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Gab es ein „Augusterlebnis“ 1914 in Gießen?

augusterlebnis

I. Weltrkieg, Mobilmachung
(Bundesarchiv Bild 183-25684-0004)

Regionalgeschichtliche Projektarbeit von Studierenden in Zusammenarbeit mit dem Oberhessischen Geschichtsverein Gießen und dem Gießener Stadtarchiv (Leitung Dr. Olaf Hartung).

Gab es überhaupt ein Augusterlebnis? Gab es den besonderen „Geist von 1914“, waren wirklich breite Volksmassen in Deutschland bei Kriegsausbruch in den letzten Juli- und Augustwochen des Jahres 1914 beseelt von patriotischer Kriegsbegeisterung und nationalem Zusammengehörigkeitsgefühl?

Diese Frage beschäftigt die Geschichtsforschung seit nunmehr 15 Jahren. Der bedeutende Historiker Thomas Nipperdey war 1993 noch überzeugt, dass es eine damals neu- und einzigartige nationale Gemeinschaftserfahrung gegeben haben muss, der sich kaum jemand hatte entziehen können, weder „die einfachen Leute, Bauern oder Arbeiter, und erst recht nicht die Bürger.“ „Hunderttausende junge (und manchmal auch ältere) Leute“ haben sich freiwillig gemeldet, wurden Kriegsfreiwillige, über eine Million seien es allein im August 1914 gewesen. Das alles könne „keine patriotische Legende“ gewesen sein, lautete Nipperdeys bündiges Resümee.(1)

Nur zehn Jahre später sprachen Historiker davon, dass der Mythos,  die deutsche Bevölkerung habe sich bei Kriegsbeginn vor nationaler Begeisterung kaum halten können, längst entlarvt sei.(2)  Die Presse titelte einen „Hammerschlag“, weil Historiker „die Legende von der Kriegsbegeisterung der Volksmassen im Herbst 1914“ widerlegt hätten.(3)

Der Mythos war also zertrümmert. Aber war er das wirklich? – Nein, Totgesagte leben länger! Es gab ein Augusterlebnis. Dafür gibt es zu viele Belege.(4)  Es gab die zunächst spontanen Manifestationen von Gefühlslagen in der besonderen Spannungssituation der Juli-Krise, die sich als Kriegserwartung und Kriegsfurcht besonders seit dem Österreichisch-Ungarischen Ultimatum an Serbien (25. Juli 1914) aufgebaut hatte. Nur war die damalige Situation überaus ambivalent, die unterschiedlichsten Gefühlslagen und Motive konnten in ein und derselben Person zum Vorschein kommen. Welche Emotionen im einzelnen Menschen überwogen, hing nicht zuletzt von der jeweiligen persönlichen Disposition und der politischen Anschauung ab. Zugleich waren die Menschen einer amtlich betriebenen (Des-)Informationspolitik und die Presse seit Ende Juli der Zensur ausgesetzt. Beides sollte nicht zuletzt die erwünschte einheitliche patriotische Gesinnung überhaupt erst erzeugen.

Und Gießen? – In Gießen nichts Neues? Gab es hier ein „Augusterlebnis“, das den Namen verdient hätte, oder zumindest ein inszeniertes Medienereignis oder vielleicht eine nachträgliche Konstruktion dieser Art, oder aber von allem etwas? Nichts genaues weiß man nicht. Die Lokalforschung schweigt sich hierzu aus, was vermutlich nicht zuletzt an der schwierigen Quellenlage liegt. Hier macht das studentische Forschungsprojekt einen Anfang und durchforstet die lokalen Zeitungen unter der Fragestellung, welche Informationen sie zur Ereignisebene und zu den Stimmungen der Gießener Bevölkerung im Juli und August 1914 enthalten.

 

von Dr. Olaf Hartung/Angela Krüger

 

Die Arbeitsergebnisse sind publiziert in: in: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins Gießen, Bd. 94 (2009), S. 157-176.

Zur Website des Oberhessischen Geschichtsvereins

 

Anmerkungen:

(1) Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Machtstaat vor der Demokratie (Bd. 2), München 1993, S. 778 f.

(2) Sven Oliver Müller: Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002, S. 56.

(3) Jochen Bölsche: Der Kriegsausbruch. „Ein Hammerschlag…“, in: Spiegel spezial 1 (2004), URL: <http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/d-30300019.html>, S.1. (07.03.2009); dabei bezeichnete Volker Ullrich: „Die Legende vom Augusterlebnis“ bereits 1994 als entlarvt, in: DIE ZEIT Nr. 31, 29.7.1994, URL: http://www.zeit.de/1994/31/Die-Legende-vom-Augusterlebnis (25.02.2009).

(4) Mai, Gunther: 1. August 1914: Gab es ein Augusterlebnis?  in: Tage deutscher Geschichte. München 2004, S.177-194, hier S. 180.