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Liminalität des Lebens. Zu den Ambivalenzen und Grenzbereichen von Leben und Tod

Workshop an der Universität Gießen (01.-02. September 2022

in Kooperation mit der Sektion „Media, Science & Technologie“ des Gießener Graduiertenzentrums Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften

Liminalität des Lebens. Zu den Ambivalenzen und Grenzbereichen von Leben und Tod

Organisation: Julia Böcker, Laura Völkle, Nico Wettmann


 

Anmeldung zum Workshop

 

 

 

Zur besseren Organisation bitten wir um eine formlose Anmeldung zur Teilnahme bis zum 30.08. 


Programm

 

Programm und Abstracts herunterladen 

 

Donnerstag, 01. September 2022

  • 13.15 – 13.45 Begrüßung und Einstieg
  • 13.45 – 14.45 Uhr: Lilian Coates (Frankfurt): Liminalität des Sterbens im Kontext der stationären Hospizarbeit
  • Pause
  • 15.15 – 16.15 Uhr: Markus Kluge (Münster): Ambivalenzen des gewünschten Kindes in Kinderwunschratgebern
  • 16.15 – 17.15 Uhr: Debora Niermann (Zürich): Kinderhospize als liminale Orte?! Ethnografische und theoretisierende Überlegungen zur Forschungskonzeption
  • Pause
  • 17.30 – 18.30 Uhr: Keynote – Werner Schneider (Augsburg): „…Leben und Sterben machen.können.sollen …“ – dispositivanalytische Anmerkungen zum Wandel der gesellschaftlichen Ordnung von Lebensbeginn und Lebensende in der sich weiter modernisierenden Moderne
  • 19.30 Gemeinsames Abendessen


Freitag, 02. September 2022

  • 9.30 – 10.30 Uhr: Christoph Egen (Hannover): Soziologische Implikationen biomedizinischer Verfahren
  • 10.30 – 11.30 Uhr: Veronika Siegl (Wien): Der liminale Fötus im Kontext medizinisch indizierter Schwangerschaftsabbrüche
  • Pause
  • 11.45 – 12.45 Uhr: Philipp Zeltner (Chemnitz): Zur Entstehung „suspendierten“ Lebens in der westdeutschen Reproduktionsmedizin
  • 12.45 – 13.15 Abschluss

  

Call for Papers


Die Grenzen des Sozialen und damit verbundene Vorstellungen davon, was konstitutiver Teil des Sozialen ist, sind kulturell kontingent. Für die moderne Gesellschaft hat Thomas Luckmann die »Grenzen der Sozialwelt« (1980) herausgearbeitet und aufgezeigt, dass nur lebende Menschen und nicht etwa Dinge, Geister, Pflanzen oder Tiere als legitime soziale Personen und Akteure gelten. Kulturelle Deutungsangebote und Interpretation sozialer Wirklichkeiten prägen diese Grenzziehungen: Soziale Deutungen, ob und wann eine Entität ein ›Mensch‹, eine ›Person‹, ob sie ›tot‹ oder ›lebendig‹ ist, sind zwar gesellschaftlich institutionalisiert und legitimiert, unterliegen aber fortlaufenden Aushandlungsprozessen. 

In der Gegenwart werden die Grenzbereiche des Lebens wesentlich durch wissenschaftliche Erkenntnisse und biomedizinische Technologien rekonfiguriert (exemplarisch Adrian 2020). Sie bringen ein Verständnis von ›Mensch‹ und ›Leben‹ mit sich, das einerseits durch technologische Objektivation geprägt ist, anderseits die Gestaltbarkeit biologischer Ausformungen betont. So konnte beispielsweise die Hirntoddiagnostik entstehen, weil es technisch möglich wurde, einen ›hirntoten‹ Organismus bis zur Diagnose am Leben zu erhalten. Zugleich entstanden damit angesichts der Frage nach Weiterbehandlung des Patient:innenkörpers und im Kontext der Organspende Todesfeststellungen, die mit der sinnlichen Wahrnehmbarkeit eines noch lebenden Körpers kollidieren können (Lindemann 2002; Kalitzkus 2003). Am Lebensbeginn hat die Möglichkeit der Visualisierung von Ungeborenen während der Schwangerschaft mittels Ultraschalls die Vorstellung ›ungeborenen Lebens‹ mithervorgebracht (Duden 1994) und trägt heute wesentlich zu Praktiken der pränatalen Personalisierung und Familiarisierung bei (Heimerl 2013; Sänger 2020), die im Fall von Schwangerschaftsverlusten oder pränatal diagnostizierten Fehlbildungen auch wieder in Frage gestellt werden können. Entwicklungen wie die zunehmende Überlebensfähigkeit frühgeborener Kinder durch die Frühgeborenen-Intensiv-Medizin sowie Präimplantationsmedizin und embryonale Stammzellforschung ziehen neuartige und umstrittene (Behandlungs-)Entscheidungen nach sich, denen verschiedene – oft ambivalente und widersprüchliche – Konstruktionen von menschlichem Leben zugrunde liegen (Graumann 2012; Peter 2013).

Für die Soziologie bieten diese Grenzbereiche ein anregendes Forschungsfeld, das zugleich sozialtheoretische Denkgewohnheiten und Grundbegriffe herausfordert. Angesichts der in den empirischen Studien zutage tretenden Ambiguitäten stellt sich beispielsweise die Frage, wie weit die Metapher von ›den Grenzen‹ der Sozialwelt und des Lebens trägt, die ja eine Linie impliziert, welche zwar verhandelbar ist, aber doch die Unterscheidung von ›tot‹ und ›lebendig‹ sowie von ›sozialen Personen‹ und ›anderen‹ Entitäten voraussetzt. Auch das Konzept des verkörperten Individuums wird seiner Selbstverständlichkeit beraubt, etwa wenn ein Ungeborenes vom schwangeren Körper unterschieden und seinerseits individualisiert wird (Hirschauer et al. 2014; Schneider 2011) oder wenn, wie im Falle einer Krebspatientin, die ›Verwesung‹ des Körpers dem Hirn- und Herztod vorausgeht (Lawton 1998). Welches Theorievokabular könnte offener sein für Existenzweisen im Dazwischen der Grenzbereiche sowie für die Prozesse des Werdens und Vergehens von Personen?

Hieraus eröffnen sich weitere Fragen wie: 

  • In welchen praktischen Kontexten und gesellschaftlichen Feldern wird Leben, dessen Beginn und Ende, wie bestimmt? Wie werden Leben und Tod jeweils verhandelt und als evident konstruiert und legitimiert?
  • Wie werden die Grenzen des Sozialen gezogen? Wie wird Personalität situativ verhandelt und wie stehen unterschiedliche Deutungen des Seins von Entitäten zueinander? 
  • Wie lassen sich die Grenzbereiche des Lebens jenseits ontologischer Vorannahmen und theoretischer Gewissheiten empirisch untersuchen? Welche Methoden und Methodologien eignen sich gut? 
  • Welche empirischen Irritationen halten die skizzierten Felder und Phänomene für tradierte soziologische und gesellschaftliche Konzepte bereit?

Die Veranstaltung will in einem Werkstattformat diese und ähnliche Fragen zur Liminalität des Lebens in Diskussion bringen und eine Vernetzung ermöglichen. Neben einer Projektvorstellung wird die Forschungswerkstatt deshalb Raum für intensiven Austausch und der Weiterentwicklung eigener Forschungsansätze bieten. Willkommen sind insbesondere Beitragseinreichungen, die Ambivalenzen und Grenzbereiche von Leben und Tod im Sinne einer »theoretischen Empirie« (Kalthoff et al. 2008), also empirisch und theoretisch, in den Blick nehmen.

 

Wir bitten um Zusendung von aussagekräftigen Abstracts (max. 500 Wörter) bis zum 30. April 2022 per Email an die Organisator:innen. Rückmeldung wird zum 15. Mai 2022 gegeben.

 

Einreichung als PDF an:

Julia Böcker (Leuphana Universität Lüneburg), boecker@leuphana.de

Laura Völkle (Eberhard Karls Universität Tübingen), laura.voelkle@uni-tuebingen.de

Nico Wettmann (Justus-Liebig-Universität Gießen), nico.wettmann@sowi.uni-giessen.de

 

Literatur

Adrian, Stine W. 2020. Stitching Stories of Broken Hearts: Living Response-ably with the Technologies of Death and Dying at the Beginning of Life. Australian Feminist Studies35(104), 155–169.

Duden, Barbara. 1994. Der Frauenleib als öffentlicher Ort: Vom Mißbrauch des Begriffs Leben. München: DTV.

Heimerl, Birgit. 2013. Die Ultraschallsprechstunde: Eine Ethnografie pränataldiagnostischer Situationen. Bielefeld: transcript.

Hirschauer, Stefan, Heimerl, Birgit, Hoffmann, Anika & Hofmann, Peter (2014). Soziologie der Schwangerschaft: Explorationen pränataler Sozialität. Stuttgart: Lucius & Lucius.

Kalitzkus, Vera. 2003. Leben durch den Tod: die zwei Seiten der Organtransplantation. Eine medizinethnologische Studie. Frankfurt am Main New York: Campus.

Kalthoff, Herbert, Hirschauer, Stefan & Lindemann, Gesa (Hrsg.). 2008. Theoretische Empirie: Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Lawton, Julia (1998): Contemporary Hospice Care: The Sequestration of the Unbounded Body and ‘Dirty Dying’. Sociology of Health and Illness 20(2), 121–143.

Lindemann, Gesa. 2002. Die Grenzen des Sozialen: Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin. Übergänge, Bd. 48. München: Fink.

Luckmann, Thomas. 1980 [1970]. Über die Grenzen der Sozialwelt. In ders.: Lebenswelt und Gesellschaft. Paderborn: Schöningh, 56–92.

Graumann, Sigrid. 2012. Die Geburt als Grenze zur Konstitution sozialer Personen: Ein soziologisch-theoretischer Beitrag zur bioethischen Diskussion über Spätabbrüche und die Behandlung von Frühchen. In: Joerden, Jan, Hilgendorf, Eric, Petrillo, Natalia, Thiele, Felix (Hrsg.): Menschenwürde in der Medizin: Quo vadis? Baden-Baden: Nomos, 13–32.

Peter, Claudia. 2013. Ungewissheiten in der ›Ankunft‹ eines frühgeborenen Kindes: Wahrnehmungen der Beteiligten. In: Peter, Claudia, Funcke, Dorett (Hrsg.): Wissen an der Grenze. Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin. Frankfurt am Main, New York: Campus, 459–507.

Sänger, Eva. 2020. Elternwerden zwischen „Babyfernsehen“ und medizinischer Überwachung: eine Ethnografie pränataler Ultraschalluntersuchungen. Bielefeld: transcript.

Schneider, Werner. 2011. Das andere Leben im ›toten‹ Körper. Symbolische Grenzprobleme und Pa­radoxien von Leben und Tod am Beispiel ›hirntoter‹ Schwangerer. In: Villa, Paula-Irene, Moebius, Stephan, Thiessen, Barbara: Soziologie der Geburt. Diskurse, Praktiken und Perspektiven. Frankfurt am Main: Campus, 155–182.