Inhaltspezifische Aktionen

Flucht und Freiheit

Flucht und Freiheit sind zentrale Themen von „Sansibar oder der letzte Grund“. Es geht Alfred Andersch darum, Augenblicke existenzieller Freiheit im selbstbestimmten Handeln und damit die punktuelle Rückgewinnung von Freiheit im totalitären System darzustellen. Damit knüpft er an Grundgedanken der Hauptvertreter des französischen Existenzialismus Jean-Paul Sartre und Albert Camus an. Augenblicke solcher Freiheit, die im Roman nur einen Wimpernschlag lang andauern, lässt Andersch seine Romanfiguren auf verschiedene Weise durchleben. So setzen sich die Figuren Helander und Gregor eher auf philosophische Weise mit der Frage auseinander, während sie bei Judith, Knudsen und dem Jungen durch ihre Handlungen und Erfahrungen zum Tragen kommt.


An den Beispielen Helander und Judith lässt sich exemplarisch darstellen, wie Andersch die Themen Flucht und Freiheit umsetzt. Der Pfarrer Helander scheint mit seiner asketischen Lebensführung zu Beginn des Romans noch recht zufrieden zu sein, doch als er erfährt, dass der „Lesende Klosterschüler“ von den Nationalsozialisten abgeholt werden soll, sieht er sich und seine Kirche in Gefahr. So entrüstet er sich gegenüber seinem Arzt: „Der Klosterschüler ist kein Kunstwerk, Herr Doktor, er ist ein Gebrauchsgegenstand. Er wird gebraucht, verstehen Sie, gebraucht! Und zwar in meiner Kirche.“ Seine Weigerung, die Holzfigur auszuliefern, bildet den Ausgangspunkt für den weiteren Verlauf der Handlung. Entscheidend in Bezug auf die Themen Flucht und Freiheit ist bei Helander die Entscheidung, die er nach dem letzten Besuch seines Arztes treffen muss. Er hat die Wahl zwischen dem Rückzug ins Krankenhaus, der Verhaftung und Folter durch die Nationalsozialisten oder dem Tod im Kampf gegen den übermächtigen Gegner. Seine Entscheidung fällt auf den Akt verzweifelten Widerstands. Er stellt sich den „Anderen“ mit der Pistole in der Hand. Im für ihn tödlichen Schusswechsel erlebt er seinen Augenblick existenzieller Freiheit. Der mit seinem Gott hadernde Pfarrer sieht im Sterben das langersehnte göttliche Zeichen: „Die Schrift, auf die ich mein Leben lang gewartet habe. Er wandte sich um und blickte auf die Wand, und während er die Schrift las, spürte er kaum, wie das Feuer in ihn eindrang, er dachte nur, ich bin lebendig, als die kleinen heißen Feuer in ihm brannten. Sie trafen ihn überall.“


Judith ist die Figur, die augenscheinlich den triftigsten und schwerwiegendsten Grund zur Flucht hat. Sollte ihr Vorhaben misslingen, droht ihr aufgrund ihrer jüdischen Herkunft in Nazi-Deutschland womöglich nicht nur der Verlust ihrer Freiheit, sondern auch ihres Lebens. Trotzdem erscheint ihre Flucht am wenigsten durchdacht, wie der Verlauf der Handlung zeigt. So folgt sie nach dem Selbstmord ihrer Mutter deren Empfehlung, die allerdings eher einem emotionalen als einen strategischen Ursprung hatte. In Rerik wird Judith allerdings schnell desillusioniert, ihre Lage scheint aussichtslos. Erst als Gregor ihr eine letzte Möglichkeit eröffnet, gelingt ihr mit seiner Hilfe die Flucht. Trotz ihrer prekären Lage fragt sie sich immer wieder, was ihr die Flucht wert ist. So äußert sie gegenüber Gregor, der den Fischer Knudsen mit Gewalt in die Rolle des Fluchthelfers zwingen will: „[I]ch kann dem Mann nicht sein Boot wegnehmen. So geht es nicht, wie Sie es sich gedacht haben.“ Letztlich entscheidet sich Judith aber doch zur Flucht. Von Knudsen mit der Figur ins schwedische Skillinge gebracht, scheint sie zum Ende des Romans in der Freiheit angekommen zu sein. Allerdings unterscheidet sich diese Freiheit grundlegend von der Helanders. Während Helander das Gefühl der Freiheit erlebt, sind es bei Judith die äußeren Umstände, die sie frei erscheinen lassen.

 

 

 

Primärliteratur:

Andersch, Alfred: Sansibar oder der letzte Grund, Zürich: Diogenes, 2006.

 

Sekundärliteratur zu diesem Thema:

Demetz, Peter: Alfred Andersch - Sansibar oder der letzte Grund, in: Wehdeking, Volker (Hrsg.): Zu Alfred Andersch, Stuttgart: Klett, 1983.

Egyptien, Jürgen: Alfred Andersch, Sansibar oder der letzte Grund, Braunschweig: Schroedel 2012.