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Prof. Dr. Ekkehard Jost (†)

Zum Gedenken an Prof. Ekkehard Jost

 (1938-2017)

erstellt von Pia Wagner — zuletzt verändert: 02.10.2020 09:45 — Historie

Dem akademischen Wissenschaftsbetrieb und – wenn man es genau nimmt – allen allzu ordentlich normierten Gegebenheiten und Verhaltensanordnungen stand Ekkehard Jost mit großer Skepsis und einer nicht nur wohltuend kritischen, sondern auch äußerst produktiven Distanz gegenüber, deren mitunter auch verstörende Energie sich nicht zuletzt aus seinem lebenslangen Wirken als Free Jazzer speiste. Am 22. Januar 1938 in Breslau geboren, studierte Jost ab 1959 Musikwissenschaft, Physik und Psychologie an der Universität Hamburg und promovierte 1967 bei Hans-Peter Reinecke mit der seine Studienfächer verbindenden Dissertation Akustische und psychometrische Untersuchungen an Klarinettenklängen. Von 1966 bis 1972 arbeitete er als Wissenschaftlicher Assistent Reineckes am Staatlichen Institut für Musikforschung Berlin und habilitierte sich 1973 an der Universität Hamburg mit der Arbeit Free Jazz. Stilkritische Untersuchungen zum Jazz der 60er Jahre in einem für die damaligen musikwissenschaftlichen Umweltverhältnisse schier unglaublichen Arbeitsfeld.
Im selben Jahr folgte er dem Ruf auf die Professur für Systematische Musikwissenschaft am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Justus-Liebig-Universität Gießen, die er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2003 inne hatte, und tat einen weiteren Schritt ins Noch-Nicht-Dagewesene: Er beendete seine zwischen Musikwissenschaftler und Jazzmusiker "gespaltene Existenz", wie er es nannte, und verband seinen bürgerlichen Beruf mit seiner musikalischen Berufung: Das (Jazz-)Musikmachen wurde zum "Regulativ" für sein theoretisches Nachdenken.
1975 rief er die Jazzinitiative Gießen ins Leben, die der regionalen Jazzszene bis heute die Richtung weist, er initiierte in Kooperation mit dem Musikinstitut über einen eigens gegründeten Verein zur Förderung zeitgenössischer Musik die Konzertreihe "Musica Nova", die er ebenso wie die weithin bekannten Konzerte im Gießener Botanischen Garten bis zuletzt konzipierte und organisierte, er führte sein eigenes Plattenlabel Fish Music... All dem (und die Aufzählung ist bei weitem nicht vollständig) ist gemeinsam, dass es recht eigentlich Ein-Mann-Unternehmungen waren, bei denen es zwar durchweg Mitstreiter gab, das ener-gisch-energetische Zentrum aber immer der streitbarste Geist inter pares bildete – erst recht beim Musikmachen in seinen jazzmusikalischen und hochpolitischen Großprojekten von den "Weimarer Balladen" (1992) über die "Cantos de libertad" (Lieder aus dem spanischen Bürgerkrieg, 2006) bis zu den "Liedern gegen den Gleichschritt" (2009) und in seinen hochkarätig besetzten, durchweg auf freie Musik setzenden Bands von Grumpff, Amman Boutz, Carambolage bis Chromatic Alarm.
Sein Beitrag zum wissenschaftlichen Jazz-Diskurs war wegweisend und in seiner Wirkkraft einzigartig: Free Jazz wurde – vielfach übersetzt – als erste gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem noch jungen Phänomen sofort international rezipiert und gilt noch heute als Standardwerk, seine Bücher zum europäischen Jazz legten die Grundlage zu seiner angemessenen wissenschaftlichen Verortung, mit Jazzmusiker. Materialien zur Soziologie der afro-amerikanischen Musik legte er gleichsam nebenbei das Gründungsdokument einer Jazzsoziologie vor und seine Sozialgeschichte des Jazz in den USA (1982) bildet auch heute noch einen äußerst lesenswerten, historisch-materialistisch fundierten Gegenentwurf zu den biographistisch-kanonisierenden Meistererzählungen. Überhaupt ist Josts "Schreibe" eine der Philologensprache aufs Angenehmste sich widersetzende –
und eine, die sich hören lassen kann: nicht ohne Grund sind seine pointierten Radio-Features, entstanden im Laufe seiner jahrzehntelangen Mitarbeit in den Jazzredaktionen der Öffentlichen-Rechtlichen, vielen Jazzinteressierten unvergesslich.
Ekkehard Jost war Gründungsmitglied und lange Jahre Vorstands- und Beiratsmitglied des Arbeitskreises Studium Populärer Musik (Vorstand 1986-90, Beirat 1991-2006) und des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung in Darmstadt (1980-92, Vorsitz 1989-92) sowie in den 1970er Jahren im künstlerischen Beirat der Union Deutscher Jazzmusiker und seit 1969 Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Internationalen Gesellschaft für Jazzforschung in Graz. Im Jahr 2000 wurde er mit dem Hessischen Jazzpreis ausgezeichnet.
Am 23. März 2017 ist Ekkehard Jost 79-jährig nach kurzer Krankheit in Marburg verstorben. Allen, die mit ihm Musik gemacht oder gearbeitet haben, von ihm gelernt oder ihn auch nur kennengelernt haben, wird er in Erinnerung bleiben als Vorstreiter einer sinnhaften Entgrenzung engformierter Wissenschaft, als Baritonsaxophonist und Bassklarinettist, der seine Hörer mit schrägen Klängen und gefährlich schrillen Töne jenseits der Grifftabelle begeisterte, und vor allem –: als hellwacher und hochpräsenter Initiator und Aktivist, wie er in keinem Buche steht. Evviva Ekkus!


Thomas Phleps