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Exkursion nach Kasachstan (2020)

                                                           

 

 Justus-Liebig-Universität Gießen, Professur für Turkologie  

 Kasachstanexkursion 2020

 

Vom 15. bis 25. Februar dieses in vielerlei Hinsicht denkwürdigen Jahres fand eine Exkursion statt, die mindestens ebenso lange in Erinnerung bleiben wird, wie das Corona- und Trump-Abwahljahr 2020 als solches.

Die Vorbereitungen zur Exkursion hatten bereits Ende 2019 begonnen. Doch als sich um die Jahreswende die Gerüchte über das neuartige Virus aus Wuhan immer weiter konkretisierten, schien alles in Frage gestellt zu werden. Nach dem Absprung mehrere Teilnehmerinnen konnte die erforderliche Mindestteilnehmerinnenzahl am Ende nur knapp erreicht werden. Dennoch trafen wir schließlich in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar in der ehemaligen kasachischen Hauptstadt Almaty ein, die immer noch das kulturelle und wirtschaftliche Zentrum des Riesenlandes ist.

Schon die Ankunft war abenteuerlich. Nicht wegen der bekittelten und maskierten Gestalten, die uns am Flughafen mit Fiebermessgeräten begrüßten (oder waren es Föns oder Spielkonsolenjoysticks?). Sondern weil die Nachtwärterin des Wohnheims, in dem wir untergebracht werden sollten, sich absentiert hatte. Was dazu führte, dass wir ungefähr um vier Uhr nachts Ortzeit eine gefühlte Ewigkeit lang im in Regen übergehenden Schnee auf Russisch „Nachtwärterin!!!“ brüllend herumtaperten. Das Einzige, das wir dabei zunächst ernteten, waren wütende Beschimpfungen aus den Fenstern eben noch Schlafender, während vereinzelt vorbeifahrenden Autos uns einfach ignorierten. Der Wärter am Schlagbaum der Universität war ebenfalls nicht hilfreich, weil er kein Telefon besaß – wir selbst hatten ebenfalls noch keine lokalen Sim-Karten. Erst dank einer freundlichen Usbekin, die uns im letzten Augenblick bemerkte, wurden wir am Ende doch noch in das Wohnheim hineingelassen. Dass unser Trip nicht wie ein All-inclusive-Urlaub nach Antalya ablaufen würde, war allerdings auch vorher schon klar gewesen.

Dank der aus vorausgehenden wissenschaftlichen Aufenthalten und Exkursionen bestehenden hervorragenden Kontakte zur Kasachischen Staatlichen Al-Farabi-Universität, zur Uigurischen Schule Nr. 153, zur Abay-Universität und zu diversen Privatleuten wurden die studentischen Teilnehmerinnen rasch für die etwas dumasesken Umstände der Reise kompensiert. Neben dem Kennenlernen der erwähnten Einrichtungen und einiger der eindrucksvollen Sehenswürdigkeiten Almatys – darunter Park der 28 Panfilov-Helden, das Kasteyev-Museum, der Grüne Basar, Köktöbe und das nahe liegende Wintersportgebiet – erfuhren die Studierenden der JLU vor allen Dingen, was es heißt, in einem postsowjetischen Land zu leben. Sprachlich, kulturell, wirtschaftlich, emotional.

So konnten etwa die sprachlichen Umbrüche hautnah mitverfolgt werden: Die zunehmende Bedeutung des Kasachischen und Englischen neben der weiterhin alles durchdringenden Kraft des Russischen. Der hindernisreiche Kampf um ein neues Alphabet für das Kasachische. All dies lernten die Studierenden nicht nur aus der Perspektive der kasachischen Titularnation, sondern auch aus der Sicht der ebenfalls zu den Turkvölkern gehörenden Uiguren kennen. Als neue mächtige Sprache unverkennbar überall auf dem Vormarsch war auch das Chinesische.

Aber auch das Aufeinandertreffen der heimischen Kultur Deutschlands mit all ihren Begleiterscheinungen wie Konsumorientierung (um nicht zu sagen Konsumfetischismus) und Laissez-faire sowie der türkischen auf der einen und der kasachischen Lebensart auf der anderen Seite, in der sich sowjetische Disziplin mit nationalem Aufbruch vermengen, führte zu Erfahrungen, die für jede und jeden der Teilnehmenden zum Teil des interkulturellen Erfahrungsschatzes werden.

Unvergessen bleiben etwa die bravourösen Reiteinlagen einer aus der Türkei stammenden Studierenden, die mehr oder weniger gewöhnungsbedürftigen kulinarischen Erfahrungen und die Begegnungen mit Taxifahrern, deren Alltags- und Lebensgeschichten oft ohne Weiteres direkt als Hörbücher hätten aufgenommen werden können.

Unter all den wunderbaren, teilweise auch verwunderlichen Erlebnissen und Begegnungen dieser unvergesslichen Exkursion ragen aus Sicht des Leiters zwei jedoch ganz besonders hervor.

Zum einen durfte unsere Gruppe den uigurischen Schriftsteller Hämit Xämraev persönlich kennenlernen. Dessen Theaterstück „Die uigurische Tragödie“ hatte ich zusammen mit Sultan Karakaya, einer Teilnehmerin an einer früheren Exkursion, aus dem Neuuigurischen ins Deutsche übersetzt (mehr Informationen dazu unter https://www.facebook.com/michael.berlinistanbul/posts/3512098545524563). Ebenso bewegend wie das Treffen mit dem Schriftsteller war, dass wir einen Tag später in der Abteilung für Orientalistik des Pädagogischen Instituts der Abay-Universität einem uigurischen Afghanistan-Veteranen begegneten, der an diesem Tag, ein Vermächtnis seines Vaters erfüllend, Preisgelder für junge Uiguren spendete, die sich um die Erhaltung der uigurischen Kultur verdient machten. Unter diesen wiederum war ein brillanter Student, der zu dem Buch „In schweren Tagen“ (erschienen im Harrassowitz-Verlag) beigetragen hatte, einem weiteren wissenschaftlichen Ertrag aus einer früheren Kasachstan-Exkursion der JLU. Der uigurische Veteran und die anderen anwesenden Uiguren zeigten sich gerührt von dem Umstand, dass man sich im fernen Deutschland für ihre Sprache, Kultur und Literatur interessiert.

So wurde es nicht nur eine Begegnung mit Neuem, sondern auch ein Schließen von Kreisen, kleinen, persönlichen, und großen, historischen.

Solche Begegnungen über Kulturen, Sprachen, Kontinente, Epochen, Berufe, Orientierungen und Interessen hinweg zu ermöglichen, ist eines der größten Potentiale der Turkologie.

 

Michael Reinhard Heß