeer zwingt, hinzu kommen Menschen aus Subsahara-Afrika, die auch über Libyen Richtung Europa fliehen. In dem Konflikt kann General Haftar auf arabische Verbündete wie Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate zählen. Der russische Präsident Putin gilt ebenso als Unterstützer. Auch Frankreich wurde mehrfach vorgeworfen, sich zugunsten von Haftar zu positionieren. Als Unterstützer der Zentral-Regierung gilt unter anderem der türkische Präsident Erdogan, aber auch die ehemalige Kolonialmacht Italien.
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