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Ein Beispiel für eine Exkursion zum Thema "Die Rolle von Frauen als Opfer und Täterinnen in Hadamar während der NS-Euthanasie-Verbrechen" (betreut von Regine Gabriel)


Ein Bericht zum gleichnamigen Seminar von Jenny Hilgenberg 

„Spannend, gewöhnungsbedürftig, interessant, abwechslungsreich und anstrengend.“ So lauten die Antworten der SeminarteilnehmerInnen, nachdem sie von dessen Leiterin, Frau Regine Gabriel, um eine Bewertung des ersten Seminarwochenendes gebeten wurden. Ein besonderes Seminar erhält besondere Attribute. Ein Bericht zu unserem lehrreichen Besuch der NS-Euthanasie-Gedenkstätte Hadamar im Westerwaldkreis.

Unser Exkursionsseminar begann am Freitag, den 16. März, nachmittags vor Ort in der Gedenkstätte. Nach einem gemeinsamen Warm-Up und dem Kennenlernen der SeminarteilnehmerInnen führte uns Frau Gabriel durch die Räumlichkeiten der Gedenkstätte. Wir nahmen dabei den gleichen Weg, den die Opfer 1941 durchschritten haben müssen. Dieser führte von der auf dem Gelände befindlichen Busgarage, wo die Patienten ankamen, in den ehemaligen sogenannten Auskleideraum. Dort befindet sich heute eine Ausstellung zur früheren Nutzung des Gebäudes als Heilstätte, Tötungsanstalt, Therapiezentrum und schlussendlich als Gedenkstätte. Vom Auskleideraum aus wurden die Patienten in ein Arztzimmer geführt, um dann von einem Arzt einer scheinbaren Untersuchung unterzogen zu werden. Wir erfuhren, dass die Tötungen in Hadamar in zwei Phasen stattfanden:

In der ersten Phase, ab Januar 1941, wurden die Opfer durch Kohlenmonoxydgas ermordet. Leitende Ärzte waren Dr. Ernst Baumhard, Dr. Friedrich Berner, Dr. Günter Hennecke und Dr. Hans-Bodo Gorgass. Während der zweiten Phase von August 1942 bis März 1945 geschah die Tötung durch Medikamente und systematische Mangelernährung. Leitender Arzt zu dieser Zeit war Dr. Adolf Wahlmann. Die zweite Phase unterschied sich außerdem von der ersten aufgrund der Tatsache, dass nicht mehr nur die Ärzte mordeten, sondern nahezu das gesamte Anstaltspersonal durch die Medikamentengabe an den Tötungen teilhatte. Während der ersten Phase wählten die Ärzte aus einer Liste von Todesursachen eine mögliche – medizinisch unbegründete – für jeden Patienten/ jede Patientin aus und trugen sie in die Krankenakte ein. Danach wurden die Opfer direkt in den Keller geschickt, in welchem sich die Gaskammer befand, und dort gruppenweise vergast. Sie starben bereits am Tag ihrer Ankunft in Hadamar. In der zweiten Phase lebten die Patienten vor ihrem Tod meist eine längere Zeit in der „Pflegeanstalt“.

Im Keller kann noch heute die Gaskammer besichtigt werden. Auch ein original Seziertisch aus den Jahren der Euthanasie-Verbrechen ist erhalten geblieben sowie ein Foto am Standort der Krematorien.
Schon beim Hinabsteigen der Treppenstufen in den Keller überkam uns ein nur schwer zu beschreibendes erdrückendes Gefühl. Haben die Opfer geahnt, was mit ihnen geschehen würde? Wer sind die Menschen gewesen, die an diesem Ort zu Tätern wurden?


Wir waren sichtlich erleichtert, als wir den Keller wieder verlassen hatten und eine kleine Pause einlegen durften. Dann folgte eine Diskussion darüber, wie wir uns als Zuschauer dort gefühlt haben.
Nach diesem Gespräch unternahmen wir einen gemeinsamen Gang zum angrenzenden Friedhof, den Ort, an welchem die zahlreichen Opfer in Massengräbern begraben liegen. An sie erinnert ein Gedenkstein mit der Aufschrift „Mensch achte den Menschen“. In einem kleinen Bereich des Friedhofs befinden sich zehn Einzelgräber. Frau Gabriel erklärte uns, dass dort Kinder begraben wurden, aber bis heute niemand genau weiß, warum gerade diese Kinder dort Einzelgräber erhielten. Bis vor kurzem sei der Bereich noch sehr unscheinbar gewesen, nichts habe an die Kinder erinnert. Dann jedoch hat es sich eine Kindergruppe zur Aufgabe gemacht, in einem Projekt der Gedenkstätte Gedenksteine zu entwerfen und selbst zu errichten. So erhielten diese Kinder eine bleibende Erinnerung.

Nachdem wir den Friedhof verlassen hatten, kehrten wir in die Räumlichkeiten der Gedenkstätte zurück. Durch ein Referat mit dem Titel „Die Täterschaft deutscher Frauen im Nationalsozialismus“ näherten wir uns der Frage nach der Position der Täterinnen in Hadamar an. Mit Überlegungen zur Definition weiblicher Täterschaft und der aktiven weiblichen Beteiligung am NS-Völkermord ging unser erster Seminartag zu Ende.

Der Morgen des zweiten Seminartages begann erneut mit einem Warm-Up aus verschiedenen theaterpädagogischen Aufwärmübungen. Wir sollten unter anderem durch den Raum laufen und dabei in unserem Gang variieren. Dies bedeutete beispielsweise zu laufen, als würden wir einen „Schaufensterbummel“ machen, Dinge in unserer Umgebung intensiv beobachten oder eine Gedenkstätte besuchen. So wurde uns bewusst, wie sehr sich unsere Bewegungen in unterschiedlichen Kontexten unterscheiden. Des Weiteren unternahmen wir eine entspannende „Traumreise“, um unsere Konzentration für den neuen Seminartag zu stärken. Daraufhin regte uns Frau Gabriel zu einer Vorüberlegung bezüglich der weiblichen Patienten in Hadamar an: Gab es unterschiedliche Lebenssituationen von Patienten und Patientinnen? Wir waren unschlüssig.

Ein weiteres Referat, basierend auf Gaby Zipfels Textgrundlage „Verdrängte Erinnerungen, verdeckte Überlieferung: Akteurinnen im Nationalsozialismus“, verdeutlichte uns die Rolle der Frau als aktive Mittäterin der NS-Verbrechen. Zwar wird die Partizipation der Frau bis heute oft verschwiegen, allerdings sprechen Fakten wie unter anderem die Tatsache, dass 1945 ca. 100.000 Frauen dem SS-Helferinnen-Korps angehörten, gegen eine ausschließlich passive Beteiligung der Frau.

In diesem Zusammenhang stellte uns Frau Gabriel ein Buch des Autors Harald Welzer vor: „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“. Welzer versucht, das Handeln von Tätern zu analysieren und unter anderem folgende Fragen zu beantworten: Wie wird ein Mensch zum Täter? Welchen veränderten normativen Rahmen schafft er sich zur Rechtfertigung seiner Taten?

Nach einer Mittagspause arbeiteten wir mit Krankenakten von Opfern sowie Täteraussagen. Durch dieses Vorgehen wurde die am Tag zuvor gestellte Frage nach eventuellen Unterschieden in der Lebenssituation von weiblichen und männlichen Patienten überprüft. Des Weiteren untersuchten wir die Prozessaussagen einiger TäterInnen auf geschlechtsspezifische Unterschiede.

Zur Erklärung zogen wir die Modelle Welzers heran. Im Vorhinein ist zu sagen, dass unsere Ergebnisse ausschließlich in Form von Hypothesen vorliegen, da wir nur in einige wenige Akten Einsicht hatten und somit keine allgemeingültige Aussage treffen konnten.

Vergleich unter dem „gender-aspect“


Die Opfer

Die Krankenakte der weiblichen Opfer hatten generell einen größeren Umfang als die männlicher Patienten. Dies lässt auf einen längeren Krankheitsverlauf und den möglicherweise gnädigeren Umgang mit weiblichen Opfern schließen. Frauen wurden oft mehrmals verlegt oder ihnen wurde ein Aufenthalt in ihrer Familie genehmigt.
Die männlichen Opfer hingegen brachte man tendenziell direkt nach Hadamar, um sie dort umgehend zu ermorden. Manche Frauen durften trotz ihrer angeblichen Krankheit, wie beispielsweise „erblicher Schwachsinn“, zurück ins öffentliche Leben. Vermutlich deshalb, weil sie als „schwaches Geschlecht“ innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie sowieso eine eher untergeordnete Rolle einnahmen. Anders war dies bei den männlichen Opfern: Wer innerhalb der Gesellschaft negativ auffiel, wurde auf schnellstem Wege beseitigt.   

 

Die Täter

Täterinnen betonten in ihren Aussagen das Prinzip der Hierarchie. Sie stellten sich schützend hinter die Ärzte und leugneten jede Verantwortung für ihre Verbrechen. Sie gaben meist offen zu, ihre Taten seien furchtbar gewesen, jedoch als Dienstverpflichtung unvermeidbar. Die Täterinnen wiesen ihren Vorgesetzten Schuld und Verantwortung zu, betrachteten sich selbst hingegen als Opfer. Sie argumentierten größtenteils zusätzlich sogar auf einer moralischen Ebene: Die Getöteten seien unheilbar Krank gewesen und die Täterinnen hätten ihre Aufgabe erfüllt, indem sie die Kranken von ihrem schlimmen Leid erlöst haben.

Männliche Täter hingegen wählten die Möglichkeit der Selbstverteidigung nicht. Sie erläuterten sachlich und kühl ihre Taten. Die meisten standen dem Euthanasiegedanken positiv gegenüber. Bei ihnen ist nach Welzer eine gewisse Rollendistanz zu beobachten, das heißt, dass ihre Aussage eine professionelle Beschreibung der Verbrechen enthält, sie jedoch in keinem Punkt persönlich Stellung nehmen. Im Gegensatz zu den weiblichen Tätern hat kein männlicher die Absicht, sich mit dem Versuch einer moralischen Begründung zu verteidigen. Abschließend diskutierten wir gemeinsam über unsere neuen Erkenntnisse.

Der Sonntagmorgen begann – nach neuen Warm-Up Übungen (Der Ein oder Andere ahnt den Grund für die Bezeichnung „gewöhnungsbedürftig“…) – mit dem Lesen des Theaterstücks „Jubiläum“ von George Tabori. Dieses Stück wurde unsere Inspirationsquelle für die weitere Arbeit an selbst kreierten Spielszenen zur Thematik. Unter der Anleitung Frau Gabriels führten wir Vorübungen zum Theaterspiel durch. Danach erarbeiteten wir in Gruppen eigene Spielszenen. Die Gestaltung eigener Szenarien gab uns die Möglichkeit auf der Ebene des Theaterstücks eine Begegnung von Opfern und Tätern zu inszenieren. Gespräche zwischen Mitgliedern beider Gruppen wurden mit Hilfe der Kenntnisse aus den Akten, der Ausstellung und der Referatsinhalte aufgebaut. Ziel war eine Konfrontation von Tätern und Opfern, die in dieser Art nie stattgefunden hat. Wir beschäftigten uns damit, wie eine solche Begegnung hätte aussehen können, wenn die Opfer ihren Tätern nicht hilflos ausgeliefert gewesen wären. Wie hätten sich die Ärzte in Hadamar vor den Menschen verteidigt, welche sie kaltherzig umbrachten? Wie haben sich die Opfer in ihrer Situation wohl verhalten? Inwieweit wussten sie, was mit ihnen geschehen würde? Was haben sie gefühlt? Welche Charaktereigenschaften geben wir nach diesen Überlegungen unseren Protagonisten? Solche und ähnliche Fragen stellten wir uns während der theoretischen Entwicklung unserer Spielszenen. Schließlich vollendete ein kurzer Rückblick auf das Wochenende die ersten Seminartage.

Eine Woche später waren alle Teilnehmer gespannt, wie die praktische Umsetzung der Szenen ablaufen würde. Viele Ideen, die unsere Köpfe und Heftseiten füllten, wollten nun in der Praxis erprobt, verändert, verworfen oder verbessert werden. Einführende Übungen halfen, mit der für uns nicht alltäglichen Methode des Theaterspielens warmzuwerden, wobei dies nicht allen Teilnehmern sofort leicht fiel. Der Freitagnachmittag wurde daher als Eingewöhnungs- und Probephase für den nächsten Tag genutzt, denn unser Ziel war es, die Szenen nach ihrer Fertigstellung mit der Kamera zu filmen.


Eine kurze Übersicht zu den entstandenen Szenen


[Gruppe 1]

Wir schreiben den 24. April 2010, die Geister der Opfer Helene H. und ihrer vierjährigen Tochter Maria schweben durch die Ausstellungsräume in Hadamar. Maria H. fragt ihre Mutter, wo sie sich befinden. Diese erklärt, dass dies der Ort sei, an dem sie vor langer Zeit ermordet wurden. Maria möchte wissen, was ermordet bedeutet. Ihre Mutter erzählt dann, dass sie und ihre Tochter in Hadamar getötet wurden. Diagnose: Angeborener Schwachsinn. Plötzlich taucht ein Arzt auf. Helene erkennt ihn als einen der damaligen Mörder und versucht ihr Kind zu schützen. Der Arzt bittet um Verzeihung. Der nächste Teil der Szene zeigt einen Rückblick in das Jahr 1944: Der von Gewissensbissen gepeinigte Arzt bittet seinen Vorgesetzten, Herrn Dr. Wahlmann, um seine Entlassung. Der uneinsichtige Dr. Wahlmann aber diagnostiziert auch bei seinem Kollegen „Schwachsinn“ und reicht ihm Tabletten, welche schließlich dessen Tod herbeiführen. Im letzten Teil der Szene stehen sich die Geister des Kindes und der beiden Ärzte gegenüber. Während Dr. Wahlmann sein handeln noch immer als das einzig richtige Verhalten ansieht und keinerlei Mitgefühl mit dem Schicksal der Opfer zeigt, bereut sein Kollege seine Vergehen zutiefst. Er erkennt seine Schuld an.

1. Szene, Gruppe 1 "Im Ausstellungsraum"

 

[Gruppe 2]

Im Arztzimmer des Herrn Dr. Wahlmann wird über ein männliches Opfer gerichtet. Der Arzt sucht aus seiner Liste eine scheinbar passende Todesursache aus, die Krankenschwester bekräftigt ihn in all seinen Entscheidungen. Sie himmelt Herrn Dr. Wahlmann an und scheint ihm blind zuzustimmen. Dies verdeutlicht die zahlreichen Aussagen weiblicher Täterinnen, sie hätten bloß getan, was von den Ärzten vorgeschrieben war. Die Hierarchie des Personals wird als Ausrede für den Mord an unzähligen Menschen missbraucht. Ein „verrückter Toter“ wuselt ständig zwischen den anderen herum und wird dann entnervt von Dr. Wahlmann „wieder zurück in den Ofen“ geschickt. Es wird offensichtlich, dass die Morde zur alltäglichen Arbeit der Angestellten gehörten. Der zweite Teil der Szene ist die Umkehr des ersten Teils: erneut richtet eine Personengruppe über die andere. Diesmal sind es jedoch die Geister der Opfer, welche das Urteil fällen. Die TäterInnen verteidigen sich. Oberschwester Irmgard Huber beteuert, sie habe nur ihre Arbeit gemacht und fände nach wie vor nichts Schlechtes daran, lebensunwertes Leben zu beseitigen. 

1. Szene, Gruppe 2 "Im Arztzimmer"

2. Szene, Gruppe 2 "Vor Gericht"

 

Am darauf folgenden Morgen haben wir uns schließlich die Szenen gegenseitig vorgespielt und sie anschließend aufgenommen. Dann diskutierten wir die Endergebnisse und unsere Eindrücke des gesamten Blockseminars: Welche neuen Erfahrungen konnten wir sammeln? Was trug die Veranstaltung zu unserer LehrerInnenausbildung bei? Können wir uns vorstellen, selbst theaterpädagogische Methoden in unseren Unterricht einzubinden? Wie beurteilen wir selbst die von uns kreierten Szenarien?

Zusammenfassend kann man sagen, dass das „spannende, gewöhnungsbedürftige, interessante, abwechslungsreiche und anstrengende“ Seminar vor allem lehrreich gewesen ist. Wir wissen nun nicht nur um die historische Bedeutung der Gedenkstätte in Hadamar, sondern konnten zugleich einen herausfordernden methodischen Zugriff auf dieses Thema kennenlernen. Leichte Zweifel kamen auf, ob durch das Theaterspielen zur Aufarbeitung von Euthanasie-Verbrechen nicht die Gefahr bestünde, den Respekt vor den damaligen Opfern zu verringern. Einig waren wir uns jedoch alle über den Nutzen des Seminars: Das Spielen der Szenen „am Schauplatz des Geschehenen“ hatte uns ein Einfühlen in die jeweiligen Rollen abverlangt, wodurch wir einen intensiven und persönlicheren Zugang zur Thematik erlangt haben.