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Internationale Tagung im Herder-Institut Marburg "Kampf der Karten" (06.-08.05.2009)

Propaganda- und Geschichtskarten als politische Instrumente und Identitätstexte in Europa seit 1918

23.07.2009

Resümee der gleichnamigen Tagung

 

Tagungsprogramm

 

Veranstalter: Herder-Institut, Marburg; Historisches Institut, Didaktik der  Geschichte und Zentrum für Medien und Interaktivität (Sektion Medienpädagogik) an der Justus-Liebig-Universität Gießen; Johann Gottfried Herder-Forschungsrat; gefördert von der FAZIT-Stiftung

 

 

1) Politische Karten und Geschichtskarten – jenseits der Landkarte

Der Ansatz der Tagung, historische politische Karten und Geschichtskarten, also Karten als Quellen und Karten als Darstellung, gemeinsam zu thematisieren und zu kontrastieren hat durchaus innovative Vergleichspunkte zu Tage gebracht, die offensichtlich Karten als thematische Visualisierung in besonderem Maße eigen sind. Auffällig ist bei beiden Mediengattungen vor allem die Persistenz einmal etablierter Kartenbilder. Während der Tagung haben deshalb die vielen Kartenbeispiele insgesamt eher das Bild einer Monotonie der Buntheit ergeben. Gegenüber den bereits seit den Zwanziger Jahren und dann vor allem von französischen Geographen erheblich erweiterten Darstellungsmöglichkeiten, wie sie Dirk Hänsgen vorstellte, oder der durch die vor allem seitens der Fachdidaktik erheblich verfeinerten kritischen Sicht auf die Aussagevarianten der Karte (Armin Hüttermann), erschien die Aussagebreite und Formensprache der thematischen Karten demgegenüber reduziert. Daraus ergibt sich die Frage, warum die „Grenzen des Zeigbaren“ (in Anlehnung an Achim Landwehr) in der politischen Kartografie vergleichsweise eng gezogen sind und wie sich dieses Beharrungsmoment  insgesamt erklären lässt. Ist dieses Phänomen auf fest etablierte und daher nur bedingt wandelbare Raumbilder zurückzuführen? Befinden sich diejenigen Kartografen, denen es vor allem um die Visualisierung einer politischen Aussage geht, in einem Aussagegefängnis?
Einen wesentlichen Hinweis zur Entwirrung dieses Problems gab Ute Schneider in der Diskussion: Karten sind in doppelter Weise präsent, als materielle Grundlage in papierener oder digitaler Form und als Raumvorstellung, als sog. mental maps. Entsprechend lässt sich von der Abwesenheit von Karten bei politischen Entscheidungen nicht zwangsläufig auf die fehlende Wirkungsmächtigkeit von Karten schließen. Gerade diese Interferenzeffekte eröffnen, so ließe sich ergänzen, völlig neue Optionen für Fragestellungen über den Stellenwert von Kartenmaterial im politischen Diskurs und im Kontext von politischen Entscheidungsfindungen. Mental sind Karten etwa in der Form von Zielprämissen (z.B. Wunschgrenzen eines Staates) oder als Angstvorstellung (in Form von emotionalisierten worst case-Szenarien) dauernd präsent. Dies macht es zentral, die imaginativen Raumbilder jenseits der Karte, die auf die Produktion und Interpretation von Karten zurückwirken, in der Interpretation des Umgangs mit Karten stärker zu berücksichtigen. Vielfach erfordert es gerade einen Schritt weg von der Karte, eine Emanzipation von ihren Visualisierungsinhalten, um ihre Funktion schlüssig erklären zu können.
Ähnliche Fragen richten sich auch an die Geschichtskarte, die als Darstellungsform retrospektiv historische Zustände, Ereignisse und Prozesse abzubilden sucht. Auch hier ließ sich ein erstaunliches Beharrungsvermögen existierender  Darstellungsvarianten genauso wie teilweise auch ein auf Zufälligkeiten beruhender transnationaler Export von Kartenbildern feststellen (Sylvia Schraut). Offensichtlich werden auch hier bestimmte Aussagevarianten und Aussagemöglichkeiten tradiert, ja geradezu verfestigt. Da Geschichtskarten vor allem für historische Vermittlungsprozesse entstehen, spielt hierbei das komplexe Zusammenspiel unterschiedlicher geschichtskultureller Agenten wie z.B. die normativen Vorgaben der Bildungsinstitutionen genauso wie die kommerziellen Verlagsinteressen eine verstärkte Rolle. Gerade da, wo aufgrund von  Mehrsprachigkeit komplexe bildungspolitische Gemengelagen existieren wie in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit, bilden sich diese auch in der Produktion von Geschichtsschulatlanten ab, wie Miroslav Nĕmec zeigte.

 

 

2) Karten kennen keinen Konjunktiv!

Während der Tagung wurde nicht nur die Frage kontrovers erörtert, ob und in welcher Weise Karten als Text zu lesen sind. Bei der Interpretation von Kartenbildern und Kartenfolgen verdichteten sich in den Einzelanalysen in fast bemerkenswerter Weise methodische Anleihen aus der Linguistik. Haben daher Karten eine eigene Sprache oder Grammatik? Wie sind sie in Verbindung zu Text und Schrift zu sehen, die sich nicht nur in fast allen Karten selbst wieder finden (Orts- und Ländernamen) und daher in (national-)sprachlicher Hinsicht kodiert sind, sondern auch in Überschrift und Legende. In diesem Zusammenhang ließe sich von folgender Zuspitzung ausgehen: Dienen Karten nur zur Visualisierung von Texten (und sind sie daher als aussagetechnische Trittbrettfahrer zu verstehen), oder bündeln sie vielmehr Gesamtaussagen in einer Weise, die die Wirkungsmächtigkeit von Texten durch ihre Plausibilitätswirkung übersteigt?
Dieses Auseinanderhalten von ineinander eng verwobenen Aspekten der Kartenwirkung trägt natürlich nur bedingt. Die Bildhaftigkeit der Karte und die Rückbindung an Text sind untrennbar miteinander verbunden. Zum einen werden Karten nicht nur produziert und rezipiert, sondern auch kommentiert, kritisiert, zensiert, verbessert, ergänzt oder kopiert. Zweitens ist auf die textuell grundierten  Beschreibungen und die Datengrundlage zu verweisen, die durch Karten medialisiert werden, und auf die über Text und performative Kontexte (Schulunterricht) vermittelte Einübungsleistung, die Karten erst selbsterklärend werden lässt, gibt doch die Karte selbst in der Regel keinen Aufschluss mehr über die Datengrundlage. Drittens geraten hier die Mechanismen und Strategien in den Blick, die Dirk Hänsgen mit dem sprechenden Begriff Wahrnehmungsdressur verknüpft hat. Erst die sozial vermittelte Lesefähigkeit und Bedeutungszumessung machen z.B. Geschichtskarten zu einem über ihre Funktion als Wissensspeicher weit hinaus reichenden Medium, das etwa der historischen Mythenbildung durch grobschnittartige Generalisierungen dient (Vadim Oswalt). Hier wird deutlich, dass Karten jenseits ihrer eigenen Aussageform kommunikative Funktionen erfüllen, bis hin zur Kommunikationskontrolle über Effekte des silencing (Guntram Herb): Einmal verschweigt die Karte ohne dies zu begründen. Zum anderen lässt einen nichts mehr verstummen als eine maßstabgetreue, autorisierte Karte.
Vielfach ist während der Tagung auch deutlich geworden, dass von „klassischen“ Nachfragesituationen gesprochen werden kann, die die Produktion von Karten erfordern, stimulieren oder auch erzwingen (zum Ende des Ersten Weltkriegs oder im Umfeld der EUOsterweiterung etc.). Hier dienen Karten sowohl der Orientierung und „Abbildung“ neuer räumlicher Machtverhältnisse oder möglicher Handlungsoptionen, aber auch der planerischen Vorbereitung von Eingriffen in vorgefundene Strukturen oder als Konkretisierung von geopolitischen Visionen, die dadurch auch gegenwärtig und real erscheinen. Insofern besitzen gerade suggestive Karten ihre Entsprechung in geopolitischen Diskursen, die ihrerseits durch das Kartenbild untermauert werden. Darüber hinaus wird die Kartensprache in politischen Diskursen rekontextualisiert, gedeutet und in einen politischen Auftrag umformuliert. Dieses Zusammenspiel ließ sich vor allem an der Raummanie der Zwanziger Jahre besonders deutlich aufzeigen (Hans-Dietrich Schulz). Es gibt aber auch wesentlich subtilere Aussageweisen, mit denen Karten Wertungen und Weltbilder transportieren. Steffi Franke hat in ihrem Beitrag anschaulich die fließenden Übergänge zwischen politischen Wertaussagen und der kartografischen Konvention verdeutlicht, die zu ihrer Untermauerung intentional oder unbewusst eingesetzt wurden. Christian Lotz hat eine Reihe von Lehrbeispielen geliefert, wie – etwa beim Wetterbericht – geopolitische Grundpositionen auch banalisiert werden können. Eine Reihe von Fragen knüpfen sich vor diesem Hintergrund an den Faktor Zeit: Was wird in welchen Sequenzierungen dargestellt? Wann werden welche Karten im Verhältnis zum Ereignis, das sie abbilden, publiziert (siehe den Vortrag von Sylvia Schraut)? Wann tauchen welche Karten in welcher Dichte und Streuung auf? Wann und mit welcher Verzögerung finden Rezeptionen, Kopien und (kommentierte) Neuauflagen statt? Was sind die technischen Möglichkeiten, wann werden sie wofür aufgegriffen und welche neuen Zeigesituationen ergeben sich durch den Einsatz neuer medialer Formate, die dann wieder auf die „klassische“ Darstellung zurückwirken. Hier haben vor allem kartografische Sujets im Trick- und Dokumentarfilm beeindruckt, die Ralf Forster vorgestellt hat.

 

 

3) Wie weiter? Wege für eine künftige Forschung

Die Tagung hat folgende Punkte besonders deutlich werden lassen:

  • Nötig ist eine stärkere Berücksichtigung der Funktion, die Karten im Rahmen intermedialer Strukturen zukommen. Sind hier in der politischen Publizistik Texte und Karten wie kommunizierende Röhren zu verstehen? Geht von ihnen in arbeitsteiliger Weise eine Prägewirkung aus? Entsprechend wurde im Laufe der Tagung immer wieder auf bild- und diskurstheoretische Ansätze hingewiesen bzw. auf die Möglichkeit einer „dichten Beschreibung“ von Raumbildern unter Berücksichtigung von Karten und Texten (wie sie Hans-Dietrich Schulz für deutsche Raumdiskurse der Zwischenkriegszeit präsentiert hat). In diesem Zusammenhang wurde auch mehrfach für eine Erweiterung und stärkere Zusammenschau von Quellenmaterial plädiert. Genannt wurden hier kartographische Darstellungen auf Postkarten, Karikaturen, Briefmarken, Geldscheinen, Münzen etc., Kartenrezensionen, Zeitungskartographie, Karten in präsentatorischen Kontexten (Museen, Ausstellungen, Gedenkstätten, Buchcover etc.) und alle Varianten im Sinne eines „Land als Logo“.
  • Plädiert wurde auch für ein stärkeres Gewicht der Intentions- und Rezeptionsforschung – wobei beides von den Karten her ebenso zu durchdenken ist wie aus der Sicht der Produzenten und Rezipienten. Ähnlich wie bei der sozialwissenschaftlich orientierten Schulbuchforschung müssen sich hierbei prozessorientierte Perspektiven, die den Weg der Karte von der Produktion bis zu ihrer Aussonderung betrachten, produktorientierte Analysen anhand inhaltanalytischer Verfahren und wirkungsorientierte Untersuchungen zur Kommunikations- und Rezeptionsforschung multiperspektivisch ergänzen.
  • Dabei hat die Tagung auch ergeben, dass stärker auf eine Unterscheidung zwischen Karten, die auf möglichst viele Betrachter abzielen, und Karten zu achten sei, die Geheimwissen abbildeten; Karten können dementsprechend als Gebrauchsobjekte, Vergesellschaftungsmittel und Medium von Identitätsentwürfen ebenso aufgefasst werden wie als Planungsgrundlage und Instrument des Wissensvorsprungs (siehe die oft verwendete Bezeichnung „für den Dienstgebrauch“). Die Arbeit der Publikationsstelle Berlin-Dahlem seit 1933 (Wolfgang Kreft und Christina Sohl) stellt hierfür ein besonders beklemmendes Beispiel dar. Ein weiterer möglicher Ansatz ist die Erforschung der zeitgenössischen Diskussion um Darstellungsweisen und die Konsequenzen, die von dieser Kritik ausging. Dies ermöglicht auch den Blick auf Kanonisierungsprozesse und auf die Frage nach dem Zeitpunkt, zu dem Karten ihren Verbindlichkeitscharakter verlieren oder an dem sich Deutungen auseinander entwickeln bzw. aufsplitten. Außerdem wurde deutlich, dass ein „Kampf der Karten“ eher als Ausnahmesituation zu verstehen ist, in denen allerdings durch die Verdichtung der Präsentation entgegengesetzter Raumbilder die Standards gleichzeitig bestätigt und entwickelt werden (Verweise gab es auf den deutsch-französischen, deutsch-polnischen, ungarischrumänischen und auf den Kontext des Kalten Krieges).
  • Mehrfach wurde für eine stärkere Historisierung der Methoden, Kategorien und der Geneseprozesse von Karten plädiert. Auch wurde der Blick immer wieder auf Übersetzungsvorgänge gerichtet, in denen dieselben Inhalte in neue Rezeptions- und Interpretationskontexte gestellt werden. Miroslav Nemec präsentierte Beispiele für eine transnationale Übernahme, Susanne Grindel für eine postkoloniale State-Building-Adaption von eigentlich kolonialen Vorgaben. Dies lenkt das Interesse auf die definierbaren Nahtstellen, an denen sich die Verwendungs- und Interpretationskontexte ändern (etwa von Experten zu Journalisten); welche „Verzahnungsleistungen“ sind hier eingeübt, welche Verdolmetschung muss dennoch geleistet werden, was sind entsprechende Lernerfolge? Welche Transferleistungen lassen sich im Vergleich jeweils feststellen, welche transmedialen Perspektiven und Formen der Multimodalität lassen sich hier feststellen (wie z.B. Karten und Musik, Karte und Bild, Karte und Film)? Zu fragen ist zudem, wie mit alternativen Lesarten, Perspektiven oder Darstellungsformen umgegangen wird (Guntram Herb sprach von Protest bzw. subversiven, Peter Haslinger von oppositionellen oder subkulturellen Lesarten).
  • Schließlich wurde immer wieder für eine stärkere Einbeziehung weiterer Disziplinen plädiert (Hans-Dietrich Schultz: Psychologie; Peter Haslinger: Translationswissenschaften, Medienwissenschaften). Dies würde den analytischen Blick für die Techniken und Mittel zur Visualisierung und zur Erzeugung von Stimmungslagen eröffnen, die Róbert Keményfi mit entsprechenden Schlüsselbegriffen umschrieb („Schicksalsgemeinschaft“, „Bollwerke“).
  • Gerade das letzte Beispiel macht deutlich, wie wichtig transnationale Perspektiven in europäischen und weiteren Kontexten bei der Erschließung der Sprache und Funktionsweisen von Karten sind. Kartographie-methodische Überlegungen und Strukturen bilden offensichtlich eine hervorragende komparatistische Ebene, an denen sich eine Fülle an grundlegenden geschichtskulturellen Ankerpunkten festmachen lassen. Gerade der (ost-) mitteleuropäische Raum mit seinen erheblichen geopolitischen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte und der immer noch weit verbreiteten politischen Brisanz vieler Kartenbilder der Zwischenkriegszeit hält besonders spannende Anschlusspunkte bereit.
  • Auf jeden Fall kann als Ergebnis festgehalten werden, dass historische und geographische Wissenschaften mit ihren Fachdidaktiken im produktiven Gespräch verbleiben sollten, um sich bei der Vielschichtigkeit der Herausforderungen (nicht nur) dieses spannenden Untersuchungsfeldes zu ergänzen.

Herder-Institut Marburg (2009)