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Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910)

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** R.M. Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910)
** In: Rilke, R.M.: Sämtliche Werke. Band 6. Hg. von E. Zinn.
** Frankfurt a.M. 1966, 707-946.
**
** Bearbeitung:
** Gescannt: Thomas Gloning 7/96
** Ein Korrekturdurchgang: Thomas Gloning 7/96; 8/96; 12-02-2006.
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** Einrichtung:
** seiten- und zeilengetreu nach SW
** Seitenzahlen in doppelten Spitzklammern, z.B. <<844>>
** Trennung über die Zeile aufgehoben und Gesamtwortform in die untere Zeile verschoben.
** oe-Ligatur (1 mal) umgeschrieben als oe; in eckigen Klammern dahinter
** das Wort mit Sonderzeichenkode: [Merc<oelig>ur]
** Großes A mit Circonflex kodiert als: A:^
** 1 Druckfehler korrigiert, das fehlerhafte Wort dahinter
** in eckigen Klammern; Gedankenstrich als "--" wiedergegeben.
** Im Manuskript am Rand: <amRand> ... </amRand>
** <fnot></fnot> <fn>xx</fn> für Fußnote und FN-Wörter
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<<707>>

Die Aufzeichnungen
des Malte Laurids Brigge

<<709>>

11

. September, rue Toullier.
So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich
würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen.
Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen
Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die
Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den
Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob
sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang,
nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen,
ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter?
Ich suchte auf meinem Plan: Maison d'Accouchement.
Gut. Man wird sie entbinden - man kann das. Weiter,
rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel.
Der Plan gab an Val-de-grâce, Hôpital militaire.
Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es
schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu
riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach
Jodoform, nach dem Fett von pommes frites, nach Angst.
Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein
eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan
nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich
leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren
die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer.

Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen:
es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag
auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht
weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete
Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die
Hauptsache war, daß man lebte. Das war die
Hauptsache.

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Dass ich es nicht lassen kann, bei offenem Fenster zu
schlafen. Elektrische Bahnen rasen läutend durch meine
Stube. Automobile gehen über mich hin. Eine Tür
fällt zu. Irgendwo klirrt eine Scheibe herunter, ich höre
ihre großen Scherben lachen, die kleinen Splitter
kichern. Dann plötzlich dumpfer, eingeschlossener
Lärm von der anderen Seite, innen im Hause. Jemand
steigt die Treppe. Kommt, kommt unaufhörlich. Ist da,
ist lange da, geht vorbei. Und wieder die Straße. Ein
Mädchen kreischt: Ah tais-toi, je ne veux plus. Die
Elektrische rennt ganz erregt heran, darüber fort, fort
über alles. Jemand ruft. Leute laufen, überholen sich.
Ein Hund bellt. Was für eine Erleichterung: ein Hund.
Gegen Morgen kräht sogar ein Hahn, und das ist Wohltun
ohne Grenzen. Dann schlafe ich plötzlich ein.

Das sind die Geräusche. Aber es giebt hier etwas, was
furchtbarer ist: die Stille. Ich glaube, bei großen Bränden
tritt manchmal so ein Augenblick äußerster Spannung
ein, die Wasserstrahlen fallen ab, die Feuerwehrleute
klettern nicht mehr, niemand rührt sich. Lautlos
schiebt sich ein schwarzes Gesimse vor oben, und eine
hohe Mauer, hinter welcher das Feuer auffährt, neigt
sich, lautlos. Alles steht und wartet mit hochgeschobenen
Schultern, die Gesichter über die Augen zusammengezogen,
auf den schrecklichen Schlag. So ist hier die Stille.

Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht
alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle
stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein
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Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt
dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht.

Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist es mir
aufgefallen, daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei
Wochen anderswo, auf dem Lande zum Beispiel, das
konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich will
auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem
sagen, daß ich mich verändere? Wenn ich mich
verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war,
und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, daß ich
keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute,
die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben.

Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange
an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit
ausnutzen.

Daß es mir zum Beispiel niemals zum Bewußtsein gekommen
ist, wieviel Gesichter es giebt. Es giebt eine Menge
Menschen, aber noch viel mehr Gesichter, denn jeder
hat mehrere. Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang,
natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es
bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe,
die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame,
einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht
einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und
wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es
sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie
mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie
tragen. Aber es kommt auch vor, daß ihre Hunde damit
ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht ist Gesicht.

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Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter
auf, eins nach dem andern, und tragen sie ab. Es
scheint ihnen zuerst, sie hätten für immer, aber sie
sind kaum vierzig; da ist schon das letzte. Das hat
natürlich seine Tragik. Sie sind nicht gewohnt, Gesichter
zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen durch, hat
Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier, und da
kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das
Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.

Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen,
vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke
rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen,
sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute
nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt
es ihnen doch ein.

Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und
zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte
mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh.
Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu
schnell, zu heftig, so daß das Gesicht in den zwei Händen
blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle
Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung,
bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was
sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht
von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch
viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.

Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas
tun, wenn man sie einmal hat. Es wäre sehr häßlich,
hier krank zu werden, und fiele es jemandem ein, mich
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ins Hôtel-Dieu zu schaffen, so würde ich dort gewiß
sterben. Dieses Hôtel ist ein angenehmes Hôtel, ungeheuer
besucht. Man kann kaum die Fassade der Kathedrale
von Paris betrachten ohne Gefahr, von einem der
vielen Wagen, die so schnell wie möglich über den freien
Plan dort hinein müssen, überfahren zu werden. Das
sind kleine Omnibusse, die fortwährend läuten, und
selbst der Herzog von Sagan müßte sein Gespann halten
lassen, wenn so ein kleiner Sterbender es sich in den
Kopf gesetzt hat, geradenwegs in Gottes Hôtel zu wollen.
Sterbende sind starrköpfig, und ganz Paris stockt,
wenn Madame Legrand, brocanteuse aus der rue des
Martyrs, nach einem gewissen Platz der Cité gefahren
kommt. Es ist zu bemerken, daß diese verteufelten
kleinen Wagen ungemein anregende Milchglasfenster
haben, hinter denen man sich die herrlichsten Agonien
vorstellen kann; dafür genügt die Phantasie einer
Concierge. Hat man noch mehr Einbildungskraft und
schlägt sie nach anderen Richtungen hin, so sind die
Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe
auch offene Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken
mit aufgeklapptem Verdeck, die nach der üblichen
Taxe fuhren: Zwei Francs für die Sterbestunde.

Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu
König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen
Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich
fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne
Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch
nicht an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch
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etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? Niemand.
Sogar die Reichen, die es sich doch leisten könnten,
ausführlich zu sterben, fangen an, nachlässig und
gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen eigenen
Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch,
und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben.
Gott, das ist alles da. Man kommt, man findet ein Leben,
fertig, man hat es nur anzuziehen. Man will gehen
oder man ist dazu gezwungen: nun, keine Anstrengung:
Voilà votre mort, monsieur. Man stirbt, wie es
gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit
gehört, die man hat (denn seit man alle Krankheiten
kennt, weiß man auch, daß die verschiedenen
letalen Abschlüsse zu den Krankheiten gehören und
nicht zu den Menschen; und der Kranke hat sozusagen
nichts zu tun).

In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel
Dankbarkeit gegen Ärzte und Schwestern gestorben wird,
stirbt man einen von den an der Anstalt angestellten
Toden; das wird gerne gesehen. Wenn man aber zu
Hause stirbt, ist es natürlich, jenen höflichen Tod der
guten Kreise zu wählen, mit dem gleichsam das
Begräbnis erster Klasse schon anfängt und die ganze
Folge seiner wunderschönen Gebräuche. Da stehen dann
die Armen vor so einem Haus und sehen sich satt. Ihr
Tod ist natürlich banal, ohne alle Umstände. Sie sind
froh, wenn sie einen finden, der ungefähr paßt. Zu
weit darf er sein: man wächst immer noch ein bißchen.
Nur wenn er nicht zugeht über der Brust oder würgt,
dann hat es seine Not.

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Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr
ist, dann glaube ich, das muß früher anders gewesen
sein. Früher wußte man (oder vielleicht man ahnte es),
daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den
Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die
Erwachsenen einen großen. Die Frauen hatten ihn im
Schooß und die Männer in der Brust. Den hatte man,
und das gab einem eine eigentümliche Würde und
einen stillen Stolz.

Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn
Brigge, sah man es an, daß er einen Tod in sich trug.
Und was war das für einer: zwei Monate lang und so
laut, daß man ihn hörte bis aufs Vorwerk hinaus.

Das lange, alte Herrenhaus war zu klein für diesen Tod,
es schien, als müßte man Flügel anbauen, denn der
Körper des Kammerherrn wurde immer größer, und
er wollte fortwährend aus einem Raum in den anderen
getragen sein und geriet in fürchterlichen Zorn, wenn
der Tag noch nicht zu Ende war und es gab kein Zimmer
mehr, in dem er nicht schon gelegen hatte. Dann
ging es mit dem ganzen Zuge von Dienern, Jungfern
und Hunden, die er immer um sich hatte, die Treppe
hinauf und, unter Vorantritt des Haushofmeisters, in
seiner hochseligen Mutter Sterbezimmer, das ganz in
dem Zustande, in dem sie es vor dreiundzwanzig Jahren
verlassen hatte, erhalten worden war und das
sonst nie jemand betreten durfte. Jetzt brach die ganze
Meute dort ein. Die Vorhänge wurden zurückgezogen,
und das robuste Licht eines Sommernachmittags untersuchte
alle die scheuen, erschrockenen Gegenstände und
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drehte sich ungeschickt um in den aufgerissenen Spiegeln.
Und die Leute machten es ebenso. Es gab da Zofen,
die vor Neugierde nicht wußten, wo ihre Hände sich
gerade aufhielten, junge Bediente, die alles anglotzten,
und ältere Dienstleute, die herumgingen und sich zu
erinnern suchten, was man ihnen von diesem verschlossenen
Zimmer, in dem sie sich nun glücklich befanden,
alles erzählt hatte.

Vor allem aber schien den Hunden der Aufenthalt in
einem Raum, wo alle Dinge rochen, ungemein anregend.
Die großen, schmalen russischen Windhunde liefen
beschäftigt hinter den Lehnstühlen hin und her,
durchquerten in langem Tanzschritt mit wiegender
Bewegung das Gemach, hoben sich wie Wappenhunde auf
und schauten, die schmalen Pfoten auf das weißgoldene
Fensterbrett gestützt, mit spitzem, gespanntem
Gesicht und zurückgezogener Stirn nach rechts und
nach links in den Hof. Kleine, handschuhgelbe Dachshunde
saßen, mit Gesichtern, als wäre alles ganz in der
Ordnung, in dem breiten, seidenen Polstersessel am
Fenster, und ein stichelhaariger, mürrisch aussehender
Hühnerhund rieb seinen Rücken an der Kante eines
goldbeinigen Tisches, auf dessen gemalter Platte die
Sevrestassen zitterten.

Ja, es war für diese geistesabwesenden, verschlafenen
Dinge eine schreckliche Zeit. Es passierte, daß aus Büchern,
die irgend eine hastige Hand ungeschickt geöffnet
hatte, Rosenblätter heraustaumelten, die zertreten
wurden; kleine, schwächliche Gegenstände wurden
ergriffen und, nachdem sie sofort zerbrochen waren,
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schnell wieder hingelegt, manches Verbogene auch
unter Vorhänge gesteckt oder gar hinter das goldene
Netz des Kamingitters geworfen. Und von Zeit zu Zeit
fiel etwas, fiel verhüllt auf Teppich, fiel hell auf das
harte Parkett, aber es zerschlug da und dort, zersprang
scharf oder brach fast lautlos auf, denn diese Dinge,
verwöhnt wie sie waren, vertrugen keinerlei Fall.

Und wäre es jemandem eingefallen zu fragen, was die
Ursache von alledem sei, was über dieses ängstlich
gehütete Zimmer alles Untergangs Fülle herabgerufen
habe, -- so hätte es nur eine Antwort gegeben: der Tod.

Der Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge auf
Ulsgaard. Denn dieser lag, groß über seine dunkelblaue
Uniform hinausquellend, mitten auf dem Fußboden und
rührte sich nicht. In seinem großen, fremden, niemandem
mehr bekannten Gesicht waren die Augen zugefallen:
er sah nicht, was geschah. Man hatte zuerst versucht,
ihn auf das Bett zu legen, aber er hatte sich dagegen
gewehrt, denn er haßte Betten seit jenen ersten Nächten,
in denen seine Krankheit gewachsen war. Auch hatte
sich das Bett da oben als zu klein erwiesen, und da war
nichts anderes übrig geblieben, als ihn so auf den Teppich
zu legen; denn hinunter hatte er nicht gewollt.

Da lag er nun, und man konnte denken, daß er gestorben
sei. Die Hunde hatten sich, da es langsam zu dämmern
begann, einer nach dem anderen durch die Türspalte
gezogen, nur der Harthaarige mit dem mürrischen
Gesicht saß bei seinem Herrn, und eine von seinen breiten,
zottigen Vorderpfoten lag auf Christoph Detlevs großer,
grauer Hand. Auch von der Dienerschaft standen jetzt
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die meisten draußen in dem weißen Gang, der heller
war als das Zimmer; die aber, welche noch drinnen
geblieben waren, sahen manchmal heimlich nach dem
großen, dunkelnden Haufen in der Mitte, und sie wünschten,
daß das nichts mehr wäre als ein großer Anzug über
einem verdorbenen Ding.

Aber es war noch etwas. Es war eine Stimme, die Stimme,
die noch vor sieben Wochen niemand gekannt hatte:
denn es war nicht die Stimme des Kammerherrn. Nicht
Christoph Detlev war es, welchem diese Stimme
gehörte, es war Christoph Detlevs Tod.

Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen
Tagen auf Ulsgaard und redete mit allen und verlangte.
Verlangte, getragen zu werden, verlangte das blaue
Zimmer, verlangte den kleinen Salon, verlangte den Saal.
Verlangte die Hunde, verlangte, daß man lache, spreche,
spiele und still sei und alles zugleich. Verlangte Freunde
zu sehen, Frauen und Verstorbene, und verlangte selber
zu sterben: verlangte. Verlangte und schrie.

Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den
übermüden Dienstleuten, welche nicht Wache hatten,
einzuschlafen versuchten, dann schrie Christoph Detlevs
Tod, schrie und stöhnte, brüllte so lange und
anhaltend, daß die Hunde, die zuerst mitheulten,
verstummten und nicht wagten sich hinzulegen und, auf
ihren langen, schlanken, zitternden Beinen stehend,
sich fürchteten. Und wenn sie es durch die weite,
silberne, dänische Sommernacht im Dorfe hörten, daß
er brüllte, so standen sie auf wie beim Gewitter, kleideten
sich an und blieben ohne ein Wort um die Lampe
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sitzen, bis es vorüber war. Und die Frauen, welche
nahe vor dem Niederkommen waren, wurden in die
entlegensten Stuben gelegt und in die dichtesten
Bettverschläge; aber sie hörten es, sie hörten es, als ob es in
ihrem eigenen Leibe wäre, und sie flehten, auch aufstehen
zu dürfen, und kamen, weiß und weit, und
setzten sich zu den andern mit ihren verwischten
Gesichtern. Und die Kühe, welche kalbten in dieser Zeit,
waren hülflos und verschlossen, und einer riß man die
tote Frucht mit allen Eingeweiden aus dem Leibe, als
sie gar nicht kommen wollte. Und alle taten ihr Tagwerk
schlecht und vergaßen das Heu hereinzubringen,
weil sie sich bei Tage ängstigten vor der Nacht und
weil sie vom vielen Wachsein und vom erschreckten
Aufstehen so ermattet waren, daß sie sich auf nichts
besinnen konnten. Und wenn sie am Sonntag in die
weiße, friedliche Kirche gingen, so beteten sie, es möge
keinen Herrn mehr auf Ulsgaard geben: denn dieser
war ein schrecklicher Herr. Und was sie alle dachten
und beteten, das sagte der Pfarrer laut von der Kanzel
herab, denn auch er hatte keine Nächte mehr und
konnte Gott nicht begreifen. Und die Glocke sagte es,
die einen furchtbaren Rivalen bekommen hatte, der
die ganze Nacht dröhnte und gegen den sie, selbst wenn
sie aus allem Metall zu läuten begann, nichts vermochte.
Ja, alle sagten es, und es gab einen unter den jungen
Leuten, der geträumt hatte, er wäre ins Schloß
gegangen und hätte den gnädigen Herrn erschlagen
mit seiner Mistforke, und so aufgebracht war man, so
zu Ende, so überreizt, daß alle zuhörten, als er seinen
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Traum erzählte, und ihn, ganz ohne es zu wissen,
daraufhin ansahen, ob er solcher Tat wohl gewachsen sei.
So fühlte und sprach man in der ganzen Gegend, in der
man den Kammerherrn noch vor einigen Wochen
geliebt und bedauert hatte. Aber obwohl man so sprach,
veränderte sich nichts. Christoph Detlevs Tod, der auf
Ulsgaard wohnte, ließ sich nicht drängen. Er war für
zehn Wochen gekommen, und die blieb er. Und während
dieser Zeit war er mehr Herr, als Christoph Detlev
Brigge es je gewesen war, er war wie ein König, den
man den Schrecklichen nennt, später und immer.

Das war nicht der Tod irgendeines Wassersüchtigen, das
war der böse, fürstliche Tod, den der Kammerherr sein
ganzes Leben lang in sich getragen und aus sich genährt
hatte. Alles Übermaß an Stolz, Willen und Herrenkraft,
das er selbst in seinen ruhigen Tagen nicht hatte
verbrauchen können, war in seinen Tod eingegangen, in den
Tod, der nun auf Ulsgaard saß und vergeudete.

Wie hätte der Kammerherr Brigge den angesehen, der
von ihm verlangt hätte, er solle einen anderen Tod
sterben als diesen. Er starb seinen schweren Tod.

Und wenn ich an die andern denke, die ich gesehen
oder von denen ich gehört habe: es ist immer dasselbe.
Sie alle haben einen eigenen Tod gehabt. Diese
Männer, die ihn in der Rüstung trugen, innen, wie einen
Gefangenen, diese Frauen, die sehr alt und klein
wurden und dann auf einem ungeheueren Bett, wie auf
einer Schaubühne, vor der ganzen Familie, dem
Gesinde und den Hunden diskret und herrschaftlich
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hinübergingen. Ja die Kinder, sogar die ganz kleinen,
hatten nicht irgendeinen Kindertod, sie nahmen sich
zusammen und starben das, was sie schon waren, und das,
was sie geworden wären.

Und was gab das den Frauen für eine wehmütige Schönheit,
wenn sie schwanger waren und standen, und in
ihrem großen Leib, auf welchem die schmalen Hände
unwillkürlich liegen blieben, waren zwei Früchte: ein
Kind und ein Tod. Kam das dichte, beinah nahrhafte
Lächeln in ihrem ganz ausgeräumten Gesicht nicht
davon her, daß sie manchmal meinten, es wüchsen beide?

Ich habe etwas getan gegen die Furcht. Ich habe die
ganze Nacht gesessen und geschrieben, und jetzt bin
ich so gut müde wie nach einem weiten Weg über die
Felder von Ulsgaard. Es ist doch schwer zu denken,
daß alles das nicht mehr ist, daß fremde Leute wohnen
in dem alten langen Herrenhaus. Es kann sein, daß in
dem weißen Zimmer oben im Giebel jetzt die Mägde
schlafen, ihren schweren, feuchten Schlaf schlafen
von Abend bis Morgen.

Und man hat niemand und nichts und fährt in der
Welt herum mit einem Koffer und mit einer Bücherkiste
und eigentlich ohne Neugierde. Was für ein Leben
ist das eigentlich: ohne Haus, ohne ererbte Dinge,
ohne Hunde. Hätte man doch wenigstens seine
Erinnerungen. Aber wer hat die? Wäre die Kindheit da,
sie ist wie vergraben. Vielleicht muß man alt sein, um
an das alles heranreichen zu können. Ich denke es mir
gut, alt zu sein.

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Heute war ein schöner, herbstlicher Morgen. Ich ging
durch die Tuilerien. Alles, was gegen Osten lag, vor der
Sonne, blendete. Das Angeschienene war vom Nebel
verhangen wie von einem lichtgrauen Vorhang. Grau im
Grauen sonnten sich die Statuen in den noch nicht
enthüllten Gärten. Einzelne Blumen in den langen Beeten
standen auf und sagten: Rot, mit einer erschrockenen
Stimme. Dann kam ein sehr großer, schlanker Mann
um die Ecke, von den Champs-Elysées her; er trug eine
Krücke, aber nicht mehr unter die Schulter geschoben, -
er hielt sie vor sich her, leicht, und von Zeit zu Zeit
stellte er sie fest und laut auf wie einen Heroldstab. Er
konnte ein Lächeln der Freude nicht unterdrücken und
lächelte, an allem vorbei, der Sonne, den Bäumen zu.
Sein Schritt war schüchtern wie der eines Kindes, aber
ungewöhnlich leicht, voll von Erinnerung an früheres
Gehen.

Was so ein kleiner Mond alles vermag. Da sind Tage,
wo alles um einen licht ist, leicht, kaum angegeben in
der hellen Luft und doch deutlich. Das Nächste schon
hat Töne der Ferne, ist weggenommen und nur gezeigt,
nicht hergereicht; und was Beziehung zur Weite hat:
der Fluß, die Brücken, die langen Straßen und die Plätze,
die sich verschwenden, das hat diese Weite eingenommen
hinter sich, ist auf ihr gemalt wie auf Seide. Es ist
nicht zu sagen, was dann ein lichtgrüner Wagen sein
kann auf dem Pont-neuf oder irgendein Rot, das nicht
zu halten ist, oder auch nur ein Plakat an der
Feuermauer einer perlgrauen Häusergruppe. Alles ist
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vereinfacht, auf einige richtige, helle plans gebracht wie das
Gesicht in einem Manetschen Bildnis. Und nichts ist
gering und überflüssig. Die Bouquinisten am Quai tun
ihre Kästen auf, und das frische oder vernutzte Gelb
der Bücher, das violette Braun der Bände, das größere
Grün einer Mappe: alles stimmt, gilt, nimmt teil und
bildet eine Vollzähligkeit, in der nichts fehlt.

Unten ist folgende Zusammenstellung: ein kleiner
Handwagen, von einer Frau geschoben; vorn darauf
ein Leierkasten, der Länge nach. Dahinter quer ein
Kinderkorb, in dem ein ganz Kleines auf festen Beinen
steht, vergnügt in seiner Haube, und sich nicht mag
setzen lassen. Von Zeit zu Zeit dreht die Frau am
Orgelkasten. Das ganz Kleine stellt sich dann sofort
stampfend in seinem Korbe wieder auf, und ein kleines
Mädchen in einem grünen Sonntagskleid tanzt und
schlägt Tamburin zu den Fenstern hinauf.

Ich glaube, ich müßte anfangen, etwas zu arbeiten,
jetzt, da ich sehen lerne. Ich bin achtundzwanzig, und
es ist so gut wie nichts geschehen. Wiederholen wir:
ich habe eine Studie über Carpaccio geschrieben, die
schlecht ist, ein Drama, das >Ehe< heißt und etwas
Falsches mit zweideutigen Mitteln beweisen will, und
Verse. Ach, aber mit Versen ist so wenig getan, wenn
man sie früh schreibt. Man sollte warten damit und
Sinn und Süßigkeit sammeln ein ganzes Leben lang
und ein langes womöglich, und dann, ganz zum Schluß,
vielleicht könnte man dann zehn Zeilen schreiben, die
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gut sind. Denn Verse sind nicht, wie die Leute meinen,
Gefühle (die hat man früh genug), - es sind Erfahrungen.
Um eines Verses willen muß man viele Städte
sehen, Menschen und Dinge, man muß die Tiere kennen,
man muß fühlen, wie die Vögel fliegen, und die
Gebärde wissen, mit welcher die kleinen Blumen sich
auftun am Morgen. Man muß zurückdenken können
an Wege in unbekannten Gegenden, an unerwartete
Begegnungen und an Abschiede, die man lange kommen
sah, - an Kindheitstage, die noch unaufgeklärt
sind, an die Eltern, die man kränken mußte, wenn sie
einem eine Freude brachten und man begriff sie nicht
(es war eine Freude für einen anderen -), an
Kinderkrankheiten, die so seltsam anheben mit so vielen
tiefen und schweren Verwandlungen, an Tage in stillen,
verhaltenen Stuben und an Morgen am Meer, an das
Meer überhaupt, an Meere, an Reisenächte, die hoch
dahinrauschten und mit allen Sternen flogen, - und es
ist noch nicht genug, wenn man an alles das denken
darf. Man muß Erinnerungen haben an viele Liebesnächte,
von denen keine der andern glich, an Schreie
von Kreißenden und an leichte, weiße, schlafende
Wöchnerinnen, die sich schließen. Aber auch bei
Sterbenden muß man gewesen sein, muß bei Toten
gesessen haben in der Stube mit dem offenen Fenster und
den stoßweisen Geräuschen. Und es genügt auch noch
nicht, daß man Erinnerungen hat. Man muß sie
vergessen können, wenn es viele sind, und man muß die
große Geduld haben, zu warten, daß sie wiederkommen.
Denn die Erinnerungen selbst sind es noch nicht.
<<725>>
Erst wenn sie Blut werden in uns, Blick und Gebärde,
namenlos und nicht mehr zu unterscheiden von uns
selbst, erst dann kann es geschehen, daß in einer sehr
seltenen Stunde das erste Wort eines Verses aufsteht in
ihrer Mitte und aus ihnen ausgeht.

Alle meine Verse aber sind anders entstanden, also
sind es keine. -- Und als ich mein Drama schrieb, wie
irrte ich da. War ich ein Nachahmer und Narr, daß ich
eines Dritten bedurfte, um von dem Schicksal zweier
Menschen zu erzählen, die es einander schwer machten?
Wie leicht ich in die Falle fiel. Und ich hätte doch
wissen müssen, daß dieser Dritte, der durch alle Leben
und Literaturen geht, dieses Gespenst eines Dritten,
der nie gewesen ist, keine Bedeutung hat, daß man ihn
leugnen muß. Er gehört zu den Vorwänden der Natur,
welche immer bemüht ist, von ihren tiefsten Geheimnissen
die Aufmerksamkeit der Menschen abzulenken.
Er ist der Wandschirm, hinter dem ein Drama sich
abspielt. Er ist der Lärm am Eingang zu der stimmlosen
Stille eines wirklichen Konfliktes. Man möchte meinen,
es wäre allen bisher zu schwer gewesen, von den Zweien
zu reden, um die es sich handelt; der Dritte, gerade
weil er so unwirklich ist, ist das Leichte der Aufgabe, ihn
konnten sie alle. Gleich am Anfang ihrer Dramen merkt
man die Ungeduld, zu dem Dritten zu kommen, sie
können ihn kaum erwarten. Sowie er da ist, ist alles
gut. Aber wie langweilig, wenn er sich verspätet, es
kann rein nichts geschehen ohne ihn, alles steht, stockt,
wartet. Ja und wie, wenn es bei diesem Stauen und
Anstehn bliebe? Wie, Herr Dramatiker, und du,
<<726>>
Publikum, welches das Leben kennt, wie, wenn er
verschollen wäre, dieser beliebte Lebemann oder dieser
anmaßende junge Mensch, der in allen Ehen schließt
wie ein Nachschlüssel? Wie, wenn ihn, zum Beispiel,
der Teufel geholt hätte? Nehmen wirs an. Man merkt
auf einmal die künstliche Leere der Theater, sie werden
vermauert wie gefährliche Löcher, nur die Motten aus
den Logenrändern taumeln durch den haltlosen Hohlraum.
Die Dramatiker genießen nicht mehr ihre Villenviertel.
Alle öffentlichen Aufpassereien suchen für sie in
entlegenen Weltteilen nach dem Unersetzlichen, der die
Handlung selbst war.

Und dabei leben sie unter den Menschen, nicht diese
'Dritten', aber die Zwei, von denen so unglaublich
viel zu sagen wäre, von denen noch nie etwas gesagt
worden ist, obwohl sie leiden und handeln und sich
nicht zu helfen wissen.

Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube,
ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist
und von dem niemand weiß. Ich sitze hier und bin
nichts. Und dennoch, dieses Nichts fängt an zu denken
und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen Pariser
Nachmittag diesen Gedanken:

Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches
und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat?
Ist es möglich, daß man Jahrtausende Zeit gehabt hat,
zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und
daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine
Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt und einen
Apfel?

<<727>>

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten,
trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an
der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich,
daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin
etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen
Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht wie die
Salonmöbel in den Sommerferien?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden
worden ist? Ist es möglich, daß die Vergangenheit
falsch ist, weil man immer von ihren Massen
gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf
vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen
zu sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war
und starb?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß man glaubte, nachholen zu müssen,
was sich ereignet hat, ehe man geboren war? Ist es
möglich, daß man jeden einzelnen erinnern müßte, er
sei ja aus allen Früheren entstanden, wüßte es also und
soUte sich nichts einreden lassen von den anderen, die
anderes wüßten?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß alle diese Menschen eine Vergangenheit,
die nie gewesen ist, ganz genau kennen? Ist
es möglich, daß alle Wirklichkeiten nichts sind für sie;
daß ihr Leben abläuft, mit nichts verknüpft, wie eine
Uhr in einem leeren Zimmer -- ?

Ja, es ist möglich.

<<728>>

Ist es möglich, daß man von den Mädchen nichts weiß,
die doch leben? Ist es möglich, daß man 'die Frauen'
sagt, 'die Kinder', 'die Knaben' und nicht ahnt (bei
aller Bildung nicht ahnt), daß diese Worte längst
keine Mehrzahl mehr haben, sondern nur unzählige
Einzahlen?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche 'Gott' sagen
und meinen, das wäre etwas Gemeinsames? -- Und
sieh nur zwei Schulkinder: es kauft sich der eine ein
Messer, und sein Nachbar kauft sich ein ganz gleiches
am selben Tag. Und sie zeigen einander nach einer
Woche die beiden Messer, und es ergiebt sich, daß sie
sich nur noch ganz entfernt ähnlich sehen, -- so
verschieden haben sie sich in verschiedenen Händen
entwickelt. (Ja, sagt des einen Mutter dazu: wenn ihr auch
gleich immer alles abnutzen müßt. --) Ach so: Ist es
möglich, zu glauben, man könne einen Gott haben,
ohne ihn zu gebrauchen?

Ja, es ist möglich.

Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen
Schein von Möglichkeit hat, -- dann muß ja, um alles in
der Welt, etwas geschehen. Der Nächstbeste, der,
welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat,
muß anfangen, etwas von dem Versäumten zu tun;
wenn es auch nur irgend einer ist, durchaus nicht der
Geeignetste: es ist eben kein anderer da. Dieser junge,
belanglose Ausländer, Brigge, wird sich fünf Treppen
hoch hinsetzen müssen und schreiben, Tag und Nacht.
ja [!Ed] er wird schreiben müssen, das wird das Ende sein:

<<729>>

Zwölf Jahre oder höchstens dreizehn muß ich damals
gewesen sein. Mein Vater hatte mich nach Urnekloster
mitgenommen. Ich weiß nicht, was ihn veranlaßte, seinen
Schwiegervater aufzusuchen. Die beiden Männer
hatten sich jahrelang, seit dem Tode meiner Mutter,
nicht gesehen, und mein Vater selbst war noch nie in
dem alten Schlosse gewesen, in welches der Graf Brahe
sich erst spät zurückgezogen hatte. Ich habe das
merkwürdige Haus später nie wiedergesehen, das, als mein
Großvater starb, in fremde Hände kam. So wie ich es in
meiner kindlich gearbeiteten Erinnerung wiederfinde,
ist es kein Gebäude; es ist ganz aufgeteilt in mir; da ein
Raum, dort ein Raum und hier ein Stück Gang, das
diese beiden Räume nicht verbindet, sondern für sich,
als Fragment, aufbewahrt ist. In dieser Weise ist alles
in mir verstreut, - die Zimmer, die Treppen, die mit
so großer Umständlichkeit sich niederließen, und
andere enge, rundgebaute Stiegen, in deren Dunkel man
ging wie das Blut in den Adern; die Turmzimmer, die
hoch aufgehängten Balkone, die unerwarteten Altane,
auf die man von einer kleinen Tür hinausgedrängt
wurde: - alles das ist noch in mir und wird nie
aufhören, in mir zu sein. Es ist, als wäre das Bild dieses
Hauses aus unendlicher Höhe in mich hineingestürzt
und auf meinem Grunde zerschlagen.

Ganz erhalten ist in meinem Herzen, so scheint es mir,
nur jener Saal, in dem wir uns zum Mittagessen zu
versammeln pflegten, jeden Abend um sieben Uhr. Ich
habe diesen Raum niemals bei Tage gesehen, ich erinnere
mich nicht einmal, ob er Fenster hatte und wohin
<<730>>
sie aussahen; jedesmal, so oft die Familie eintrat, brannten
die Kerzen in den schweren Armleuchtern, und
man vergaß in einigen Minuten die Tageszeit und alles,
was man draußen gesehen hatte. Dieser hohe, wie ich
vermute, gewölbte Raum war stärker als alles; er saugte
mit seiner dunkelnden Höhe, mit seinen niemals ganz
aufgeklärten Ecken alle Bilder aus einem heraus, ohne
einem einen bestimmten Ersatz dafür zu geben. Man
saß da wie aufgelöst; völlig ohne Willen, ohne Besinnung,
ohne Lust, ohne Abwehr. Man war wie eine leere
Stelle. Ich erinnere mich, daß dieser vernichtende
Zustand mir zuerst fast Übelkeit verursachte, eine Art
Seekrankheit, die ich nur dadurch überwand, daß ich
mein Bein ausstreckte, bis ich mit dem Fuß das Knie
meines Vaters berührte, der mir gegenübersaß. Erst
später fiel es mir auf, daß er dieses merkwürdige
Benehmen zu begreifen oder doch zu dulden schien,
obwohl zwischen uns ein fast kühles Verhältnis bestand,
aus dem ein solches Gebaren nicht erklärlich war. Es
war indessen jene leise Berührung, welche mir die
Kraft gab, die langen Mahlzeiten auszuhalten. Und
nach einigen Wochen krampfhaften Ertragens hatte
ich, mit der fast unbegrenzten Anpassung des Kindes,
mich so sehr an das Unheimliche jener Zusammenkünfte
gewöhnt, daß es mich keine Anstrengung mehr kostete,
zwei Stunden bei Tische zu sitzen; jetzt vergingen sie
sogar verhältnismäßig schnell, weil ich mich damit
beschäftigte, die Anwesenden zu beobachten.

Mein Großvater nannte es die Familie, und ich hörte
auch die andern diese Bezeichnung gebrauchen, die
<<731>>
ganz willkürlich war. Denn obwohl diese vier Menschen
miteinander in entfernten verwandtschaftlichen
Beziehungen standen, so gehörten sie doch in keiner
Weise zusammen. Der Oheim, welcher neben mir saß,
war ein alter Mann, dessen hartes und verbranntes
Gesicht einige schwarze Flecke zeigte, wie ich erfuhr, die
Folgen einer explodierten Pulverladung; mürrisch und
malkontent wie er war, hatte er als Major seinen
Abschied genommen, und nun machte er in einem mir
unbekannten Raum des Schlosses alchymistische
Versuche, war auch, wie ich die Diener sagen hörte, mit
einem Stockhause in Verbindung, von wo man ihm
ein- oder zweimal jährlich Leichen zusandte, mit denen
er sich Tage und Nächte einschloß und die er zerschnitt
und auf eine geheimnisvolle Art zubereitete, so daß sie
der Verwesung widerstanden. Ihm gegenüber war der
Platz des Fräuleins Mathilde Brahe. Es war das eine
Person von unbestimmtem Alter, eine entfernte Cousine
meiner Mutter, von der nichts bekannt war, als daß sie
eine sehr rege Korrespondenz mit einem österreichischen
Spiritisten unterhielt, der sich Baron Nolde nannte und
dem sie vollkommen ergeben war, so daß sie nicht das
geringste unternahm, ohne vorher seine Zustimmung
oder vielmehr etwas wie seinen Segen einzuholen. Sie
war zu jener Zeit außerordentlich stark, von einer weichen,
trägen Fülle, die gleichsam achtlos in ihre losen,
hellen Kleider hineingegossen war; ihre Bewegungen
waren müde und unbestimmt, und ihre Augen flossen
beständig über. Und trotzdem war etwas in ihr, das
mich an meine zarte und schlanke Mutter erinnerte.
<<732>>
Ich fand, je länger ich sie betrachtete, alle die feinen
und leisen Züge in ihrem Gesichte, an die ich mich seit
meiner Mutter Tode nie mehr recht hatte erinnern
können; nun erst, seit ich Mathilde Brahe täglich sah,
wußte ich wieder, wie die Verstorbene ausgesehen hatte;
ja, ich wußte es vielleicht zum erstenmal. Nun erst
setzte sich aus hundert und hundert Einzelheiten ein
Bild der Toten in mir zusammen, jenes Bild, das mich
überall begleitet. Später ist es mir klar geworden, daß
in dem Gesicht des Fräuleins Brahe wirklich alle
Einzelheiten vorhanden waren, die die Züge meiner
Mutter bestimmten, - sie waren nur, als ob ein fremdes
Gesicht sich dazwischen geschoben hätte,
auseinandergedrängt, verbogen und nicht mehr in Verbindung
miteinander.

Neben dieser Dame saß der kleine Sohn einer Cousine,
ein Knabe, etwa gleichaltrig mit mir, aber kleiner und
schwächlicher. Aus einer gefältelten Krause stieg sein
dünner, blasser Hals und verschwand unter einem langen
Kinn. Seine Lippen waren schmal und fest geschlossen,
seine Nasenflügel zitterten leise, und von seinen
schönen dunkelbraunen Augen war nur das eine beweglich.
Es blickte manchmal ruhig und traurig zu mir herüber,
während das andere immer in dieselbe Ecke gerichtet
blieb, als wäre es verkauft und käme nicht mehr
in Betracht.

Am oberen Ende der Tafel stand der ungeheure Lehnsessel
meines Großvaters, den ein Diener, der nichts
anderes zu tun hatte, ihm unterschob und in dem der
Greis nur einen geringen Raum einnahm. Es gab Leute,
<<733>>
die diesen schwerhörigen und herrischen alten Herrn
Exzellenz und Hofmarschall nannten, andere gaben
ihm den Titel General. Und er besaß gewiß auch alle
diese Würden, aber es war so lange her, seit er Ämter
bekleidet hatte, daß diese Benennungen kaum mehr
verständlich waren. Mir schien es überhaupt, als ob an
seiner in gewissen Momenten so scharfen und doch immer
wieder aufgelösten Persönlichkeit kein bestimmter
Name haften könne. Ich konnte mich nie entschließen,
ihn Großvater zu nennen, obwohl er bisweilen
freundlich zu mir war, ja mich sogar zu sich rief, wobei
er meinem Namen eine scherzhafte Betonung zu
geben versuchte. Übrigens zeigte die ganze Familie ein
aus Ehrfurcht und Scheu gemischtes Benehmen dem
Grafen gegenüber, nur der kleine Erik lebte in einer
gewissen Vertraulichkeit mit dem greisen Hausherrn;
sein bewegliches Auge hatte zuzeiten rasche Blicke des
Einverständnisses mit ihm, die ebensorasch von dem
Großvater erwidert wurden; auch konnte man sie
zuweilen in den langen Nachmittagen am Ende der tiefen
Galerie auftauchen sehen und beobachten, wie sie,
Hand in Hand, die dunklen alten Bildnisse entlanggingen,
ohne zu sprechen, offenbar auf eine andere Weise
sich verständigend.

Ich befand mich fast den ganzen Tag im Parke und
draußen in den Buchenwäldern oder auf der Heide;
und es gab zum Glück Hunde auf Urnekloster, die mich
begleiteten; es gab da und dort ein Pächterhaus oder
einen Meierhof, wo ich Milch und Brot und Früchte
bekommen konnte, und ich glaube, daß ich meine
<<734>>
Freiheit ziemlich sorglos genoß, ohne mich, wenigstens in
den folgenden Wochen, von dem Gedanken an die abendlichen
Zusammenkünfte ängstigen zu lassen. Ich sprach
fast mit niemandem, denn es war meine Freude, einsam
zu sein; nur mit den Hunden hatte ich kurze Gespräche
dann und wann: mit ihnen verstand ich mich
ausgezeichnet. Schweigsamkeit war übrigens eine Art
Familieneigenschaft; ich kannte sie von meinem Vater
her, und es wunderte mich nicht, daß während der
Abendtafel fast nichts gesprochen wurde.

In den ersten Tagen nach unserer Ankunft allerdings
benahm sich Mathilde Brahe äußerst gesprächig. Sie
fragte den Vater nach früheren Bekannten in ausländischen
Städten, sie erinnerte sich entlegener Eindrücke,
sie rührte sich selbst bis zu Tränen, indem sie verstorbener
Freundinnen und eines gewissen jungen Mannes
gedachte, von dem sie andeutete, daß er sie geliebt
habe, ohne daß sie seine inständige und hoffnungslose
Neigung hätte erwidern mögen. Mein Vater hörte höflich
zu, neigte dann und wann zustimmend sein Haupt
und antwortete nur das Nötigste. Der Graf, oben am
Tisch, lächelte beständig mit herabgezogenen Lippen,
sein Gesicht erschien größer als sonst, es war, als trüge
er eine Maske. Er ergriff übrigens selbst manchmal das
Wort, wobei seine Stimme sich auf niemanden bezog,
aber, obwohl sie sehr leise war, doch im ganzen Saal
gehört werden konnte; sie hatte etwas von dem
gleichmäßigen unbeteiligten Gang einer Uhr; die Stille um
sie schien eine eigene leere Resonanz zu haben, für jede
Silbe die gleiche.

<<735>>

Graf Brahe hielt es für eine besondere Artigkeit meinem
Vater gegenüber, von dessen verstorbener Gemahlin,
meiner Mutter, zu sprechen. Er nannte sie Gräfin
Sibylle, und alle seine Sätze schlossen, als fragte er nach
ihr. Ja es kam mir, ich weiß nicht weshalb, vor, als
handle es sich um ein ganz junges Mädchen in Weiß,
das jeden Augenblick bei uns eintreten könne. In
demselben Tone hörte ich ihn auch von >unserer kleinen
Anna Sophie< reden. Und als ich eines Tages nach diesem
Fräulein fragte, das dem Großvater besonders lieb
zu sein schien, erfuhr ich, daß er des Großkanzlers
Conrad Reventlow Tochter meinte, weiland Friedrichs
des Vierten Gemahlin zur linken Hand, die seit nahezu
anderthalb hundert Jahren zu Roskilde ruhte. Die Zeitfolgen
spielten durchaus keine Rolle für ihn, der Tod
war ein kleiner Zwischenfall, den er vollkommen ignorierte,
Personen, die er einmal in seine Erinnerung
aufgenommen hatte, existierten, und daran konnte ihr
Absterben nicht das geringste ändern. Mehrere Jahre
später, nach dem Tode des alten Herrn, erzählte man
sich, wie er auch das Zukünftige mit demselben
Eigensinn als gegenwärtig empfand. Er soll einmal einer
gewissen jungen Frau von ihren Söhnen gesprochen haben,
von den Reisen eines dieser Söhne insbesondere, während
die junge Dame, eben im dritten Monate ihrer ersten
Schwangerschaft, fast besinnungslos vor Entsetzen und
Furcht neben dem unablässig redenden Alten saß.

Aber es begann damit, daß ich lachte. Ja ich lachte laut
und ich konnte mich nicht beruhigen. Eines Abends
fehlte nämlich Mathilde Brahe. Der alte, fast ganz
<<736>>
erblindete Bediente hielt, als er zu ihrem Platze kam,
dennoch die Schüssel anbietend hin. Eine Weile verharrte
er so; dann ging er befriedigt und würdig und als ob
alles in Ordnung wäre weiter. Ich hatte diese Szene
beobachtet, und sie kam mir, im Augenblick da ich sie
sah, durchaus nicht komisch vor. Aber eine Weile später,
als ich eben einen Bissen in den Mund steckte,
stieg mir das Gelächter mit solcher Schnelligkeit in den
Kopf, daß ich mich verschluckte und großen Lärm
verursachte. Und trotzdem diese Situation mir selber lästig
war, trotzdem ich mich auf alle mögliche Weise anstrengte,
ernst zu sein, kam das Lachen stoßweise immer
wieder und behielt völlig die Herrschaft über mich.

Mein Vater, gleichsam um mein Benehmen zu verdecken,
fragte mit seiner breiten gedämpften Stimme:
»Ist Mathilde krank?« Der Großvater lächelte in seiner
Art und antwortete dann mit einem Satze, auf den ich,
mit mir selber beschäftigt, nicht achtgab und der etwa
lautete: Nein, sie wünscht nur, Christinen nicht zu
begegnen. Ich sah es also auch nicht als die Wirkung
dieser Worte an, daß mein Nachbar, der braune Major,
sich erhob und, mit einer undeutlich gemurmelten
Entschuldigung und einer Verbeugung gegen den Grafen
hin, den Saal verließ. Es fiel mir nur auf, daß er sich
hinter dem Rücken des Hausherrn in der Tür nochmals
umdrehte und dem kleinen Erik und zu meinem größten
Erstaunen plötzlich auch mir winkende und nickende
Zeichen machte, als forderte er uns auf, ihm zu
folgen. Ich war so überrascht, daß mein Lachen
aufhörte, mich zu bedrängen. Im übrigen schenkte ich
<<737>>
dem Major weiter keine Aufmerksamkeit; er war mir
unangenehm, und ich bemerkte auch, daß der kleine
Erik ihn nicht beachtete.

Die Mahlzeit schleppte sich weiter wie immer, und
man war gerade beim Nachtisch angelangt, als meine
Blicke von einer Bewegung ergriffen und mitgenommen
wurden, die im Hintergrund des Saales, im Halbdunkel,
vor sich ging. Dort war nach und nach eine,
wie ich meinte, stets verschlossene Türe, von welcher
man mir gesagt hatte, daß sie in das Zwischengeschoß
führe, aufgegangen, und jetzt, während ich mit einem
mir ganz neuen Gefühl von Neugier und Bestürzung
hinsah, trat in das Dunkel der Türöffnung eine schlanke,
hellgekleidete Dame und kam langsam auf uns zu. Ich
weiß nicht, ob ich eine Bewegung machte oder einen
Laut von mir gab, der Lärm eines umstürzenden Stuhles
zwang mich, meine Blicke von der merkwürdigen
Gestalt abzureißen, und ich sah meinen Vater, der
aufgesprungen war und nun, totenbleich im Gesicht, mit
herabhängenden geballten Händen, auf die Dame zuging.
Sie bewegte sich indessen, von dieser Szene ganz
unberührt, auf uns zu, Schritt für Schritt, und sie war
schon nicht mehr weit von dem Platze des Grafen, als
dieser sich mit einem Ruck erhob, meinen Vater beim
Arme faßte, ihn an den Tisch zurückzog und festhielt,
während die fremde Dame, langsam und teilnahmlos,
durch den nun freigewordenen Raum vorüberging,
Schritt für Schritt, durch unbeschreibliche Stille, in der
nur irgendwo ein Glas zitternd klirrte, und in einer Tür
der gegenüberliegenden Wand des Saales verschwand.
<<738>>
In diesem Augenblick bemerkte ich, daß es der kleine
Erik war, der mit einer tiefen Verbeugung diese Türe
hinter der Fremden schloß.

Ich war der einzige, der am Tische sitzengeblieben war;
ich hatte mich so schwer gemacht in meinem Sessel,
mir schien, ich könnte allein nie wieder auf. Eine Weile
sah ich, ohne zu sehen. Dann fiel mir mein Vater ein,
und ich gewahrte, daß der Alte ihn noch immer am
Arme festhielt. Das Gesicht meines Vaters war jetzt
zornig, voller Blut, aber der Großvater, dessen Finger
wie eine weiße Kralle meines Vaters Arm umklammerten,
lächelte sein maskenhaftes Lächeln. Ich hörte
dann, wie er etwas sagte, Silbe für Silbe, ohne daß
ich den Sinn seiner Worte verstehen konnte. Dennoch
fielen sie mir tief ins Gehör, denn vor etwa zwei Jahren
fand ich sie eines Tages unten in meiner Erinnerung,
und seither weiß ich sie. Er sagte: »Du bist heftig,
Kammerherr, und unhöflich. Was läßt du die Leute
nicht an ihre Beschäftigungen gehn?« »Wer ist das?«
schrie mein Vater dazwischen. »Jemand, der wohl das
Recht hat, hier zu sein. Keine Fremde. Christine Brahe.« --
Da entstand wieder jene merkwürdig dünne
Stille, und wieder fing das Glas an zu zittern. Dann
aber riß sich mein Vater mit einer Bewegung los und
stürzte aus dem Saale.

Ich hörte ihn die ganze Nacht in seinem Zimmer auf
und ab gehen; denn auch ich konnte nicht schlafen.
Aber plötzlich gegen Morgen erwachte ich doch aus
irgend etwas Schlafähnlichem und sah mit einem
Entsetzen, das mich bis ins Herz hinein lähmte, etwas
<<739>>
Weißes, das an meinem Bette saß. Meine Verzweiflung
gab mir schließlich die Kraft, den Kopf unter die Decke
zu stecken, und dort begann ich aus Angst und
Hülflosigkeit zu weinen. Plötzlich wurde es kühl und hell
über meinen weinenden Augen; ich drückte sie, um
nichts sehen zu müssen, über den Tränen zu. Aber die
Stimme, die nun von ganz nahe auf mich einsprach,
kam lau und süßlich an mein Gesicht, und ich erkannte
sie: es war Fräulein Mathildes Stimme. Ich beruhigte
mich sofort und ließ mich trotzdem, auch als ich schon
ganz ruhig war, immer noch weiter trösten; ich fühlte
zwar, daß diese Güte zu weichlich sei, aber ich genoß
sie dennoch und meinte sie irgendwie verdient zu haben.
»Tante«, sagte ich schließlich und versuchte in
ihrem zerflossenen Gesicht die Züge meiner Mutter
zusammenzufassen: »Tante, wer war die Dame?«

»Ach«, antwortete das Fräulein Brahe mit einem Seufzer,
der mir komisch vorkam, »eine Unglückliche,
mein Kind, eine Unglückliche.«

Am Morgen dieses Tages bemerkte ich in einem Zimmer
einige Bediente, die mit Packen beschäftigt waren.
Ich dachte, daß wir reisen würden, ich fand es ganz
natürlich, daß wir nun reisten. Vielleicht war das auch
meines Vaters Absicht. Ich habe nie erfahren, was ihn
bewog, nach jenem Abend noch auf Urnekloster zu bleiben.
Aber wir reisten nicht. Wir hielten uns noch acht
Wochen oder neun in diesem Hause auf, wir ertrugen
den Druck seiner Seltsamkeiten, und wir sahen noch
dreimal Christine Brahe.

Ich wußte damals nichts von ihrer Geschichte. Ich
<<740>>
wußte nicht, daß sie vor langer, langer Zeit in ihrem
zweiten Kindbett gestorben war, einen Knaben gebärend,
der zu einem bangen und grausamen Schicksal
heranwuchs, -- ich wußte nicht, daß sie eine Gestorbene
war. Aber mein Vater wußte es. Hatte er, der leidenschaftlich
war und auf Konsequenz und Klarheit angelegt,
sich zwingen wollen, in Fassung und ohne zu fragen,
dieses Abenteuer auszuhalten? Ich sah, ohne zu
begreifen, wie er mit sich kämpfte, ich erlebte es, ohne
zu verstehen, wie er sich endlich bezwang.

Das war, als wir Christine Brahe zum letztenmal sahen.
Dieses Mal war auch Fräulein Mathilde zu Tische
erschienen; aber sie war anders als sonst. Wie in den
ersten Tagen nach unserer Ankunft sprach sie unaufhörlich
ohne bestimmten Zusammenhang und fortwährend
sich verwirrend, und dabei war eine körperliche
Unruhe in ihr, die sie nötigte, sich beständig etwas
am Haar oder am Kleide zu richten, -- bis sie
unvermutet mit einem hohen klagenden Schrei aufsprang
und verschwand.

In demselben Augenblick wandten sich meine Blicke
unwillkürlich nach der gewissen Türe, und wirklich:
Christine Brahe trat ein. Mein Nachbar, der Major, machte
eine heftige, kurze Bewegung, die sich in meinen Körper
fortpflanzte, aber er hatte offenbar keine Kraft mehr,
sich zu erheben. Sein braunes, altes, fleckiges Gesicht
wendete sich von einem zum andern, sein Mund stand
offen, und die Zunge wand sich hinter den verdorbenen
Zähnen; dann auf einmal war dieses Gesicht fort, und
sein grauer Kopf lag auf dem Tische, und seine Arme
<<741>>
lagen wie in Stücken darüber und darunter, und irgendwo
kam eine welke, fleckige Hand hervor und bebte.
Und nun ging Christine Brahe vorbei, Schritt für
Schritt, langsam wie eine Kranke, durch unbeschreibliche
Stille, in die nur ein einziger wimmernder Laut
hineinklang wie eines alten Hundes. Aber da schob sich
links von dem großen silbernen Schwan, der mit
Narzissen gefüllt war, die große Maske des Alten hervor
mit ihrem grauen Lächeln. Er hob sein Weinglas meinem
Vater zu. Und nun sah ich, wie mein Vater, gerade
als Christine Brahe hinter seinem Sessel vorüberkam,
nach seinem Glase griff und es wie etwas sehr
Schweres eine Handbreit über den Tisch hob.

Und noch in dieser Nacht reisten wir.

Bibliothèque

Nationale.
Ich sitze und lese einen Dichter. Es sind viele Leute im
Saal, aber man spürt sie nicht. Sie sind in den Büchern.
Manchmal bewegen sie sich in den Blättern, wie Menschen,
die schlafen und sich umwenden zwischen zwei
Träumen. Ach, wie gut ist es doch, unter lesenden Menschen
zu sein. Warum sind sie nicht immer so? Du
kannst hingehen zu einem und ihn leise anrühren: er
fühlt nichts. Und stößt du einen Nachbar beim Aufstehen
ein wenig an und entschuldigst dich, so nickt er
nach der Seite, auf der er deine Stimme hört, sein
Gesicht wendet sich dir zu und sieht dich nicht, und sein
Haar ist wie das Haar eines Schlafenden. Wie wohl das
tut. Und ich sitze und habe einen Dichter. Was für ein
Schicksal. Es sind jetzt vielleicht dreihundert Leute
<<742>>
im Saale, die lesen; aber es ist unmöglich, daß sie jeder
einzelne einen Dichter haben. (Weiß Gott, was sie haben.)
Dreihundert Dichter giebt es nicht. Aber sieh nur,
was für ein Schicksal, ich, vielleicht der armsäligste
von diesen Lesenden, ein Ausländer: ich habe einen
Dichter. Obwohl ich arm bin. Obwohl mein Anzug, den
ich täglich trage, anfängt, gewisse Stellen zu bekommen,
obwohl gegen meine Schuhe sich das und jenes
einwenden ließe. Zwar mein Kragen ist rein, meine
Wäsche auch, und ich könnte, wie ich bin, in eine
beliebige Konditorei gehen, womöglich auf den großen
Boulevards, und könnte mit meiner Hand getrost in
einen Kuchenteller greifen und etwas nehmen. Man
würde nichts Auffälliges darin finden und mich nicht
schelten und hinausweisen, denn es ist immerhin eine
Hand aus den guten Kreisen, eine Hand, die vier- bis
fünfmal täglich gewaschen wird. Ja, es ist nichts hinter
den Nägeln, der Schreibfinger ist ohne Tinte, und
besonders die Gelenke sind tadellos. Bis dorthin waschen
arme Leute sich nicht, das ist eine bekannte Tatsache.
Man kann also aus ihrer Reinlichkeit gewisse Schlüsse
ziehen. Man zieht sie auch. In den Geschäften zieht
man sie. Aber es giebt doch ein paar Existenzen, auf dem
Boulevard Saint-Michel zum Beispiel und in der rue
Racine, die lassen sich nicht irremachen, die pfeifen auf
die Gelenke. Die sehen mich an und wissen es. Die
wissen, daß ich eigentlich zu ihnen gehöre, daß ich nur
ein bißchen Komödie spiele. Es ist ja Fasching. Und sie
wollen mir den Spaß nicht verderben; sie grinsen nur
so ein bißchen und zwinkern mit den Augen. Kein
<<743>>
Mensch hats gesehen. Im übrigen behandeln sie mich
wie einen Herrn. Es muß nur jemand in der Nähe sein,
dann tun sie sogar untertänig. Tun, als ob ich einen
Pelz anhätte und mein Wagen hinter mir herführe.
Manchmal gebe ich ihnen zwei Sous und zittere, sie
könnten sie abweisen; aber sie nehmen sie an. Und es
wäre alles in Ordnung, wenn sie nicht wieder ein wenig
gegrinst und gezwinkert hätten. Wer sind diese Leute?
Was wollen sie von mir? Warten sie auf mich? Woran
erkennen sie mich? Es ist wahr, mein Bart sieht etwas
vernachlässigt aus, und ein ganz, ganz klein wenig
erinnert er an ihre kranken, alten, verblichenen Bärte,
die mir immer Eindruck gemacht haben. Aber habe ich
nicht das Recht, meinen Bart zu vernachlässigen? Viele
beschäftigte Menschen tun das, und es fällt doch
niemandem ein, sie deshalb gleich zu den Fortgeworfenen
zu zählen. Denn das ist mir klar, daß das die Fortgeworfenen
sind, nicht nur Bettler; nein, es sind eigentlich
keine Bettler, man muß Unterschiede machen. Es sind
Abfälle, Schalen von Menschen, die das Schicksal
ausgespieen hat. Feucht vom Speichel des Schicksals
kleben sie an einer Mauer, an einer Laterne, an einer
Plakatsäule, oder sie rinnen langsam die Gasse herunter
mit einer dunklen, schmutzigen Spur hinter sich her.
Was in aller Welt wollte diese Alte von mir, die, mit einer
Nachttischschublade, in der einige Knöpfe und Nadeln
herumrollten, aus irgendeinem Loch herausgekrochen
war? Weshalb ging sie immer neben mir und beobachtete
mich? Als ob sie versuchte, mich zu erkennen mit
ihren Triefaugen, die aussahen, als hätte ihr ein Kranker
<<744>>
grünen Schleim in die blutigen Lider gespuckt. Und
wie kam damals jene graue, kleine Frau dazu, eine
Viertelstunde lang vor einem Schaufenster an meiner Seite
zu stehen, während sie mir einen alten, langen Bleistift
zeigte, der unendlich langsam aus ihren schlechten,
geschlossenen Händen sich herausschob. Ich tat, als
betrachtete ich die ausgelegten Sachen und merkte nichts.
Sie aber wußte, daß ich sie gesehen hatte, sie wußte,
daß ich stand und nachdachte, was sie eigentlich täte.
Denn daß es sich nicht um den Bleistift handeln konnte,
begriff ich wohl: ich fühlte, daß das ein Zeichen war, ein
Zeichen für Eingeweihte, ein Zeichen, das die
Fortgeworfenen kennen; ich ahnte, sie bedeutete mir, ich
müßte irgendwohin kommen oder etwas tun. Und das
Seltsamste war, daß ich immerfort das Gefühl nicht los
wurde, es bestünde tatsächlich eine gewisse Verabredung, zu
der dieses Zeichen gehörte, und diese Szene wäre im
Grunde etwas, was ich hätte erwarten müssen.

Das war vor zwei Wochen. Aber nun vergeht fast kein
Tag ohne eine solche Begegnung. Nicht nur in der
Dämmerung, am Mittag in den dichtesten Straßen
geschieht es, daß plötzlich ein kleiner Mann oder eine alte
Frau da ist, nickt, mir etwas zeigt und wieder verschwindet,
als wäre nun alles Nötige getan. Es ist möglich,
daß es ihnen eines Tages einfällt, bis in meine Stube
zu kommen, sie wissen bestimmt, wo ich wohne, und
sie werden es schon einrichten, daß der Concierge sie
nicht aufhält. Aber hier, meine Lieben, hier bin ich
sicher vor euch. Man muß eine besondere Karte haben,
um in diesen Saal eintreten zu können. Diese Karte
<<745>>
habe ich vor euch voraus. Ich gehe ein wenig scheu, wie
man sich denken kann, durch die Straßen, aber schließlich
stehe ich vor einer Glastür, öffne sie, als ob ich
zuhause wäre, weise an der nächsten Tür meine Karte
vor (ganz genau wie ihr mir eure Dinge zeigt, nur mit
dem Unterschiede, daß man mich versteht und begreift,
was ich meine --), und dann bin ich zwischen diesen
Büchern, bin euch weggenommen, als ob ich gestorben
wäre, und sitze und lese einen Dichter.

Ihr wißt nicht, was das ist, ein Dichter? -- Verlaine ...
Nichts? Keine Erinnerung? Nein. Ihr habt ihn nicht
unterschieden unter denen, die ihr kanntet? Unterschiede
macht ihr keine, ich weiß. Aber es ist ein anderer
Dichter, den ich lese, einer, der nicht in Paris wohnt,
ein ganz anderer. Einer, der ein stilles Haus hat im
Gebirge. Der klingt wie eine Glocke in reiner Luft. Ein
glücklicher Dichter, der von seinem Fenster erzählt
und von den Glastüren seines Bücherschrankes, die eine
liebe, einsame Weite nachdenklich spiegeln. Gerade der
Dichter ist es, der ich hätte werden wollen; denn er
weiß von den Mädchen so viel, und ich hätte auch viel
von ihnen gewußt. Er weiß von Mädchen, die vor
hundert Jahren gelebt haben; es tut nichts mehr, daß sie
tot sind, denn er weiß alles. Und das ist die Hauptsache.
Er spricht ihre Namen aus, diese leisen, schlankgeschriebenen
Namen mit den altmodischen Schleifen in
den langen Buchstaben und die erwachsenen Namen
ihrer älteren Freundinnen, in denen schon ein klein
wenig Schicksal mitklingt, ein klein wenig Enttäuschung
und Tod. Vielleicht liegen in einem Fach seines
<<746>>
Mahagonischreibtisches ihre verblichenen Briefe und
die gelösten Blätter ihrer Tagebücher, in denen
Geburtstage stehen, Sommerpartien, Geburtstage. Oder
es kann sein, daß es in der bauchigen Kommode im
Hintergrunde seines Schlafzimmers eine Schublade giebt,
in der ihre Frühjahrskleider aufgehoben sind; weiße
Kleider, die um Ostern zum erstenmal angezogen
wurden, Kleider aus getupftem Tüll, die eigentlich in
den Sommer gehören, den man nicht erwarten konnte.
O was für ein glückliches Schicksal, in der stillen Stube
eines ererbten Hauses zu sitzen unter lauter ruhigen,
seßhaften Dingen und draußen im leichten, lichtgrünen
Garten die ersten Meisen zu hören, die sich versuchen,
und in der Ferne die Dorfuhr. Zu sitzen und auf einen
warmen Streifen Nachmittagssonne zu sehen und vieles
von vergangenen Mädchen zu wissen und ein Dichter
zu sein. Und zu denken, daß ich auch so ein Dichter
geworden wäre, wenn ich irgendwo hätte wohnen dürfen,
irgendwo auf der Welt, in einem von den vielen
verschlossenen Landhäusern, um die sich niemand
bekümmert. Ich hätte ein einziges Zimmer gebraucht
(das lichte Zimmer im Giebel). Da hätte ich drinnen
gelebt mit meinen alten Dingen, den Familienbildern,
den Büchern. Und einen Lehnstuhl hätte ich gehabt
und Blumen und Hunde und einen starken Stock für
die steinigen Wege. Und nichts sonst. Nur ein Buch in
gelbliches, elfenbeinfarbiges Leder gebunden mit einem
alten blumigen Muster als Vorsatz: dahinein hätte ich
geschrieben. Ich hätte viel geschrieben, denn ich hätte
viele Gedanken gehabt und Erinnerungen von Vielen.
<<747>>
Aber es ist anders gekommen, Gott wird wissen,
warum. Meine alten Möbel faulen in einer Scheune, in die
ich sie habe stellen dürfen, und ich selbst, ja, mein Gott,
ich habe kein Dach über mir, und es regnet mir in die
Augen.

Manchmal gehe ich an kleinen Läden vorbei in der
rue de Seine etwa. Händler mit Altsachen oder kleine
Buchantiquare oder Kupferstichverkäufer mit
überfüllten Schaufenstern. Nie tritt jemand bei ihnen ein,
sie machen offenbar keine Geschäfte. Sieht man aber
hinein, so sitzen sie, sitzen und lesen, unbesorgt; sorgen
nicht um morgen, ängstigen sich nicht um ein Gelingen,
haben einen Hund, der vor ihnen sitzt, gut aufgelegt,
oder eine Katze, die die Stille noch größer macht,
indem sie die Bücherreihen entlang streicht, als wischte
sie die Namen von den Rücken.

Ach, wenn das genügte: ich wünschte manchmal,
mir so ein volles Schaufenster zu kaufen und mich mit
einem Hund dahinterzusetzen für zwanzig Jahre.

Es ist gut, es laut zu sagen: »Es ist nichts geschehen.«
Noch einmal: »Es ist nichts geschehen.« Hilft es?

Daß mein Ofen wieder einmal geraucht hat und ich
ausgehen mußte, das ist doch wirklich kein Unglück.
Daß ich mich matt und erkältet fühle, hat nichts zu
bedeuten. Daß ich den ganzen Tag in den Gassen
umhergelaufen bin, ist meine eigene Schuld. Ich hätte
ebensogut im Louvre sitzen können. Oder nein, das hätte
ich nicht. Dort sind gewisse Leute, die sich wärmen
<<748>>
wollen. Sie sitzen auf den Samtbänken, und ihre Füße
stehen wie große leere Stiefel nebeneinander auf den
Gittern der Heizungen. Es sind äußerst bescheidene
Männer, die dankbar sind, wenn die Diener in den
dunklen Uniformen mit den vielen Orden sie dulden.
Aber wenn ich eintrete, so grinsen sie. Grinsen und
nicken ein wenig. Und dann, wenn ich vor den Bildern
hin und her gehe, behalten sie mich im Auge, immer
im Auge, immer in diesem umgerührten, zusammengeflossenen
Auge. Es war also gut, daß ich nicht ins
Louvre gegangen bin. Ich bin immer unterwegs gewesen.
Weiß der Himmel in wie vielen Städten, Stadtteilen,
Friedhöfen, Brücken und Durchgängen. Irgendwo habe
ich einen Mann gesehen, der einen Gemüsewagen vor
sich herschob. Er schrie: Chou-fleur, Chou-fleur, das
fleur mit eigentümlich trübem eu. Neben ihm ging eine
eckige, häßliche Frau, die ihn von Zeit zu Zeit anstieß.
Und wenn sie ihn anstieß, so schrie er. Manchmal schrie
er auch von selbst, aber dann war es umsonst gewesen,
und er mußte gleich darauf wieder schreien, weil man
vor einem Hause war, welches kaufte. Habe ich schon
gesagt, daß er blind war? Nein? Also er war blind. Er
war blind und schrie. Ich fälsche, wenn ich das sage, ich
unterschlage den Wagen, den er schob, ich tue, als
hätte ich nicht bemerkt, daß er Blumenkohl ausrief.
Aber ist das wesentlich? Und wenn es auch wesentlich
wäre, kommt es nicht darauf an, was die ganze Sache
für mich gewesen ist? Ich habe einen alten Mann
gesehen, der blind war und schrie. Das habe ich gesehen.
Gesehen.

<<749>>

Wird man es glauben, daß es solche Häuser giebt?
Nein, man wird sagen, ich fälsche. Diesmal ist es Wahrheit,
nichts weggelassen, natürlich auch nichts hinzugetan.
Woher sollte ich es nehmen? Man weiß, daß ich
arm bin. Man weiß es. Häuser? Aber, um genau zu
sein, es waren Häuser, die nicht mehr da waren. Häuser,
die man abgebrochen hatte von oben bis unten.
Was da war, das waren die anderen Häuser, die
danebengestanden hatten, hohe Nachbarhäuser. Offenbar
waren sie in Gefahr, umzufallen, seit man nebenan
alles weggenommen hatte; denn ein ganzes Gerüst von
langen, geteerten Mastbäumen war schräg zwischen den
Grund des Schuttplatzes und die bloßgelegte Mauer
gerammt. Ich weiß nicht, ob ich schon gesagt habe,
daß ich diese Mauer meine. Aber es war sozusagen nicht
die erste Mauer der vorhandenen Häuser (was man
doch hätte annehmen müssen), sondern die letzte der
früheren. Man sah ihre Innenseite. Man sah in den
verschiedenen Stockwerken Zimmerwände, an denen noch
die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des
Fußbodens oder der Decke. Neben den Zimmerwänden
blieb die ganze Mauer entlang noch ein schmutzigweißer
Raum, und durch diesen kroch in unsäglich
widerlichen, wurmweichen, gleichsam verdauenden
Bewegungen die offene, rostfleckige Rinne der Abortröhre.
Von den Wegen, die das Leuchtgas gegangen
war, waren graue, staubige Spuren am Rande der
Decken geblieben, und sie bogen da und dort, ganz
unerwartet, rund um und kamen in die farbige Wand
hineingelaufen und in ein Loch hinein, das schwarz und
<<750>>+++
rücksichtslos ausgerissen war. Am unvergeßlichsten
aber waren die Wände selbst. Das zähe Leben dieser
Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch
da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren, es
stand auf dem handbreiten Rest der Fußböden, es war
unter den Ansätzen der Ecken, wo es noch ein klein
wenig Innenraum gab, zusammengekrochen. Man konnte
sehen, daß es in der Farbe war, die es langsam, Jahr um
Jahr, verwandelt hatte: Blau in schimmliches Grün,
Grün in Grau und Gelb in ein altes, abgestandenes
Weiß, das fault. Aber es war auch in den frischeren
Stellen, die sich hinter Spiegeln, Bildern und Schränken
erhalten hatten; denn es hatte ihre Umrisse gezogen
und nachgezogen und war mit Spinnen und Staub auch
auf diesen versteckten Plätzen gewesen, die jetzt
bloßlagen. Es war in jedem Streifen, der abgeschunden war,
es war in den feuchten Blasen am unteren Rande der
Tapeten, es schwankte in den abgerissenen Fetzen,
und aus den garstigen Flecken, die vor langer Zeit
entstanden waren, schwitzte es aus. Und aus diesen blau,
grün und gelb gewesenen Wänden, die eingerahmt
waren von den Bruchbahnen der zerstörten
Zwischenmauern, stand die Luft dieser Leben heraus, die zähe,
träge, stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut
hatte. Da standen die Mittage und die Krankheiten
und das Ausgeatmete und der jahrealte Rauch und der
Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die
Kleider schwer macht, und das Fade aus den Munden
und der Fuselgeruch gärender Füße. Da stand das
Scharfe vom Urin und das Brennen vom Ruß und
grau<<751>>
er Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von
alterndem Schmalze. Der süße, lange Geruch von
vernachlässigten Säuglingen war da und der Angstgeruch
der Kinder, die in die Schule gehen, und das Schwüle
aus den Betten mannbarer Knaben. Und vieles hatte
sich dazugesellt, was von unten gekommen war, aus
dem Abgrund der Gasse, die verdunstete, und anderes
war von oben herabgesickert mit dem Regen, der über
den Städten nicht rein ist. Und manches hatten die
schwachen, zahm gewordenen Hauswinde, die immer
in derselben Straße bleiben, zugetragen, und es war
noch vieles da, wovon man den Ursprung nicht wußte.
Ich habe doch gesagt, daß man alle Mauern
abgebrochen hatte bis auf die letzte --? Nun von dieser Mauer
spreche ich fortwährend. Man wird sagen, ich hätte
lange davorgestanden; aber ich will einen Eid geben
dafür, daß ich zu laufen begann, sobald ich die Mauer
erkannt hatte. Denn das ist das Schreckliche, daß ich sie
erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es
so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.

Ich war etwas erschöpft nach alledem, man kann wohl
sagen angegriffen, und darum war es zuviel für mich,
daß auch er noch auf mich warten mußte. Er wartete
in der kleinen Cremerie, wo ich zwei Spiegeleier essen
wollte; ich war hungrig, ich war den ganzen Tag nicht
dazu gekommen zu essen. Aber ich konnte auch jetzt
nichts zu mir nehmen; ehe die Eier noch fertig waren,
trieb es mich wieder hinaus in die Straßen, die ganz
dickflüssig von Menschen mir entgegenrannen. Denn es
war Fasching und Abend, und die Leute hatten alle
<<752>>
Zeit und trieben umher und rieben sich einer am
andern. Und ihre Gesichter waren voll von dem Licht, das
aus den Schaubuden kam, und das Lachen quoll aus
ihren Munden wie Eiter aus offenen Stellen. Sie
lachten immer mehr und drängten sich immer enger
zusammen, je ungeduldiger ich versuchte vorwärts zu
kommen. Das Tuch eines Frauenzimmers hakte sich
irgendwie an mir fest, ich zog sie hinter mir her, und die Leute
hielten mich auf und lachten, und ich fühlte, daß ich
auch lachen sollte, aber ich konnte es nicht. Jemand
warf mir eine Hand Confetti in die Augen, und es
brannte wie eine Peitsche. An den Ecken waren die Menschen
festgekeilt, einer in den andern geschoben, und es war
keine Weiterbewegung in ihnen, nur ein leises, weiches
Auf und Ab, als ob sie sich stehend paarten. Aber
obwohl sie standen und ich am Rande der Fahrbahn, wo
es Risse im Gedränge gab, hinlief wie ein Rasender, war
es in Wahrheit doch so, daß sie sich bewegten und ich
mich nicht rührte. Denn es veränderte sich nichts;
wenn ich aufsah, gewahrte ich immer noch dieselben
Häuser auf der einen Seite und auf der anderen die
Schaubuden. Vielleicht auch stand alles fest, und es
war nur ein Schwindel in mir und ihnen, der alles zu
drehen schien. Ich hatte keine Zeit, darüber
nachzudenken, ich war schwer von Schweiß, und es kreiste ein
betäubender Schmerz in mir, als ob in meinem Blute
etwas zu Großes mittriebe, das die Adern ausdehnte,
wohin es kam. Und dabei fühlte ich, daß die Luft längst zu
Ende war und daß ich nur mehr Ausgeatmetes einzog,
das meine Lungen stehen ließen.
<<753>>
Aber nun ist es vorbei; ich habe es überstanden. Ich
sitze in meinem Zimmer bei der Lampe; es ist ein wenig
kalt, denn ich wage es nicht, den Ofen zu versuchen;
was, wenn er rauchte und ich müßte wieder hinaus?
Ich sitze und denke: wenn ich nicht arm wäre, würde
ich mir ein anderes Zimmer mieten, ein Zimmer mit
Möbeln, die nicht so aufgebraucht sind, nicht so voll
von früheren Mietern wie diese hier. Zuerst war es mir
wirklich schwer, den Kopf in diesen Lehnstuhl zu
legen; es ist da nämlich eine gewisse schmierig-graue
Mulde in seinem grünen Bezug, in die alle Köpfe zu
passen scheinen. Längere Zeit gebrauchte ich die
Vorsicht, ein Taschentuch unter meine Haare zu legen,
aber jetzt bin ich zu müde dazu; ich habe gefunden,
daß es auch so geht und daß die kleine Vertiefung
genau für meinen Hinterkopf gemacht ist, wie nach Maß.
Aber ich würde mir, wenn ich nicht arm wäre, vor allem
einen guten Ofen kaufen, und ich würde das reine,
starke Holz heizen, welches aus dem Gebirge kommt, und
nicht diese trostlosen têtes-de-moineau, deren Dunst
das Atmen so bang macht und den Kopf so wirr. Und
dann müßte jemand da sein, der ohne grobes Geräusch
aufräumt und der das Feuer besorgt, wie ich es brauche;
denn oft, wenn ich eine Viertelstunde vor dem Ofen
knien muß und rütteln, die Stirnhaut gespannt von
der nahen Glut und mit Hitze in den offenen Augen,
gebe ich alles aus, was ich für den Tag an Kraft habe,
und wenn ich dann unter die Leute komme, haben sie
es natürlich leicht. Ich würde manchmal, wenn großes
Gedränge ist, einen Wagen nehmen, vorbeifahren, ich
<<754>>
würde täglich in einem Duval essen ... und nicht mehr
in die Crémerien kriechen ... Ob er wohl auch in einem
Duval gewesen wäre? Nein. Dort hätte er nicht auf
mich warten dürfen. Sterbende läßt man nicht hinein.
Sterbende? Ich sitze ja jetzt in meiner Stube; ich kann
ja versuchen, ruhig über das nachzudenken, was mir
begegnet ist. Es ist gut, nichts im Ungewissen zu lassen.
Also ich trat ein und sah zuerst nur, daß der Tisch, an
dem ich öfters zu sitzen pflegte, von jemandem anderen
eingenommen war. Ich grüßte nach dem kleinen Buffet
hin, bestellte und setzte mich nebenan. Aber da fühlte
ich ihn, obwohl er sich nicht rührte. Gerade seine
Regungslosigkeit fühlte ich und begriff sie mit einem
Schlage. Die Verbindung zwischen uns war hergestellt,
und ich wußte, daß er erstarrt war vor Entsetzen. Ich
wußte, daß das Entsetzen ihn gelähmt hatte, Entsetzen
über etwas, was in ihm geschah. Vielleicht brach ein
Gefäß in ihm, vielleicht trat ein Gift, das er lange
gefürchtet hatte, gerade jetzt in seine Herzkammer ein,
vielleicht ging ein großes Geschwür auf in seinem
Gehirn wie eine Sonne, die ihm die Welt verwandelte. Mit
unbeschreiblicher Anstrengung zwang ich mich, nach
ihm hinzusehen, denn ich hoffte noch, daß alles
Einbildung sei. Aber es geschah, daß ich aufsprang und
hinausstürzte; denn ich hatte mich nicht geirrt. Er saß
da in einem dicken, schwarzen Wintermantel, und sein
graues, gespanntes Gesicht hing tief in ein wollenes
Halstuch. Sein Mund war geschlossen, als wäre er mit
großer Wucht zugefallen, aber es war nicht möglich
zu sagen, ob seine Augen noch schauten: beschlagene,
<<755>>
rauchgraue Brillengläser lagen davor und zitterten ein
wenig. Seine Nasenflügel waren aufgerissen, und das
lange Haar über seinen Schläfen, aus denen alles
weggenommen war, welkte wie in zu großer Hitze. Seine
Ohren waren lang, gelb, mit großen Schatten hinter sich.
Ja, er wußte, daß er sich jetzt von allem entfernte
nicht nur von den Menschen. Ein Augenblick noch, und
alles wird seinen Sinn verloren haben, und dieser Tisch
und die Tasse und der Stuhl, an den er sich klammert,
alles Tägliche und Nächste wird unverständlich
geworden sein, fremd und schwer. So saß er da und wartete, bis
es geschehen sein würde. Und wehrte sich nicht mehr.

Und ich wehre mich noch. Ich wehre mich, obwohl
ich weiß, daß mir das Herz schon heraushängt und daß
ich doch nicht mehr leben kann, auch wenn meine
Quäler jetzt von mir abließen. Ich sage mir: es ist nichts
geschehen, und doch habe ich jenen Mann nur begreifen
können, weil auch in mir etwas vor sich geht, das
anfängt, mich von allem zu entfernen und abzutrennen.
Wie graute mir immer, wenn ich von einem Sterbenden
sagen hörte: er konnte schon niemanden mehr
erkennen. Dann stellte ich mir ein einsames Gesicht vor, das
sich aufhob aus Kissen und suchte, nach etwas
Bekanntem suchte, nach etwas schon einmal Gesehenem
suchte, aber es war nichts da. Wenn meine Furcht nicht so
groß wäre, so würde ich mich damit trösten, daß es
nicht unmöglich ist, alles anders zu sehen und doch zu
leben. Aber ich fürchte mich, ich fürchte mich
namenlos vor dieser Veränderung. Ich bin ja noch gar nicht in
dieser Welt eingewöhnt gewesen, die mir gut scheint.
<<756>>
Was soll ich in einer anderen? Ich würde so gerne
unter den Bedeutungen bleiben, die mir lieb geworden
sind, und wenn schon etwas sich verändern muß, so
möchte ich doch wenigstens unter den Hunden leben
dürfen, die eine verwandte Welt haben und dieselben
Dinge.

Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und
sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand
weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben
heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine.
Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und
es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder
Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser
niedergehen. Bei aller Furcht bin ich schließlich doch
wie einer, der vor etwas Großem steht, und ich erinnere
mich, daß es früher oft ähnlich in mir war, eh ich zu
schreiben begann. Aber diesmal werde ich geschrieben
werden. Ich bin der Eindruck, der sich verwandeln
wird. Oh, es fehlt nur ein kleines, und ich könnte das
alles begreifen und gutheißen. Nur ein Schritt, und
mein tiefes Elend würde Seligkeit sein. Aber ich kann
diesen Schritt nicht tun, ich bin gefallen und kann mich
nicht mehr aufheben, weil ich zerbrochen bin. Ich habe
ja immer noch geglaubt, es könnte eine Hülfe kommen.
Da liegt es vor mir in meiner eigenen Schrift, was ich
gebetet habe, Abend für Abend. Ich habe es mir aus
den Büchern, in denen ich es fand, abgeschrieben,
damit es mir ganz nahe wäre und aus meiner Hand
entsprungen wie Eigenes. Und ich will es jetzt noch einmal
schreiben, hier vor meinem Tisch kniend will ich es
<<757>>
schreiben; denn so habe ich es länger, als wenn ich es
lese, und jedes Wort dauert an und hat Zeit zu
verhallen.

>Mécontent de tous et mécontent de moi, je voudrais
bien me racheter et m'enorgueillir un peu dans le silence
et la solitude de la nuit. A:^mes de ceux que j'ai aimés, âmes
de ceux que j'ai chantés, fortifiez-moi, soutenez-moi,
éloignez de moi le mensonge et les vapeurs corruptrices
du monde; et vous, Seigneur mon Dieu! accordez-moi
la grâce de produire quelques beaux vers qui me prouvent
à moi-même que je ne suis pas le dernier des hommes,
que je ne suis pas inférieur à ceux que je méprise.<

>Die Kinder loser und verachteter Leute, die die
Geringsten im Lande waren. Nun bin ich ihr Saitenspiel
worden und muß ihr Märlein sein.

... sie haben über mich einen Weg gemacht ...

... es war ihnen so leicht, mich zu beschädigen, daß
sie keiner Hülfe dazu durften.

... nun aber geußet sich aus meine Seele über mich,
und mich hat ergriffen die elende Zeit.

Des Nachts wird mein Gebein durchbohret
allenthalben; und die mich jagen, legen sich nicht schlafen.

Durch die Menge der Kraft werde ich anders und
anders gekleidet; und man gürtet mich damit wie mit
dem Loch meines Rocks ...

Meine Eingeweide sieden und hören nicht auf; mich
hat überfallen die elende Zeit ...

Meine Harfe ist eine Klage worden, und meine Pfeife
ein Weinen.<
<<758>>
Der Arzt hat mich nicht verstanden. Nichts. Es war ja
auch schwer zu erzählen. Man wollte einen Versuch
machen mit dem Elektrisieren. Gut. Ich bekam einen
Zettel: ich sollte um ein Uhr in der Salpêtriere sein. Ich
war dort. Ich mußte lange an verschiedenen Baracken
vorüber, durch mehrere Höfe gehen, in denen da und
dort Leute mit weißen Hauben wie Sträflinge unter den
leeren Bäumen standen. Endlich kam ich in einen
langen, dunklen, gangartigen Raum, der auf der einen
Seite vier Fenster aus mattem, grünlichem Glase hatte,
eines vom anderen durch eine breite, schwarze
Zwischenwand getrennt. Davor lief eine Holzbank hin, an
allem vorbei, und auf dieser Bank saßen sie, die mich
kannten, und warteten. Ja, sie waren alle da. Als ich
mich an die Dämmerung des Raumes gewöhnt hatte,
merkte ich, daß unter denen, welche Schulter an
Schulter in endloser Reihe da saßen, auch einige andere Leute
sein konnten, kleine Leute, Handwerker,
Bedienerinnen und Lastkutscher. Unten an der Schmalseite des
Ganges auf besonderen Stühlen hatten sich zwei dicke
Frauen ausgebreitet, die sich unterhielten, vermutlich
Conciergen. Ich sah nach der Uhr; es war fünf Minuten
vor Eins. Nun in fünf, sagen wir in zehn Minuten, mußte
ich drankommen; es war also nicht so schlimm. Die
Luft war schlecht, schwer, voll Kleider und Atem. An
einer gewissen Stelle schlug die starke, steigernde
Kühle von Äther aus einer Türspalte. Ich begann auf und
ab zu gehen. Es kam mir in den Sinn, daß man mich
hierher gewiesen hatte, unter diese Leute, in diese
überfüllte, allgemeine Sprechstunde. Es war sozusagen die
<<759>>
erste öffentliche Bestätigung, daß ich zu den
Fortgeworfenen gehörte; hatte der Arzt es mir angesehen?
Aber ich hatte meinen Besuch in einem leidlich guten
Anzuge gemacht, ich hatte meine Karte
hineingeschickt. Trotzdem, er mußte es irgendwie erfahren
haben, vielleicht hatte ich mich selbst verraten. Nun, da
es einmal Tatsache war, fand ich es auch gar nicht so
arg; die Leute saßen still und achteten nicht auf mich.
Einige hatten Schmerzen und schwenkten ein wenig
das eine Bein, um sie leichter auszuhalten. Verschiedene
Männer hatten den Kopf in die flachen Hände gelegt,
andere schliefen tief mit schweren, verschütteten
Gesichtern. Ein dicker Mann mit rotem, angeschwollenem
Halse saß vorübergebeugt da, stierte auf den Fußboden
und spie von Zeit zu Zeit klatschend auf einen Fleck,
der ihm dazu passend schien. Ein Kind schluchzte in
einer Ecke; die langen magern Beine hatte es zu sich
auf die Bank gezogen, und nun hielt es sie umfaßt und
an sich gepreßt, als müßte es von ihnen Abschied
nehmen. Eine kleine, blasse Frau, der ein mit runden,
schwarzen Blumen geputzter Krepphut schief auf den
Haaren saß, hatte die Grimasse eines Lächelns um die
dürftigen Lippen, aber ihre wunden Lider gingen
beständig über. Nicht weit von ihr hatte man ein
Mädchen hingesetzt mit rundem glatten Gesicht und
herausgedrängten Augen, die ohne Ausdruck waren; sein
Mund stand offen, so daß man das weiße, schleimige
Zahnfleisch sah mit den alten, verkümmerten Zähnen.
Und viele Verbände gab es. Verbände, die den ganzen
Kopf Schichte um Schichte umzogen, bis nur noch ein
<<760>>
einziges Auge da war, das niemandem mehr gehörte.
Verbände, die verbargen, und Verbände, die zeigten,
was darunter war. Verbände, die man geöffnet hatte
und in denen nun, wie in einem schmutzigen Bett, eine
Hand lag, die keine mehr war; und ein eingebundenes
Bein, das aus der Reihe herausstand, groß wie ein
ganzer Mensch. Ich ging auf und ab und gab mir Mühe,
ruhig zu sein. Ich beschäftigte mich viel mit der
gegenüberliegenden Wand. Ich bemerkte, daß sie eine Anzahl
einflügeliger Türen enthielt und nicht bis an die Decke
reichte, so daß dieser Gang von den Räumen, die
daneben liegen mußten, nicht ganz abgetrennt war. Ich
sah nach der Uhr; ich war eine Stunde auf und ab
gegangen. Eine Weile später kamen die Ärzte. Zuerst ein
paar junge Leute, die mit gleichgültigen Gesichtern
vorbeigingen, schließlich der, bei dem ich gewesen war,
in lichten Handschuhen, Chapeau à huit reflets,
tadellosem Überzieher. Als er mich sah, hob er ein wenig den
Hut und lächelte zerstreut. Ich hatte nun Hoffnung,
gleich gerufen zu werden, aber es verging wieder eine
Stunde. Ich kann mich nicht erinnern, womit ich sie
verbrachte. Sie verging. Ein alter Mann kam in einer
fleckigen Schürze, eine Art Wärter, und berührte mich
an der Schulter. Ich trat in eines der Nebenzimmer.
Der Arzt und die jungen Leute saßen um einen Tisch
und sahen mich an, man gab mir einen Stuhl. So. Und
nun sollte ich erzählen, wie das eigentlich mit mir wäre.
Möglichst kurz, s'il vous plaît. Denn viel Zeit hätten die
Herren nicht. Mir war seltsam zumut. Die jungen Leute
saßen und sahen mich an mit jener überlegenen,
fach<<761>>
lichen Neugier, die sie gelernt hatten. Der Arzt, den ich
kannte, strich seinen schwarzen Spitzbart und lächelte
zerstreut. Ich dachte, daß ich in Weinen ausbrechen
würde, aber ich hörte mich französisch sagen: »Ich
hatte bereits die Ehre, Ihnen, mein Herr, alle
Auskünfte zu geben, die ich geben kann. Halten Sie es für nötig,
daß diese Herren eingeweiht werden, so sind Sie nach
unserer Unterredung gewiß imstande, dies mit einigen
Worten zu tun, während es mir sehr schwer fällt.« Der
Arzt erhob sich mit höflichem Lächeln, trat mit den
Assistenten ans Fenster und sagte ein paar Worte, die
er mit einer waagerechten, schwankenden
Handbewegung begleitete. Nach drei Minuten kam einer von
den jungen Leuten, kurzsichtig und fahrig, an den
Tisch zurück und sagte, indem er versuchte, mich
strenge anzusehen: »Sie schlafen gut, mein Herr?«
»Nein, schlecht.« Worauf er wieder zu der Gruppe
zurücksprang. Dort verhandelte man noch eine Weile,
dann wandte sich der Arzt an mich und teilte mir mit,
daß man mich rufen lassen würde. Ich erinnerte ihn,
daß ich auf ein Uhr bestellt worden sei. Er lächelte und
machte ein paar schnelle, sprunghafte Bewegungen mit
seinen kleinen weißen Händen, die bedeuten wollten,
daß er ungemein beschäftigt sei. Ich kehrte also in
meinen Gang zurück, in dem die Luft viel lastender
geworden war, und fing wieder an, hin und her zu gehen,
obwohl ich mich todmüde fühlte. Schließlich machte der
feuchte, angehäufte Geruch mich schwindlig; ich blieb
an der Eingangstür stehen und öffnete sie ein wenig.
Ich sah, daß draußen noch Nachmittag und etwas
Son<<762>>
ne war, und das tat mir unsagbar wohl. Aber ich hatte
kaum eine Minute so gestanden, da hörte ich, daß man
mich rief. Eine Frauenperson, die zwei Schritte
entfernt bei einem kleinen Tische saß, zischte mir etwas
zu. Wer mich geheißen hätte, die Türe öffnen. Ich
sagte, ich könnte die Luft nicht vertragen. Gut, das sei
meine Sache, aber die Türe müsse geschlossen bleiben.
Ob es denn nicht anginge, ein Fenster aufzumachen.
Nein, das sei verboten. Ich beschloß, das
Aufundabgehen wieder aufzunehmen, weil es schließlich eine Art
Betäubung war und niemanden kränkte. Aber der Frau
an dem kleinen Tische mißfiel jetzt auch das. Ob ich
denn keinen Platz hätte. Nein, den hätte ich nicht. Das
Herumgehen sei aber nicht gestattet; ich müßte mir
einen Platz suchen. Es würde schon noch einer da sein.
Die Frau hatte recht. Es fand sich wirklich sogleich ein
Platz neben dem Mädchen mit den herausdrängenden
Augen. Da saß ich nun in dem Gefühle, daß dieser
Zustand unbedingt auf etwas Fürchterliches vorbereiten
müsse. Links war also das Mädchen mit dem faulenden
Zahnfleisch; was rechts von mir war, konnte ich erst
nach einer Weile erkennen. Es war eine ungeheuere,
unbewegliche Masse, die ein Gesicht hatte und eine
große, schwere, reglose Hand. Die Seite des Gesichtes,
die ich sah, war leer, ganz ohne Züge und ohne
Erinnerungen, und es war unheimlich, daß der Anzug wie der
einer Leiche war, die man für den Sarg angekleidet
hatte. Die schmale, schwarze Halsbinde war in
derselben losen unpersönlichen Weise um den Kragen
geschnallt, und dem Rock sah man es an, daß er von
an<<763>>
deren über diesen willenlosen Körper gezogen worden
war. Die Hand hatte man auf diese Hose gelegt, dorthin
wo sie lag, und sogar das Haar war wie von
Leichenwäscherinnen gekämmt und war, wie das Haar
ausgestopfter Tiere, steif geordnet. Ich betrachtete das alles
mit Aufmerksamkeit, und es fiel mir ein, daß dies also
der Platz sei, der für mich bestimmt gewesen war, denn
ich glaubte nun endlich an diejenige Stelle meines
Lebens gekommen zu sein, an der ich bleiben würde. Ja,
das Schicksal geht wunderbare Wege.

Plötzlich erhoben sich ganz in der Nähe rasch
hintereinander die erschreckten, abwehrenden Schreie eines
Kindes, denen ein leises, zugehaltenes Weinen folgte.
Während ich mich anstrengte, herauszufinden, wo das
könnte gewesen sein, verzitterte wieder ein kleiner,
unterdrückter Schrei, und ich hörte Stimmen, die fragten,
eine Stimme, die halblaut befahl, und dann schnurrte
irgend eine gleichgültige Maschine los und kümmerte
sich um nichts. Jetzt erinnerte ich mich jener halben
Wand, und es war mir klar, daß das alles von jenseits
der Türen kam und daß man dort an der Arbeit war.
Wirklich erschien von Zeit zu Zeit der Wärter mit der
fleckigen Schürze und winkte. Ich dachte gar nicht
mehr daran, daß er mich meinen könnte. Galt es mir?
Nein. Zwei Männer waren da mit einem Rollstuhl; sie
hoben die Masse hinein, und ich sah jetzt, daß es ein
alter, lahmer Mann war, der noch eine andere, kleinere,
vom Leben abgenutzte Seite hatte mit einem offenen,
trüben, traurigen Auge. Sie fuhren ihn hinein, und
neben mir entstand eine Menge Platz. Und ich saß und
<<764>>
dachte, was sie wohl dem blöden Mädchen tun wollten
und ob es auch schreien würde. Die Maschinen
dahinten schnurrten so angenehm fabrikmäßig, es hatte gar
nichts Beunruhigendes.

Plötzlich aber war alles still, und in die Stille sagte eine
überlegene, selbstgefällige Stimme, die ich zu kennen
glaubte:

»Riez!« Pause. »Riez. Mais riez, riez.« Ich lachte schon.
Es war unerklärlich, weshalb der Mann da drüben nicht
lachen wollte. Eine Maschine ratterte los, verstummte
aber sofort wieder, Worte wurden gewechselt, dann
erhob sich wieder dieselbe energische Stimme und
befahl: »Dites-nous le mot: avant.« Buchstabierend:
»a-v-a-n-t« ... Stille. »On n'entend rien. Encore une
fois: ....«

Und da, als es drüben so warm und schwammig lallte:
da zum erstenmal seit vielen, vielen Jahren war es
wieder da. Das, was mir das erste, tiefe Entsetzen eingejagt
hatte, wenn ich als Kind im Fieber lag: das Große. Ja,
so hatte ich immer gesagt, wenn sie alle um mein Bett
standen und mir den Puls fühlten und mich fragten,
was mich erschreckt habe: Das Große. Und wenn sie
den Doktor holten und er war da und redete mir zu, so
bat ich ihn, er möchte nur machen, daß das Große
wegginge, alles andere wäre nichts. Aber er war wie die
andern. Er konnte es nicht fortnehmen, obwohl ich
damals doch klein war und mir leicht zu helfen gewesen
wäre. Und jetzt war es wieder da. Es war später einfach
ausgeblieben, auch in Fiebernächten war es nicht
wiedergekommen, aber jetzt war es da, obwohl ich kein
<<765>>
Fieber hatte. Jetzt war es da. Jetzt wuchs es aus mir
heraus wie eine Geschwulst, wie ein zweiter Kopf, und
war ein Teil von mir, obwohl es doch gar nicht zu mir
gehören konnte, weil es so groß war. Es war da, wie ein
großes totes Tier, das einmal, als es noch lebte, meine
Hand gewesen war oder mein Arm. Und mein Blut
ging durch mich und durch es, wie durch einen und
denselben Körper. Und mein Herz mußte sich sehr
anstrengen, um das Blut in das Große zu treiben: es war
fast nicht genug Blut da. Und das Blut trat ungern ein
in das Große und kam krank und schlecht zurück. Aber
das Große schwoll an und wuchs mir vor das Gesicht
wie eine warme bläuliche Beule und wuchs mir vor den
Mund, und über meinem letzten Auge war schon der
Schatten von seinem Rande.

Ich kann mich nicht erinnern, wie ich durch die vielen
Höfe hinausgekommen war. Es war Abend, und ich
verirrte mich in der fremden Gegend und ging Boulevards
mit endlosen Mauern in einer Richtung hinauf und,
wenn dann kein Ende da war, in der entgegengesetzten
Richtung zurück bis an irgendeinen Platz. Dort begann
ich eine Straße zu gehen, und es kamen andere Straßen,
die ich nie gesehen hatte, und wieder andere.
Elektrische Bahnen rasten manchmal überhell und mit hartem,
klopfendem Geläute heran und vorbei. Aber auf ihren
Tafeln standen Namen, die ich nicht kannte. Ich wußte
nicht, in welcher Stadt ich war und ob ich hier
irgendwo eine Wohnung hatte und was ich tun mußte, um
nicht mehr gehen zu müssen.

<<766>>
Und jetzt auch noch diese Krankheit, die mich immer
schon so eigentümlich berührt hat. Ich bin sicher, daß
man sie unterschätzt. Genau wie man die Bedeutung
anderer Krankheiten übertreibt. Diese Krankheit hat
keine bestimmten Eigenheiten, sie nimmt die
Eigenheiten dessen an, den sie ergreift. Mit einer
somnambulen Sicherheit holt sie aus einem jeden seine tiefste
Gefahr heraus, die vergangen schien, und stellt sie
wieder vor ihn hin, ganz nah, in die nächste Stunde.
Männer, die einmal in der Schulzeit das hülflose Laster
versucht haben, dessen betrogene Vertraute die armen,
harten Knabenhände sind, finden sich wieder darüber,
oder es fängt eine Krankheit, die sie als Kinder
überwunden haben, wieder in ihnen an; oder eine verlorene
Gewohnheit ist wieder da, ein gewisses zögerndes
Wenden des Kopfes, das ihnen vor Jahren eigen war. Und
mit dem, was kommt, hebt sich ein ganzes Gewirr irrer
Erinnerungen, das daranhängt wie nasser Tang an einer
versunkenen Sache. Leben, von denen man nie
erfahren hätte, tauchen empor und mischen sich unter das,
was wirklich gewesen ist, und verdrängen Vergangenes,
das man zu kennen glaubte: denn in dem, was aufsteigt,
ist eine ausgeruhte, neue Kraft, das aber, was immer
da war, ist müde von zu oftem Erinnern.

Ich liege in meinem Bett, fünf Treppen hoch, und mein
Tag, den nichts unterbricht, ist wie ein Zifferblatt ohne
Zeiger. Wie ein Ding, das lange verloren war, eines
Morgens auf seiner Stelle liegt, geschont und gut, neuer
fast als zur Zeit des Verlustes, ganz als ob es bei irgend
jemandem in Pflege gewesen wäre --: so liegt da und da
<<767>>
auf meiner Bettdecke Verlorenes aus der Kindheit und
ist wie neu. Alle verlorenen Ängste sind wieder da.
Die Angst, daß ein kleiner Wollfaden, der aus dem
Saum der Decke heraussteht, hart sei, hart und scharf
wie eine stählerne Nadel; die Angst, daß dieser kleine
Knopf meines Nachthemdes größer sei als mein Kopf,
groß und schwer; die Angst, daß dieses Krümchen
Brot, das jetzt von meinem Bette fällt, gläsern und
zerschlagen unten ankommen würde, und die drückende
Sorge, daß damit eigentlich alles zerbrochen sei, alles
für immer; die Angst, daß der Streifen Rand eines
aufgerissenen Briefes etwas Verbotenes sei, das niemand
sehen dürfe, etwas unbeschreiblich Kostbares, für das
keine Stelle in der Stube sicher genug sei; die Angst,
daß ich, wenn ich einschliefe, das Stück Kohle
verschlucken würde, das vor dem Ofen liegt; die Angst,
daß irgendeine Zahl in meinem Gehirn zu wachsen
beginnt, bis sie nicht mehr Raum hat in mir; die Angst,
daß das Granit sei, worauf ich liege, grauer Granit; die
Angst, daß ich schreien könnte und daß man vor
meiner Türe zusammenliefe und sie schließlich aufbräche,
die Angst, daß ich mich verraten könnte und alles das
sagen, wovor ich mich fürchte, und die Angst, daß ich
nichts sagen könnte, weil alles unsagbar ist, -- und die
anderen Ängste ... die Ängste.

Ich habe um meine Kindheit gebeten, und sie ist
wiedergekommen, und ich fühle, daß sie immer noch so
schwer ist wie damals und daß es nichts genützt hat,
älter zu werden.
<<768>>
Gestern war mein Fieber besser, und heute fängt der
Tag wie Frühling an, wie Frühling in Bildern. Ich will
versuchen, auszugehen in die Bibliothèque Nationale
zu meinem Dichter, den ich so lange nicht gelesen habe,
und vielleicht kann ich später langsam durch die
Gärten gehen. Vielleicht ist Wind über dem großen Teich,
der so wirkliches Wasser hat, und es kommen Kinder,
die ihre Schiffe mit den roten Segeln hineinlassen und
zuschauen.

Heute habe ich es nicht erwartet, ich bin so mutig
ausgegangen, als wäre das das Natürlichste und Einfachste.
Und doch, es war wieder etwas da, das mich nahm wie
Papier, mich zusammenknüllte und fortwarf, es war
etwas Unerhörtes da.

Der Boulevard St-Michel war leer und weit, und es
ging sich leicht auf seiner leisen Neigung. Fensterflügel
oben öffneten sich mit gläsernem Aufklang, und ihr
Glänzen flog wie ein weißer Vogel über die Straße. Ein
Wagen mit hellroten Rädern kam vorüber, und weiter
unten trug jemand etwas Lichtgrünes. Pferde liefen in
blinkernden Geschirren auf dem dunkel gespritzten
Fahrdamm, der rein war. Der Wind war erregt, neu,
mild, und alles stieg auf: Gerüche, Rufe, Glocken.

Ich kam an einem der Caféhäuser vorbei, in denen am
Abend die falschen roten Zigeuner spielen. Aus den
offenen Fenstern kroch mit schlechtem Gewissen die
übernächtige Luft. Glattgekämmte Kellner waren
dabei, vor der Türe zu scheuern. Der eine stand gebückt
und warf, handvoll nach handvoll, gelblichen Sand unter
die Tische. Da stieß ihn einer von den Vorübergehenden
<<769>>
an und zeigte die Straße hinunter. Der Kellner, der
ganz rot im Gesicht war, schaute eine Weile scharf hin,
dann verbreitete sich ein Lachen auf seinen bartlosen
Wangen, als wäre es darauf verschüttet worden. Er
winkte den andern Kellnern, drehte das lachende
Gesicht ein paarmal schnell von rechts nach links, um alle
herbeizurufen und selbst nichts zu versäumen. Nun
standen alle und blickten hinuntersehend oder -suchend,
lächelnd oder ärgerlich, daß sie noch nicht entdeckt
hatten, was Lächerliches es gäbe.

Ich fühlte, daß ein wenig Angst in mir anfing. Etwas
drängte mich auf die andere Seite hinüber; aber ich
begann nur schneller zu gehen und überblickte
unwillkürlich die wenigen Leute vor mir, an denen ich nichts
Besonderes bemerkte. Doch ich sah, daß der eine, ein
Laufbursche mit einer blauen Schürze und einem leeren
Henkelkorb über der einen Schulter, jemandem
nachschaute. Als er genug hatte, drehte er sich auf derselben
Stelle nach den Häusern um und machte zu einem
lachenden Kommis hinüber die schwankende Bewegung
vor der Stirne, die allen geläufig ist. Dann blitzte er mit
den schwarzen Augen und kam mir befriedigt und sich
wiegend entgegen.

Ich erwartete, sobald mein Auge Raum hatte,
irgendeine ungewöhnliche und auffallende Figur zu sehen,
aber es zeigte sich, daß vor mir niemand ging, als ein
großer hagerer Mann in einem dunklen Überzieher und
mit einem weichen, schwarzen Hut auf dem kurzen,
fahlblonden Haar. Ich vergewisserte mich, daß weder
an der Kleidung, noch in dem Benehmen dieses Mannes
<<770>>
etwas Lächerliches sei, und versuchte schon, an ihm
vorüber den Boulevard hinunter zu schauen, als er über
irgend etwas stolperte. Da ich nahe hinter ihm folgte,
nahm ich mich in acht, aber als die Stelle kam, war da
nichts, rein nichts. Wir gingen beide weiter, er und ich,
der Abstand zwischen uns blieb derselbe. Jetzt kam ein
Straßenübergang, und da geschah es, daß der Mann vor
mir mit ungleichen Beinen die Stufen des Gangsteigs
hinunterhüpfte in der Art etwa, wie Kinder manchmal
während des Gehens aufhüpfen oder springen, wenn
sie sich freuen. Auf den jenseitigen Gangsteig kam er
einfach mit einem langen Schritt hinauf. Aber kaum
war er oben, zog er das eine Bein ein wenig an und
hüpfte auf dem anderen einmal hoch und gleich darauf
wieder und wieder. Jetzt konnte man diese plötzliche
Bewegung wieder ganz gut für ein Stolpern halten,
wenn man sich einredete, es wäre da eine Kleinigkeit
gewesen, ein Kern, die glitschige Schale einer Frucht,
irgend etwas; und das Seltsame war, daß der Mann
selbst an das Vorhandensein eines Hindernisses zu
glauben schien, denn er sah sich jedesmal mit jenem halb
ärgerlichen, halb vorwurfsvollen Blick, den die Leute
in solchen Augenblicken haben, nach der lästigen Stelle
um. Noch einmal rief mich etwas Warnendes auf die
andere Seite der Straße, aber ich folgte nicht und blieb
immerfort hinter diesem Manne, indem ich meine
ganze Aufmerksamkeit auf seine Beine richtete. Ich muß
gestehen, daß ich mich merkwürdig erleichtert fühlte,
als etwa zwanzig Schritte lang jenes Hüpfen nicht
wiederkam, aber da ich nun meine Augen aufhob,
be<<771>>
merkte ich, daß dem Manne ein anderes Ärgernis
entstanden war. Der Kragen seines Überziehers hatte sich
aufgestellt; und wie er sich auch, bald mit einer Hand,
bald mit beiden umständlich bemühte, ihn
niederzulegen, es wollte nicht gelingen. Das kam vor. Es
beunruhigte mich nicht. Aber gleich darauf gewahrte ich mit
grenzenloser Verwunderung, daß in den beschäftigten
Händen dieses Menschen zwei Bewegungen waren:
eine heimliche, rasche, mit welcher er den Kragen
unmerklich hochklappte, und jene andere ausführliche,
anhaltende, gleichsam übertrieben buchstabierte
Bewegung, die das Umlegen des Kragens bewerkstelligen
sollte. Diese Beobachtung verwirrte mich so sehr, daß
zwei Minuten vergingen, ehe ich erkannte, daß im
Halse des Mannes, hinter dem hochgeschobenen
Überzieher und den nervös agierenden Händen dasselbe
schreckliche, zweisilbige Hüpfen war, das seine Beine
eben verlassen hatte. Von diesem Augenblick an war
ich an ihn gebunden. Ich begriff, daß dieses Hüpfen in
seinem Körper herumirrte, daß es versuchte, hier und
da auszubrechen. Ich verstand seine Angst vor den
Leuten, und ich begann selber vorsichtig zu prüfen, ob die
Vorübergehenden etwas merkten. Ein kalter Stich fuhr
mir durch den Rücken, als seine Beine plötzlich einen
kleinen, zuckenden Sprung machten, aber niemand
hatte es gesehen, und ich dachte mir aus, daß auch ich
ein wenig stolpern wollte, im Falle jemand
aufmerksam wurde. Das wäre gewiß ein Mittel, Neugierige
glauben zu machen, es hätte da doch ein kleines,
unscheinbares Hindernis im Wege gelegen, auf das wir
<<772>>
zufällig beide getreten hätten. Aber während ich so auf
Hülfe sann, hatte er selbst einen neuen,
ausgezeichneten Ausweg gefunden. Ich habe vergessen zu sagen, daß
er einen Stock trug; nun, es war ein einfacher Stock,
aus dunklem Holze mit einem schlichten, rund
gebogenen Handgriff. Und es war ihm in seiner suchenden Angst
in den Sinn gekommen, diesen Stock zunächst mit einer
Hand (denn wer weiß, wozu die zweite noch nötig sein
würde) auf den Rücken zu halten, gerade über die
Wirbelsäule, ihn fest ins Kreuz zu drücken und das Ende
der runden Krücke in den Kragen zu schieben, so daß
man es hart und wie einen Halt hinter dem Halswirbel
und dem ersten Rückenwirbel spürte. Das war eine
Haltung, die nicht auffällig, höchstens ein wenig
übermütig war; der unerwartete Frühlingstag konnte das
entschuldigen. Niemandem fiel es ein, sich umzusehen,
und nun ging es. Es ging vortrefflich. Freilich beim
nächsten Straßenübergange kamen zwei Hüpfer aus,
zwei kleine, halbunterdrückte Hüpfer, die
vollkommen belanglos waren; und der eine, wirklich sichtbare
Sprung war so geschickt angebracht (es lag gerade ein
Spritzschlauch quer über dem Weg), daß nichts zu
befürchten war. Ja, noch ging alles gut; von Zeit zu Zeit
griff auch die zweite Hand an den Stock und preßte ihn
fester an, und die Gefahr war gleich wieder
überstanden. Ich konnte nichts dagegen tun, daß meine Angst
dennoch wuchs. Ich wußte, daß, während er ging und
mit unendlicher Anstrenglmg versuchte, gleichgültig
und zerstreut auszusehen, das furchtbare Zucken in
seinem Körper sich anhäufte; auch in mir war die Angst,
<<773>>
mit der er es wachsen und wachsen fühlte, und ich sah,
wie er sich an den Stock klammerte, wenn es innen in
ihm zu rütteln begann. Dann war der Ausdruck dieser
Hände so unerbittlich und streng, daß ich alle
Hoffnung in seinen Willen setzte, der groß sein mußte. Aber
was war da ein Wille. Der Augenblick mußte kommen,
da seine Kraft zu Ende war, er konnte nicht weit sein.
Und ich, der ich hinter ihm herging mit stark
schlagendem Herzen, ich legte mein bißchen Kraft zusammen
wie Geld, und indem ich auf seine Hände sah, bat ich
ihn, er möchte nehmen, wenn er es brauchte.

Ich glaube, daß er es genommen hat; was konnte ich
dafür, daß es nicht mehr war.

Auf der Place St-Michel waren viele Fahrzeuge und hin
und her eilende Leute, wir waren oft zwischen zwei
Wagen, und dann holte er Atem und ließ sich ein wenig
gehen, wie um auszuruhen, und ein wenig hüpfte es
und nickte ein wenig. Vielleicht war das die List, mit
der die gefangene Krankheit ihn überwinden wollte.
Der Wille war an zwei Stellen durchbrochen, und das
Nachgeben hatte in den besessenen Muskeln einen
leisen, lockenden Reiz zurückgelassen und den
zwingenden Zweitakt. Aber der Stock war noch an seinem
Platz, und die Hände sahen böse und zornig aus; so
betraten wir die Brücke, und es ging. Es ging. Nun kam
etwas Unsicheres in den Gang, nun lief er zwei Schritte,
und nun stand er. Stand. Die linke Hand löste sich leise
vom Stock ab und hob sich so langsam empor, daß ich
sie vor der Luft zittern sah; er schob den Hut ein wenig
zurück und strich sich über die Stirn. Er wandte ein
we<<774>>
nig den Kopf, und sein Blick schwankte über Himmel,
Häuser und Wasser hin, ohne zu fassen, und dann gab
er nach. Der Stock war fort, er spannte die Arme aus,
als ob er auffliegen wollte, und es brach aus ihm aus wie
eine Naturkraft und bog ihn vor und riß ihn zurück und
ließ ihn nicken und neigen und schleuderte Tanzkraft
aus ihm heraus unter die Menge. Denn schon waren
viele Leute um ihn, und ich sah ihn nicht mehr.

Was hätte es für einen Sinn gehabt, noch irgendwohin
zu gehen, ich war leer. Wie ein leeres Papier trieb ich
an den Häusern entlang, den Boulevard wieder hinauf.

* <fnot> <fn>*</fn> <fn>Ein</fn> <fn>Briefentwurf</fn> </fnot> Ich versuche es, Dir zu schreiben, obwohl es eigentlich
nichts giebt nach einem notwendigen Abschied. Ich
versuche es dennoch, ich glaube, ich muß es tun, weil ich
die Heilige gesehen habe im Pantheon, die einsame,
heilige Frau und das Dach und die Tür und drin die
Lampe mit dem bescheidnen Lichtkreis und drüben die
schlafende Stadt und den Fluß und die Ferne im
Mondschein. Die Heilige wacht über der schlafenden Stadt.
Ich habe geweint. Ich habe geweint, weil das alles auf
einmal so unerwartet da war. Ich habe davor geweint,
ich wußte mir nicht zu helfen.

Ich bin in Paris, die es hören freuen sich, die meisten
beneiden mich. Sie haben recht. Es ist eine große Stadt,
groß, voll merkwürdiger Versuchungen. Was mich
betrifft, ich muß zugeben, daß ich ihnen in gewisser
Beziehung erlegen bin. Ich glaube, es läßt sich nicht
anders sagen. Ich bin diesen Versuchungen erlegen, und
<<775>>
das hat gewisse Veränderungen zur Folge gehabt, wenn
nicht in meinem Charakter, so doch in meiner
Weltanschauung, jedenfalls in meinem Leben. Eine
vollkommen andere Auffassung aller Dinge hat sich unter diesen
Einflüssen in mir herausgebildet, es sind gewisse
Unterschiede da, die mich von den Menschen mehr als alles
Bisherige abtrennen. Eine veränderte Welt. Ein neues
Leben voll neuer Bedeutungen. Ich habe es
augenblicklich etwas schwer, weil alles zu neu ist. Ich bin ein
Anfänger in meinen eigenen Verhältnissen.

Ob es nicht möglich wäre, einmal das Meer zu sehen?

Ja, aber denke nur, ich bildete mir ein, Du könntest
kommen. Hättest Du mir vielleicht sagen können, ob es
einen Arzt giebt? Ich habe vergessen, mich danach zu
erkundigen. Übrigens brauche ich es jetzt nicht mehr.

Erinnerst Du Dich an Baudelaires unglaubliches
Gedicht >Une Charogne<? Es kann sein, daß ich es jetzt
verstehe. Abgesehen von der letzten Strophe war er im
Recht. Was sollte er tun, da ihm das widerfuhr? Es war
seine Aufgabe, in diesem Schrecklichen, scheinbar nur
Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das unter allem
Seienden gilt. Auswahl und Ablehnung giebt es nicht.
Hältst Du es für einen Zufall, daß Flaubert seinen
Saint-Julien-l'Hospitalier geschrieben hat? Es kommt mir
vor, als wäre das das Entscheidende: ob einer es über
sich bringt, sich zu dem Aussätzigen zu legen und ihn
zu erwärmen mit der Herzwärme der Liebesnächte, das
kann nicht anders als gut ausgehen.

Glaube nur nicht, daß ich hier an Enttäuschungen
leide, im Gegenteil. Es wundert mich manchmal, wie
be<<776>>
reit ich alles Erwartete aufgebe für das Wirkliche, selbst
wenn es arg ist.

Mein Gott, wenn etwas davon sich teilen ließe. Aber
wäre es dann, wäre es dann? Nein, es ist nur um den
Preis des Alleinseins.

Die Existenz des Entsetzlichen in jedem Bestandteil der
Luft. Du atmest es ein mit Durchsichtigem; in dir aber
schlägt es sich nieder, wird hart, nimmt spitze,
geometrische Forrnen an zwischen den Organen; denn alles,
was sich an Qual und Grauen begeben hat auf den
Richtplätzen, in den Folterstuben, den Tollhäusern, den
Operationssälen, unter den Brückenbögen im Nachherbst:
alles das ist von einer zähen Unvergänglichkeit, alles
das besteht auf sich und hängt, eifersüchtig auf alles
Seiende, an seiner schrecklichen Wirklichkeit. Die
Menschen möchten vieles davon vergessen dürfen; ihr Schlaf
feilt sanft über solche Furchen im Gehirn, aber
Träume drängen ihn ab und ziehen die Zeichnungen nach.
Und sie wachen auf und keuchen und lassen einer Kerze
Schein sich auflösen in der Finsternis und trinken, wie
gezuckertes Wasser, die halbhelle Beruhigung. Aber,
ach, auf welcher Kante hält sich diese Sicherheit. Nur
eine geringste Wendung, und schon wieder steht der
Blick über Bekanntes und Freundliches hinaus, und der
eben noch so tröstliche Kontur wird deutlicher als ein
Rand von Grauen. Hüte dich vor dem Licht, das den
Raum hohler macht; sieh dich nicht um, ob nicht
vielleicht ein Schatten hinter deinem Aufsitzen aufsteht
wie dein Herr. Besser vielleicht, du wärest in der
Dun<<777>>
kelheit geblieben und dein unabgegrenztes Herz hätte
versucht, all des Ununterscheidbaren schweres Herz zu
sein. Nun hast du dich zusammengenommen in dich,
siehst dich vor dir aufhören in deinen Händen, ziehst
von Zeit zu Zeit mit einer ungenauen Bewegung dein
Gesicht nach. Und in dir ist beinah kein Raum; und
fast stillt es dich, daß in dieser Engheit in dir
unmöglich sehr Großes sich aufhalten kann; daß auch das
Unerhörte binnen werden muß und sich beschränken den
Verhältnissen nach. Aber draußen, draußen ist es ohne
Absehen; und wenn es da draußen steigt, so füllt es sich
auch in dir, nicht in den Gefäßen, die teilweis in
deiner Macht sind, oder im Phlegma deiner
gleichmütigeren Organe: im Kapillaren nimmt es zu, röhrig
aufwärts gesaugt in die äußersten Verästelungen deines
zahlloszweigigen Daseins. Dort hebt es sich, dort
übersteigt es dich, kommt höher als dein Atem, auf den du
dich hinaufflüchtest wie auf deine letzte Stelle. Ach,
und wohin dann, wohin dann? Dein Herz treibt dich
aus dir hinaus, dein Herz ist hinter dir her, und du
stehst fast schon außer dir und kannst nicht mehr
zurück. Wie ein Käfer, auf den man tritt, so quillst du aus
dir hinaus, und dein bißchen obere Härte und
Anpassung ist ohne Sinn.

O Nacht ohne Gegenstände. O stumpfes Fenster hinaus,
o sorgsam verschlossene Türen; Einrichtungen von
alters her, übernommen, beglaubigt, nie ganz
verstanden. O Stille im Stiegenhaus, Stille aus den
Nebenzimmern, Stille hoch oben an der Decke. O Mutter: o du
Einzige, die alle diese Stille verstellt hat, einst in der
<<778>>
Kindheit. Die sie auf sich nimmt, sagt: erschrick nicht,
ich bin es. Die den Mut hat, ganz in der Nacht diese
Stille zu sein für das, was sich fürchtet, was verkommt
vor Furcht. Du zündest ein Licht an, und schon das
Geräusch bist du. Und du hältst es vor dich und sagst: ich
bin es, erschrick nicht. Und du stellst es hin, langsam,
und es ist kein Zweifel: du bist es, du bist das Licht um
die gewohnten herzlichen Dinge, die ohne Hintersinn
da sind, gut, einfältig, eindeutig. Und wenn es unruhigt
in der Wand irgendwo, oder einen Schritt macht in den
Dielen: so lächelst du nur, lächelst, lächelst
durchsichtig auf hellem Grund in das bangsame Gesicht, das an
dir forscht, als wärst du eins und unterm Geheimnis mit
jedem Halblaut, abgeredet mit ihm und einverstanden.
Gleicht eine Macht deiner Macht in der irdischen
Herrschaft? Sieh, Könige liegen und starren, und der
Geschichtenerzähler kann sie nicht ablenken. An den
seligen Brüsten ihrer Lieblingin überkriecht sie das Grauen
und macht sie schlottrig und lustlos. Du aber kommst
und hältst das Ungeheuere hinter dir und bist ganz und
gar vor ihm; nicht wie ein Vorhang, den es da oder da
aufschlagen kann. Nein, als hättest du es überholt auf
den Ruf hin, der dich bedurfte. Als wärest du weit
allem zuvorgekommen, was kommen kann, und hättest
im Rücken nur dein Hereilen, deinen ewigen Weg, den
Flug deiner Liebe.

Der Mouleur, an dem ich jeden Tag vorüberkomme, hat
zwei Masken neben seiner Tür ausgehängt. Das Gesicht
der jungen Ertränkten, das man in der Morgue abnahm,
<<779>>
weil es schön war, weil es lächelte, weil es so täuschend
lächelte, als wüßte es. Und darunter sein wissendes
Gesicht. Diesen harten Knoten aus fest
zusammengezogenen Sinnen. Diese unerbittliche Selbstverdichtung
fortwährend ausdampfen wollender Musik. Das Antlitz
dessen, dem ein Gott das Gehör verschlossen hat,
damit es keine Klänge gäbe, außer seinen. Damit er nicht
beirrt würde durch das Trübe und Hinfällige der
Geräusche. Er, in dem ihre Klarheit und Dauer war;
damit nur die tonlosen Sinne ihm Welt eintrügen, lautlos,
eine gespannte, wartende Welt, unfertig, vor der
Erschaffung des Klanges.

Weltvollendender: wie, was als Regen fällt über die
Erde und an die Gewässer, nachlässig niederfällt,
zufällig fallend, -- unsichtbarer und froh von Gesetz wieder
aufsteht aus allem und steigt und schwebt und die
Himmel bildet: so erhob sich aus dir der Aufstieg
unserer Niederschläge und umwölbte die Welt mit Musik.

Deine Musik: daß sie hätte um die Welt sein dürfen;
nicht um uns. Daß man dir ein Hammerklavier erbaut
hätte in der Thebaïs; und ein Engel hätte dich
hingeführt vor das einsame Instrument, durch die Reihen
der Wüstengebirge, in denen Könige ruhen und
Hetären und Anachoreten. Und er hätte sich hoch geworfen
und fort, ängstlich, daß du begännest.

Und dann hättest du ausgeströmt, Strömender,
ungehört; an das All zurückgebend, was nur das All erträgt.
Die Beduinen wären in der Ferne vorbeigejagt,
abergläubisch; die Kaufleute aber hätten sich hingeworfen
am Rand deiner Musik, als wärst du der Sturm.
Einzel<<780>>
ne Löwen nur hätten dich weit bei Nacht umkreist,
erschrocken vor sich selbst, von ihrem bewegten Blute
bedroht.

Denn wer holt dich jetzt aus den Ohren zurück, die
lüstern sind? Wer treibt sie aus den Musiksälen, die
Käuflichen mit dem unfruchtbaren Gehör, das hurt und
niemals empfängt? da strahlt Samen aus, und sie halten
sich unter wie Dirnen und spielen damit, oder er fällt,
während sie daliegen in ihren ungetanen
Befriedigungen, wie Samen Onans zwischen sie alle.

Wo aber, Herr, ein Jungfräulicher unbeschlafenen Ohrs
läge bei deinem Klang: er stürbe an Seligkeit oder er
trüge Unendliches aus und sein befruchtetes Hirn müßte
bersten an lauter Geburt.

Ich unterschätze es nicht. Ich weiß, es gehört Mut
dazu. Aber nehmen wir für einen Augenblick an, es hätte
ihn einer, diesen Courage de luxe, ihnen nachzugehen,
um dann für immer (denn wer könnte das wieder
vergessen oder verwechseln?) zu wissen, wo sie hernach
hineinkriechen und was sie den vielen übrigen Tag
beginnen und ob sie schlafen bei Nacht. Dies ganz
besonders wäre festzustellen: ob sie schlafen. Aber mit dem
Mut ist es noch nicht getan. Denn sie kommen und
gehen nicht wie die übrigen Leute, denen zu folgen eine
Kleinigkeit wäre. Sie sind da und wieder fort,
hingestellt und weggenommen wie Bleisoldaten. Es sind ein
wenig abgelegene Stellen, wo man sie findet, aber
durchaus nicht versteckte. Die Büsche treten zurück, der Weg
wendet sich ein wenig um den Rasenplatz herum: da
<<781>>
stehen sie und haben eine Menge durchsichtigen
Raumes um sich, als ob sie unter einem Glassturz stünden.
Du könntest sie für nachdenkliche Spaziergänger
halten, diese unscheinbaren Männer von kleiner, in jeder
Beziehung bescheidener Gestalt. Aber du irrst. Siehst
du die linke Hand, wie sie nach etwas greift in der
schiefen Tasche des alten Überziehers; wie sie es findet und
herausholt und den kleinen Gegenstand linkisch und
auffällig in die Luft hält? Es dauert keine Minute, so
sind zwei, drei Vögel da, Spatzen, die neugierig
heranhüpfen. Und wenn es dem Manne gelingt, ihrer sehr
genauen Auffassung von Unbeweglichkeit zu
entsprechen, so ist kein Grund, warum sie nicht noch näher
kommen sollen. Und schließlich steigt der erste und
schwirrt eine Weile nervös in der Höhe jener Hand,
die (weiß Gott) ein kleines Stück abgenutzten süßen
Brotes mit anspruchslosen, ausdrücklich verzichtenden
Fingern hinbietet. Und je mehr Menschen sich um ihn
sammeln, in entsprechendem Abstand natürlich, desto
weniger hat er mit ihnen gemein. Wie ein Leuchter
steht er da, der ausbrennt, und leuchtet mit dem Rest
von Docht und ist ganz warm davon und hat sich nie
gerührt. Und wie er lockt, wie er anlockt, das können
die vielen, kleinen, dummen Vögel gar nicht beurteilen.
Wenn die Zuschauer nicht wären und man ließe ihn
lange genug dastehn, ich bin sicher, daß auf einmal ein
Engel käme und überwände sich und äße den alten,
süßlichen Bissen aus der verkümmerten Hand. Dem sind
nun, wie immer, die Leute im Wege. Sie sorgen dafür,
daß nur Vögel kommen; sie finden das reichlich, und sie
<<782>>
behaupten, er erwarte sich nichts anderes. Was sollte sie
auch erwarten, diese alte, verregnete Puppe, die ein
wenig schräg in der Erde steckt wie die Schiffsfiguren in
den kleinen Gärten zuhause; kommt auch bei ihr diese
Haltung davon her, daß sie einmal irgendwo vorne
gestanden hat auf ihrem Leben, wo die Bewegung am
größten ist? Ist sie nun so verwaschen, weil sie einmal
bunt war? Willst du sie fragen?

Nur die Frauen frag nichts, wenn du eine füttern siehst.
Denen könnte man sogar folgen; sie tun es so im
Vorbeigehen; es wäre ein Leichtes. Aber laß sie. Sie wissen
nicht, wie es kam. Sie haben auf einmal eine Menge
Brot in ihrem Handsack, und sie halten große Stücke
hinaus aus ihrer dünnen Mantille, Stücke, die ein
bißchen gekaut sind und feucht. Das tut ihnen wohl, daß
ihr Speichel ein wenig in die Welt kommt, daß die
kleinen Vögel mit diesem Beigeschmack herumfliegen,
wenn sie ihn natürlich auch gleich wieder vergessen.

Da saß ich an deinen Büchern, Eigensinniger, und
versuchte sie zu meinen wie die andern, die dich nicht
beisammen lassen und sich ihren Anteil genommen haben,
befriedigt. Denn da begriff ich noch nicht den Ruhm,
diesen öffentlichen Abbruch eines Werdenden, in dessen
Bauplatz die Menge einbricht, ihm die Steine
verschiebend.

Junger Mensch irgendwo, in dem etwas aufsteigt, was
ihn erschauern macht, nütz es, daß dich keiner kennt.
Und wenn sie dir widersprechen, die dich für nichts
nehmen, und wenn sie dich ganz aufgeben, die, mit
<<783>>
denen du umgehst, und wenn sie dich ausrotten
wollen, um deiner lieben Gedanken willen, was ist diese
deutliche Gefahr, die dich zusammenhält in dir, gegen
die listige Feindschaft später des Ruhms, die dich
unschädlich macht, indem sie dich ausstreut.

Bitte keinen, daß er von dir spräche, nicht einmal
verächtlich. Und wenn die Zeit geht und du merkst,
wie dein Name herumkommt unter den Leuten, nimm
ihn nicht ernster als alles, was du in ihrem Munde
findest. Denk: er ist schlecht geworden, und tu ihn ab.
Nimm einen andern an, irgendeinen, damit Gott dich
rufen kann in der Nacht. Und verbirg ihn vor allen.

Du Einsamster, Abseitiger, wie haben sie dich
eingeholt auf deinem Ruhm. Wie lang ist es her, da waren
sie wider dich von Grund aus, und jetzt gehen sie mit
dir um, wie mit ihresgleichen. Und deine Worte führen
sie mit sich in den Käfigen ihres Dünkels und zeigen sie
auf den Plätzen und reizen sie ein wenig von ihrer
Sicherheit aus. Alle deine schrecklichen Raubtiere.
Da las ich dich erst, da sie mir ausbrachen und mich
anfielen in meiner Wüste, die Verzweifelten.
Verzweifelt, wie du selber warst am Schluß, du, dessen Bahn
falsch eingezeichnet steht in allen Karten. Wie ein
Sprung geht sie durch die Himmel, diese hoffnungslose
Hyperbel deines Weges, die sich nur einmal heranbiegt
an uns und sich entfernt voll Entsetzen. Was lag dir
daran, ob eine Frau bleibt oder fortgeht und ob einen
der Schwindel ergreift und einen der Wahnsinn und ob
Tote lebendig sind und Lebendige scheintot: was lag
dir daran? Dies alles war so natürlich für dich; da
<<784>>
gingst du durch, wie man durch einen Vorraum geht,
und hieltst dich nicht auf. Aber dort weiltest du und
warst gebückt, wo unser Geschehen kocht und sich
niederschlägt und die Farbe verändert, innen. Innerer
als dort, wo je einer war; eine Tür war dir
aufgesprungen, und nun warst du bei den Kolben im Feuerschein.
Dort, wohin du nie einen mitnahmst, Mißtrauischer,
dort saßest du und unterschiedest Übergänge. Und dort,
weil das Aufzeigen dir im Blute war und nicht das
Bilden oder das Sagen, dort faßtest du den ungeheuren
Entschluß, dieses Winzige, das du selber zuerst nur
durch Gläser gewahrtest, ganz allein gleich so zu
vergrößern, daß es vor Tausenden sei, riesig, vor allen.
Dein Theater entstand. Du konntest nicht warten, daß
dieses fast raumlose von den Jahrhunderten zu Tropfen
zusammengepreßte Leben von den anderen Künsten
gefunden und allmählich versichtbart werde für
einzelne, die sich nach und nach zusammenfinden zur
Einsicht und die endlich verlangen, gemeinsam die
erlauchten Gerüchte bestätigt zu sehen im Gleichnis der vor
ihnen aufgeschlagenen Szene. Dies konntest du nicht
abwarten, du warst da, du mußtest das kaum Meßbare:
ein Gefühl, das um einen halben Grad stieg, den
Ausschlagswinkel eines von fast nichts beschwerten Willens,
den du ablasest von ganz nah, die leichte Trübung in
einem Tropfen Sehnsucht und dieses Nichts von
Farbenwechsel in einem Atom von Zutrauen: dieses
mußtest du feststellen und aufbehalten; denn in solchen
Vorgängen war jetzt das Leben, unser Leben, das in
uns hineingeglitten war, das sich nach innen
zurückge<<785>>
zogen hatte, so tief, daß es kaum noch Vermutungen
darüber gab.

So wie du warst, auf das Zeigen angelegt, ein zeitlos
tragischer Dichter, mußtest du dieses Kapillare mit
einem Schlag umsetzen in die überzeugendsten
Gebärden, in die vorhandensten Dinge. Da gingst du an die
beispiellose Gewalttat deines Werkes, das immer
ungeduldiger, immer verzweifelter unter dem Sichtbaren
nach den Äquivalenten suchte für das innen Gesehene.
Da war ein Kaninchen, ein Bodenraum, ein Saal, in
dem einer auf und nieder geht: da war ein Glasklirren
im Nebenzimmer, ein Brand vor den Fenstern, da war
die Sonne. Da war eine Kirche und ein Felsental, das
einer Kirche glich. Aber das reichte nicht aus; schließlich
mußten die Türme herein und die ganzen Gebirge; und
die Lawinen, die die Landschaften begraben,
verschütteten die mit Greifbarem überladene Bühne um des
Unfaßlichen willen. Da konntst du nicht mehr. Die
beiden Enden, die du zusammengebogen hattest,
schnellten auseinander; deine wahnsinnige Kraft entsprang aus
dem elastischen Stab, und dein Werk war wie nicht.

Wer begriffe es sonst, daß du zum Schluß nicht vom
Fenster fortwolltest, eigensinnig wie du immer warst.
Die Vorübergehenden wolltest du sehen; denn es war
dir der Gedanke gekommen, ob man nicht eines Tages
etwas machen könnte aus ihnen, wenn man sich
entschlösse anzufangen.

Damals zuerst fiel es mir auf, daß man von einer Frau
nichts sagen könne; ich merkte, wenn sie von ihr
er<<786>>
zählten, wie sie sie aussparten, wie sie die anderen
nannten und beschrieben, die Umgebungen, die
Örtlichkeiten, die Gegenstände bis an eine bestimmte Stelle
heran, wo das alles aufhörte, sanft und gleichsam
vorsichtig aufhörte mit dem leichten, niemals
nachgezogenen Kontur, der sie einschloß. Wie war sie? fragte ich
dann. »Blond, ungefähr wie du«, sagten sie und
zählten allerhand auf, was sie sonst noch wußten; aber
darüber wurde sie wieder ganz ungenau, und ich konnte
mir nichts mehr vorstellen. Sehen eigentlich konnte ich
sie nur, wenn Maman mir die Geschichte erzählte, die
ich immer wieder verlangte --.

-- Dann pflegte sie jedesmal, wenn sie zu der Szene
mit dem Hunde kam, die Augen zu schließen und das
ganz verschlossene, aber überall durchscheinende
Gesicht irgendwie inständig zwischen ihre beiden Hände
zu halten, die es kalt an den Schläfen berührten. »Ich
hab es gesehen, Malte«, beschwor sie: »Ich hab es
gesehen.« Das war schon in ihren letzten Jahren, da ich
dies von ihr gehört habe. In der Zeit, wo sie niemanden
mehr sehen wollte und wo sie immer, auch auf Reisen,
das kleine, dichte, silberne Sieb bei sich hatte, durch
das sie alle Getränke seihte. Speisen von fester Form
nahm sie nie mehr zu sich, es sei denn etwas Biskuit
oder Brot, das sie, wenn sie allein war, zerbröckelte und
Krümel für Krümel aß, wie Kinder Krümel essen. Ihre
Angst vor Nadeln beherrschte sie damals schon völlig.
Zu den anderen sagte sie nur, um sich zu entschuldigen:
»Ich vertrage rein nichts mehr, aber es muß euch
nicht stören, ich befinde mich ausgezeichnet dabei.«
<<787>>
Zu mir aber konnte sie sich plötzlich hinwenden (denn
ich war schon ein bißchen erwachsen) und mit einem
Lächeln, das sie sehr anstrengte, sagen: »Was es doch
für viele Nadeln giebt, Malte, und wo sie überall
herumliegen, und wenn man bedenkt, wie leicht sie
herausfallen ...« Sie hielt darauf, es recht scherzend zu sagen;
aber das Entsetzen schüttelte sie bei dem Gedanken an
alle die schlecht befestigten Nadeln, die jeden
Augenblick irgendwo hineinfallen konnten.

Wenn sie aber von Ingeborg erzählte, dann konnte ihr
nichts geschehen; dann schonte sie sich nicht; dann
sprach sie lauter, dann lachte sie in der Erinnerung an
Ingeborgs Lachen, dann sollte man sehen, wie schön
Ingeborg gewesen war. »Sie machte uns alle froh«,
sagte sie, »deinen Vater auch, Malte, buchstäblich froh.
Aber dann, als es hieß, daß sie sterben würde, obwohl
sie doch nur ein wenig krank schien, und wir gingen
alle herum und verbargen es, da setzte sie sich einmal
im Bette auf und sagte so vor sich hin, wie einer, der
hören will, wie etwas klingt: >Ihr müßt euch nicht so
zusammennehmen; wir wissen es alle, und ich kann
euch beruhigen, es ist gut so wie es kommt, ich mag
nicht mehr.< Stell dir vor, sie sagte: >Ich mag nicht
mehr<; sie, die uns alle froh machte. Ob du das einmal
verstehen wirst, wenn du groß bist, Malte? Denk daran
später, vielleicht fällt es dir ein. Es wäre ganz gut, wenn
es jemanden gäbe, der solche Sachen versteht.«

>Solche Sachen< beschäftigten Maman, wenn sie allein
war, und sie war immer allein diese letzten Jahre.
<<788>>
»Ich werde ja nie darauf kommen, Malte«, sagte sie
manchmal mit ihrem eigentümlich kühnen Lächeln,
das von niemandem gesehen sein wollte und seinen
Zweck ganz erfüllte, indem es gelächelt ward. »Aber
daß es keinen reizt, das herauszufinden; wenn ich ein
Mann wäre, ja gerade wenn ich ein Mann wäre, würde
ich darüber nachdenken, richtig der Reihe und Ordnung
nach und von Anfang an. Denn einen Anfang muß es
doch geben, und wenn man ihn zu fassen bekäme, das
wäre immer schon etwas. Ach Malte, wir gehen so hin,
und mir kommt vor, daß alle zerstreut sind und
beschäftigt und nicht recht achtgeben, wenn wir
hingehen. Als ob eine Sternschnuppe fiele und es sieht sie
keiner und keiner hat sich etwas gewünscht. Vergiß nie,
dir etwas zu wünschen, Malte. Wünschen, das soll man
nicht aufgeben. Ich glaube, es giebt keine Erfüllung,
aber es giebt Wünsche, die lange vorhalten, das ganze
Leben lang, so daß man die Erfüllung doch gar nicht
abwarten könnte.«

Maman hatte Ingeborgs kleinen Sekretär hinauf in ihr
Zimmer stellen lassen, davor fand ich sie oft, denn ich
durfte ohne weiteres bei ihr eintreten. Mein Schritt
verging völlig in dem Teppich, aber sie fühlte mich und
hielt mir eine ihrer Hände über die andere Schulter hin.
Diese Hand war ganz ohne Gewicht, und sie küßte sich
fast wie das elfenbeinerne Kruzifix, das man mir abends
vor dem Einschlafen reichte. An diesem niederen
Schreibschrank, der mit einer Platte sich vor ihr
aufschlug, saß sie wie an einem Instrument. »Es ist so viel
Sonne drin«, sagte sie, und wirklich, das Innere war
<<789>>
merkwürdig hell, von altem, gelbem Lack, auf dem
Blumen gemalt waren, immer eine rote und eine blaue.
Und wo drei nebeneinanderstanden, gab es eine
violette zwischen ihnen, die die beiden anderen trennte.
Diese Farben und das Grün des schmalen,
waagerechten Rankenwerks waren ebenso verdunkelt in sich, wie
der Grund strahlend war, ohne eigentlich klar zu sein.
Das ergab ein seltsam gedämpftes Verhältnis von
Tönen, die in innerlichen gegenseitigen Beziehungen
standen, ohne sich über sie auszusprechen.

Maman zog die kleinen Laden heraus, die alle leer
waren.

»Ach, Rosen«, sagte sie und hielt sich ein wenig vor
in den trüben Geruch hinein, der nicht alle wurde. Sie
hatte dabei immer die Vorstellung, es könnte sich
plötzlich noch etwas finden in einem geheimen Fach, an das
niemand gedacht hatte und das nur dem Druck
irgendeiner versteckten Feder nachgab. »Auf einmal springt
es vor, du sollst sehen«, sagte sie ernst und ängstlich
und zog eilig an allen Laden. Was aber wirklich an
Papieren in den Fächern zurückgeblieben war, das hatte
sie sorgfältig zusammengelegt und eingeschlossen, ohne
es zu lesen. »Ich verstünde es doch nicht, Malte, es
wäre sicher zu schwer für mich.« Sie hatte die
Überzeugung, daß alles zu kompliziert für sie sei. »Es giebt
keine Klassen im Leben für Anfänger, es ist immer
gleich das Schwierigste, was von einem verlangt wird.«
Man versicherte mir, daß sie erst seit dem schrecklichen
Tode ihrer Schwester so geworden sei, der Gräfin
Öllegaard Skeel, die verbrannte, da sie sich vor einem Balle

<<790>>
am Leuchterspiegel die Blumen im Haar anders
anstecken wollte. Aber in letzter Zeit schien ihr doch
Ingeborg das, was am schwersten zu begreifen war.

Und nun will ich die Geschichte aufschreiben, so wie
Maman sie erzählte, wenn ich darum bat.

Es war mitten im Sommer, am Donnerstag nach
Ingeborgs Beisetzung. Von dem Platze auf der Terrasse,
wo der Tee genommen wurde, konnte man den Giebel
des Erbbegräbnisses sehen zwischen den riesigen
Ulmen hin. Es war so gedeckt worden, als ob nie eine
Person mehr an diesem Tisch gesessen hätte, und wir
saßen auch alle recht ausgebreitet herum. Und jeder
hatte etwas mitgebracht, ein Buch oder einen
Arbeitskorb, so daß wir sogar ein wenig beengt waren. Abelone
(Mamans jüngste Schwester) verteilte den Tee, und
alle waren beschäftigt, etwas herumzureichen, nur dein
Großvater sah von seinem Sessel aus nach dem Hause
hin. Es war die Stunde, da man die Post erwartete, und
es fügte sich meistens so, daß Ingeborg sie brachte, die
mit den Anordnungen für das Essen länger drin
zurückgehalten war. In den Wochen ihrer Krankheit hatten
wir nun reichlich Zeit gehabt, uns ihres Kommens zu
entwöhnen; denn wir wußten ja, daß sie nicht kommen
könne. Aber an diesem Nachmittag, Malte, da sie
wirklich nicht mehr kommen konnte --: da kam sie.
Vielleicht war es unsere Schuld; vielleicht haben wir sie
gerufen. Denn ich erinnere mich, daß ich auf einmal
dasaß und angestrengt war, mich zu besinnen, was
denn eigentlich nun anders sei. Es war mir plötzlich
nicht möglich zu sagen, was; ich hatte es völlig
ver<<791>>
gessen. Ich blickte auf und sah alle andern dem Hause
zugewendet, nicht etwa auf eine besondere, auffällige
Weise, sondern so recht ruhig und alltäglich in ihrer
Erwartung. Und da war ich daran -- (mir wird ganz kalt,
Malte, wenn ich es denke) aber, Gott behüt mich, ich
war daran zu sagen: »Wo bleibt nur --« Da schoß schon
Cavalier, wie er immer tat, unter dem Tisch hervor
und lief ihr entgegen. Ich hab es gesehen, Malte, ich
hab es gesehen. Er lief ihr entgegen, obwohl sie nicht
kam; für ihn kam sie. Wir begriffen, daß er ihr
entgegenlief. Zweimal sah er sich nach uns um, als ob er
fragte. Dann raste er auf sie zu, wie immer, Malte,
genau wie immer, und erreichte sie; denn er begann
rund herum zu springen, Malte, um etwas, was nicht
da war, und dann hinauf an ihr, um sie zu lecken,
gerade hinauf. Wir hörten ihn winseln vor Freude, und
wie er so in die Höhe schnellte, mehrmals rasch
hintereinander, hätte man wirklich meinen können, er
verdecke sie uns mit seinen Sprüngen. Aber da heulte es
auf einmal, und er drehte sich von seinem eigenen
Schwunge in der Luft um und stürzte zurück,
merkwürdig ungeschickt, und lag ganz eigentümlich flach
da und rührte sich nicht. Von der andern Seite trat der
Diener aus dem Hause mit den Briefen. Er zögerte eine
Weile; offenbar war es nicht ganz leicht, auf unsere
Gesichter zuzugehen. Und dein Vater winkte ihm auch
schon, zu bleiben. Dein Vater, Malte, liebte keine
Tiere; aber nun ging er doch hin, langsam, wie mir schien,
und bückte sich über den Hund. Er sagte etwas zu dem
Diener, irgend etwas Kurzes, Einsilbiges. Ich sah, wie
<<792>>
der Diener hinzusprang, um Cavalier aufzuheben . Aber
da nahm dein Vater selbst das Tier und ging damit, als
wüßte er genau wohin, ins Haus hinein.

Einmal, als es über dieser Erzählung fast dunkel
geworden war, war ich nahe daran, Maman von der
>Hand< zu erzählen: in diesem Augenblick hätte ich
es gekonnt. Ich atmete schon auf, um anzufangen, aber
da fiel mir ein, wie gut ich den Diener begriffen hatte,
daß er nicht hatte kommen können auf ihre Gesichter
zu. Und ich fürchtete mich trotz der Dunkelheit vor
Mamans Gesicht, wenn es sehen würde, was ich
gesehen habe. Ich holte rasch noch einmal Atem, damit
es den Anschein habe, als hätte ich nichts anderes
gewollt. Ein paar Jahre hernach, nach der merkwürdigen
Nacht in der Galerie auf Urnekloster, ging ich
tagelang damit um, mich dem kleinen Erik anzuvertrauen.
Aber er hatte sich nach unserem nächtlichen Gespräch
wieder ganz vor mir zugeschlossen, er vermied mich;
ich glaube, daß er mich verachtete. Und gerade
deshalb wollte ich ihm von der >Hand< erzählen. Ich
bildete mir ein, ich würde in seiner Meinung gewinnen
(und das wünschte ich dringend aus irgendeinem
Grunde), wenn ich ihm begreiflich machen könnte, daß ich
das wirklich erlebt hatte. Erik aber war so geschickt im
Ausweichen, daß es nicht dazu kam. Und dann reisten
wir ja auch gleich. So ist es, wunderlich genug, das
erstemal, daß ich (und schließlich auch nur mir selber)
eine Begebenheit erzähle, die nun weit zurückliegt in
meiner Kindheit.
<<793>>
Wie klein ich damals noch gewesen sein muß, sehe ich
daran, daß ich auf dem Sessel kniete, um bequem auf
den Tisch hinaufzureichen, auf dem ich zeichnete. Es
war am Abend, im Winter, wenn ich nicht irre, in der
Stadtwohnung. Der Tisch stand in meinem Zimmer,
zwischen den Fenstern, und es war keine Lampe im
Zimmer, als die, die auf meine Blätter schien und auf
Mademoiselles Buch; denn Mademoiselle saß neben
mir, etwas zurückgerückt, und las. Sie war weit weg,
wenn sie las, ich weiß nicht, ob sie im Buche war; sie
konnte lesen, stundenlang, sie blätterte selten um, und
ich hatte den Eindruck, als würden die Seiten immer
voller unter ihr, als schaute sie Worte hinzu,
bestimmte Worte, die sie nötig hatte und die nicht da waren.
Das kam mir so vor, während ich zeichnete. Ich
zeichnete langsam, ohne sehr entschiedene Absicht, und sah
alles, wenn ich nicht weiter wußte, mit ein wenig nach
rechts geneigtem Kopfe an; so fiel mir immer am
raschesten ein, was noch fehlte. Es waren Offiziere zu
Pferd, die in die Schlacht ritten, oder sie waren mitten
drin, und das war viel einfacher, weil dann fast nur der
Rauch zu machen war, der alles einhüllte. Maman
freilich behauptet nun immer, daß es Inseln gewesen
waren, was ich malte; Inseln mit großen Bäumen und
einem Schloß und einer Treppe und Blumen am Rand,
die sich spiegeln sollten im Wasser. Aber ich glaube,
das erfindet sie, oder es muß später gewesen sein.

Es ist ausgemacht, daß ich an jenem Abend einen
Ritter zeichnete, einen einzelnen, sehr deutlichen
Ritter auf einem merkwürdig bekleideten Pferd. Er
<<794>>
wurde so bunt, daß ich oft die Stifte wechseln mußte,
aber vor allem kam doch der rote in Betracht, nach
dem ich immer wieder griff. Nun hatte ich ihn noch
einmal nötig; da rollte er (ich sehe ihn noch) quer über das
beschienene Blatt an den Rand und fiel, ehe ichs
verhindern konnte, an mir vorbei hinunter und war fort.
Ich brauchte ihn wirklich dringend, und es war recht
ärgerlich, ihm nun nachzuklettern. Ungeschickt, wie
ich war, kostete es mich allerhand Veranstaltungen,
hinunterzukommen; meine Beine schienen mir viel zu
lang, ich konnte sie nicht unter mir hervorziehen; die
zu lange eingehaltene knieende Stellung hatte meine
Glieder dumpf gemacht; ich wußte nicht, was zu mir
und was zum Sessel gehörte. Endlich kam ich doch,
etwas konfus, unten an und befand mich auf einem Fell,
das sich unter dem Tisch bis gegen die Wand hinzog.
Aber da ergab sich eine neue Schwierigkeit. Eingestellt
auf die Helligkeit da oben und noch ganz begeistert für
die Farben auf dem weißen Papier, vermochten meine
Augen nicht das geringste unter dem Tisch zu erkennen,
wo mir das Schwarze so zugeschlossen schien, daß ich
bange war, daran zu stoßen. Ich verließ mich also auf
mein Gefühl und kämmte, knieend und auf die linke
gestützt, mit der andern Hand in dem kühlen,
langhaarigen Teppich herum, der sich recht vertraulich
anfühlte; nur daß kein Bleistift zu spüren war. Ich bildete
mir ein, eine Menge Zeit zu verlieren, und wollte eben
schon Mademoiselle anrufen und sie bitten, mir die
Lampe zu halten, als ich merkte, daß für meine
unwillkürlich angestrengten Augen das Dunkel nach und
<<795>>
nach durchsichtiger wurde. Ich konnte schon hinten
die Wand unterscheiden, die mit einer hellen Leiste
abschloß; ich orientierte mich über die Beine des
Tisches; ich erkannte vor allem meine eigene,
ausgespreizte Hand, die sich ganz allein, ein bißchen wie ein
Wassertier, da unten bewegte und den Grund
untersuchte. Ich sah ihr, weiß ich noch, fast neugierig zu; es
kam mir vor, als könnte sie Dinge, die ich sie nicht
gelehrt hatte, wie sie da unten so eigenmächtig
herumtastete mit Bewegungen, die ich nie an ihr beobachtet
hatte. Ich verfolgte sie, wie sie vordrang, es
interessierte mich, ich war auf allerhand vorbereitet. Aber wie
hätte ich darauf gefaßt sein sollen, daß ihr mit einem
Male aus der Wand eine andere Hand entgegenkam,
eine größere, ungewöhnlich magere Hand, wie ich
noch nie eine gesehen hatte. Sie suchte in ähnlicher
Weise von der anderen Seite her, und die beiden
gespreizten Hände bewegten sich blind aufeinander zu.
Meine Neugierde war noch nicht aufgebraucht, aber
plötzlich war sie zu Ende, und es war nur Grauen da.
Ich fühlte, daß die eine von den Händen mir gehörte
und daß sie sich da in etwas einließ, was nicht wieder
gutzumachen war. Mit allem Recht, das ich auf sie
hatte, hielt ich sie an und zog sie flach und langsam
zurück, indem ich die andere nicht aus den Augen ließ,
die weitersuchte. Ich begriff, daß sie es nicht aufgeben
würde, ich kann nicht sagen, wie ich wieder hinaufkam.
Ich saß ganz tief im Sessel, die Zähne schlugen mir
aufeinander, und ich hatte so wenig Blut im Gesicht, daß
mir schien, es wäre kein Blau mehr in meinen Augen.
<<796>>
Mademoiselle --, wollte ich sagen und konnte es nicht,
aber da erschrak sie von selbst, sie warf ihr Buch hin
und kniete sich neben den Sessel und rief meinen
Namen; ich glaube, daß sie mich rüttelte. Aber ich war
ganz bei Bewußtsein. Ich schluckte ein paarmal; denn
nun wollte ich es erzählen.

Aber wie? Ich nahm mich unbeschreiblich zusammen,
aber es war nicht auszudrücken, so daß es einer begriff.
Gab es Worte für dieses Ereignis, so war ich zu klein,
welche zu finden. Und plötzlich ergriff mich die Angst,
sie könnten doch, über mein Alter hinaus, auf einmal
da sein, diese Worte, und es schien mir fürchterlicher
als alles, sie dann sagen zu müssen. Das Wirkliche da
unten noch einmal durchzumachen, anders,
abgewandelt, von Anfang an; zu hören, wie ich es zugebe, dazu
hatte ich keine Kraft mehr.

Es ist natürlich Einbildung, wenn ich nun behaupte,
ich hätte in jener Zeit schon gefühlt, daß da etwas in
mein Leben gekommen sei, geradeaus in meines, womit
ich allein würde herumgehen müssen, immer und
immer. Ich sehe mich in meinem kleinen Gitterbett liegen
und nicht schlafen und irgendwie ungenau
voraussehen, daß so das Leben sein würde: voll lauter
besonderer Dinge, die nur für Einen gemeint sind und die sich
nicht sagen lassen. Sicher ist, daß sich nach und nach
ein trauriger und schwerer Stolz in mir erhob. Ich
stellte mir vor, wie man herumgehen würde, voll von
Innerem und schweigsam. Ich empfand eine ungestüme
Sympathie für die Erwachsenen; ich bewunderte sie,
und ich nahm mir vor, ihnen zu sagen, daß ich sie
be<<797>>
wunderte. Ich nahm mir vor, es Mademoiselle zu sagen
bei der nächsten Gelegenheit.

Und dann kam eine von diesen Krankheiten, die darauf
ausgingen, mir zu beweisen, daß dies nicht das erste
eigene Erlebnis war. Das Fieber wühlte in mir und
holte von ganz unten Erfahrungen, Bilder, Tatsachen
heraus, von denen ich nicht gewußt hatte; ich lag da,
überhäuft mit mir, und wartete auf den Augenblick, da mir
befohlen würde, dies alles wieder in mich
hineinzuschichten, ordentlich, der Reihe nach. Ich begann, aber
es wuchs mir unter den Händen, es sträubte sich, es
war viel zu viel. Dann packte mich die Wut, und ich
warf alles in Haufen in mich hinein und preßte es
zusammen; aber ich ging nicht wieder darüber zu. Und da
schrie ich, halb offen wie ich war, schrie ich und schrie.
Und wenn ich anfing hinauszusehen aus mir, so standen
sie seit lange um mein Bett und hielten mir die Hände,
und eine Kerze war da, und ihre großen Schatten
rührten sich hinter ihnen. Und mein Vater befahl mir, zu
sagen, was es gäbe. Es war ein freundlicher,
gedämpfter Befehl, aber ein Befehl war es immerhin. Und er
wurde ungeduldig, wenn ich nicht antwortete.

Maman kam nie in der Nacht --, oder doch, einmal
kam sie. Ich hatte geschrieen und geschrieen, und
Mademoiselle war gekommen und Sieversen, die
Haushälterin, und Georg, der Kutscher; aber das hatte nichts
genutzt. Und da hatten sie endlich den Wagen nach
den Eltern geschickt, die auf einem großen Balle waren,
ich glaube beim Kronprinzen. Und auf einmal hörte ich
<<798>>
ihn hereinfahren in den Hof, und ich wurde still, saß
und sah nach der Tür. Und da rauschte es ein wenig in
den anderen Zimmern, und Maman kam herein in der
großen Hofrobe, die sie gar nicht in acht nahm, und lief
beinah und ließ ihren weißen Pelz hinter sich fallen und
nahm mich in die bloßen Arme. Und ich befühlte,
erstaunt und entzückt wie nie, ihr Haar und ihr kleines,
gepflegtes Gesicht und die kalten Steine an ihren Ohren
und die Seide am Rand ihrer Schultern, die nach
Blumen dufteten. Und wir blieben so und weinten zärtlich
und küßten uns, bis wir fühlten, daß der Vater da war
und daß wir uns trennen mußten. »Er hat hohes
Fieber«, hörte ich Maman schüchtern sagen, und der Vater
griff nach meiner Hand und zählte den Puls. Er war in
der Jägermeisteruniform mit dem schönen, breiten,
gewässerten blauen Band des Elefanten. »Was für ein
Unsinn, uns zu rufen«, sagte er ins Zimmer hinein, ohne
mich anzusehen. Sie hatten versprochen,
zurückzukehren, wenn es nichts Ernstliches wäre. Und Ernstliches
war es ja nichts. Auf meiner Decke aber fand ich
Mamans Tanzkarte und weiße Kamelien, die ich noch nie
gesehen hatte und die ich mir auf die Augen legte, als
ich merkte, wie kühl sie waren.

Aber was lang war, das waren die Nachmittage in
solchen Krankheiten. Am Morgen nach der schlechten
Nacht kam man immer in Schlaf, und wenn man
erwachte und meinte, nun wäre es wieder früh, so war es
Nachmittag und blieb Nachmittag und hörte nicht auf
Nachmittag zu sein. Da lag man so in dem
aufgeräum<<799>>
ten Bett und wuchs vielleicht ein wenig in den
Gelenken und war viel zu müde, um sich irgend etwas
vorzustellen. Der Geschmack vom Apfelmus hielt lange
vor, und das war schon alles mögliche, wenn man ihn
irgendwie auslegte, unwillkürlich, und die reinliche
Säure an Stelle von Gedanken in sich herumgehen ließ.
Später, wenn die Kräfte wiederkamen, wurden die
Kissen hinter einem aufgebaut, und man konnte aufsitzen
und mit Soldaten spielen; aber sie fielen so leicht um auf
dem schiefen Bett-Tisch und dann immer gleich die ganze
Reihe; und man war doch noch nicht so ganz im Leben
drin, um immer wieder von vorn anzufangen. Plötzlich
war es zuviel, und man bat, alles recht rasch
fortzunehmen, und es tat wohl, wieder nur die zwei Hände zu
sehen, ein bißchen weiter hin auf der leeren Decke.

Wenn Maman mal eine halbe Stunde kam und
Märchen vorlas (zum richtigen, langen Vorlesen war
Sieversen da), so war das nicht um der Märchen willen. Denn
wir waren einig darüber, daß wir Märchen nicht liebten.
Wir hatten einen anderen Begriff vom Wunderbaren.
Wir fanden, wenn alles mit natürlichen Dingen zuginge,
so wäre das immer am wunderbarsten. Wir gaben nicht
viel darauf, durch die Luft zu fliegen, die Feen
enttäuschten uns, und von den Verwandlungen in etwas
anderes erwarteten wir uns nur eine sehr oberflächliche
Abwechslung. Aber wir lasen doch ein bißchen, um
beschäftigt auszusehen; es war uns nicht angenehm, wenn
irgend jemand eintrat, erst erklären zu müssen, was wir
gerade taten; besonders Vater gegenüber waren wir von
einer übertriebenen Deutlichkeit.
<<800>>
Nur wenn wir ganz sicher waren, nicht gestört zu sein,
und es dämmerte draußen, konnte es geschehen, daß
wir uns Erinnerungen hingaben, gemeinsamen
Erinnerungen, die uns beiden alt schienen und über die wir
lächelten; denn wir waren beide groß geworden
seither. Es fiel uns ein, daß es eine Zeit gab, wo Maman
wünschte, daß ich ein kleines Mädchen wäre und nicht
dieser Junge, der ich nun einmal war. Ich hatte das
irgendwie erraten, und ich war auf den Gedanken
gekommen, manchmal nachmittags an Mamans Türe zu
klopfen. Wenn sie dann fragte, wer da wäre, so war ich
glücklich, draußen »Sophie« zu rufen, wobei ich meine
kleine Stimme so zierlich machte, daß sie mich in der
Kehle kitzelte. Und wenn ich dann eintrat (in dem
kleinen, mädchenhaften Hauskleid, das ich ohnehin trug,
mit ganz hinaufgerollten Ärmeln), so war ich einfach
Sophie, Mamans kleine Sophie, die sich häuslich
beschäftigte und der Maman einen Zopf flechten mußte,
damit keine Verwechslung stattfinde mit dem bösen
Malte, wenn er je wiederkäme. Erwünscht war dies
durchaus nicht; es war sowohl Maman wie Sophie
angenehm, daß er fort war, und ihre Unterhaltungen (die
Sophie immerzu mit der gleichen, hohen Stimme
fortsetzte) bestanden meistens darin, daß sie Maltes
Unarten aufzählten und sich über ihn beklagten. »Ach ja,
dieser Malte«, seufzte Maman. Und Sophie wußte eine
Menge über die Schlechtigkeit der Jungen im
allgemeinen, als kennte sie einen ganzen Haufen.
»Ich möchte wohl wissen, was aus Sophie geworden ist«,
sagte Maman dann plötzlich bei solchen Erinnerungen.
<<801>>
Darüber konnte nun Malte freilich keine Auskunft
geben. Aber wenn Maman vorschlug, daß sie gewiß
gestorben sei, dann widersprach er eigensinnig und
beschwor sie, dies nicht zu glauben, so wenig sich sonst
auch beweisen ließe.

Wenn ich das jetzt überdenke, kann ich mich wundern,
daß ich aus der Welt dieser Fieber doch immer wieder
ganz zurückkam und mich hineinfand in das überaus
gemeinsame Leben, wo jeder im Gefühl unterstützt
sein wollte, bei Bekanntem zu sein, und wo man sich so
vorsichtig im Verständlichen vertrug. Da wurde etwas
erwartet, und es kam oder es kam nicht, ein Drittes war
ausgeschlossen. Da gab es Dinge, die traurig waren,
einfür allemal, es gab angenehme Dinge und eine ganze
Menge nebensächlicher. Wurde aber einem eine Freude
bereitet, so war es eine Freude, und er hatte sich danach
zu benehmen. Im Grunde war das alles sehr einfach,
und wenn man es erst heraus hatte, so machte es sich
wie von selbst. In diese verabredeten Grenzen ging denn
auch alles hinein; die langen, gleichmäßigen
Schulstunden, wenn draußen der Sommer war; die
Spaziergänge, von denen man französisch erzählen mußte; die
Besuche, für die man hereingerufen wurde und die
einen drollig fanden, wenn man gerade traurig war,
und sich an einem belustigten wie an dem betrübten
Gesicht gewisser Vögel, die kein anderes haben. Und
die Geburtstage natürlich, zu denen man Kinder
eingeladen bekam, die man kaum kannte, verlegene Kinder,
die einen verlegen machten, oder dreiste, die einem
<<802>>
das Gesicht zerkratzten, und zerbrachen, was man
gerade bekommen hatte, und die dann plötzlich
fortfuhren, wenn alles aus Kästen und Laden herausgerissen
war und zu Haufen lag. Wenn man aber allein spielte,
wie immer, so konnte es doch geschehen, daß man diese
vereinbarte, im ganzen harmlose Welt unversehens
überschritt und unter Verhältnisse geriet, die völlig
verschieden waren und gar nicht abzusehen.

Mademoiselle hatte zuzeiten ihre Migräne, die
ungemein heftig auftrat, und das waren die Tage, an denen
ich schwer zu finden war. Ich weiß, der Kutscher wurde
dann in den Park geschickt, wenn es Vater einfiel, nach
mir zu fragen, und ich war nicht da. Ich konnte oben
von einem der Gastzimmer aus sehen, wie er hinauslief
und am Anfang der langen Allee nach mir rief. Diese
Gastzimmer befanden sich, eines neben dem anderen,
im Giebel von Ulsgaard und standen, da wir in dieser
Zeit sehr selten Hausbesuch hatten, fast immer leer.
Anschließend an sie aber war jener große Eckraum, der
eine so starke Verlockung für mich hatte. Es war nichts
darin zu finden als eine alte Büste, die, ich glaube, den
Admiral Juel darstellte, aber die Wände waren ringsum
mit tiefen, grauen Wandschränken verschalt, derart,
daß sogar das Fenster erst über den Schränken
angebracht war in der leeren, geweißten Wand. Den
Schlüssel hatte ich an einer der Schranktüren entdeckt, und
er schloß alle anderen. So hatte ich in kurzem alles
untersucht: die Kammerherrenfräcke aus dem
achtzehnten Jahrhundert, die ganz kalt waren von den
eingewebten Silberfäden, und die schön gestickten Westen
<<803>>
dazu; die Trachten des Dannebrog- und des
Elefantenordens, die man erst für Frauenkleider hielt, so reich
und umständlich waren sie und so sanft im Futter
anzufühlen. Dann wirkliche Roben, die, von ihren
Unterlagen auseinander gehalten, steif dahingen wie die
Marionetten eines zu großen Stückes, das so endgültig aus
der Mode war, daß man ihre Köpfe anders verwendet
hatte. Daneben aber waren Schränke, in denen es
dunkel war, wenn man sie aufmachte, dunkel von
hochgeschlossenen Uniformen, die viel gebrauchter aussahen
als alles das andere und die eigentlich wünschten, nicht
erhalten zu sein.

Niemand wird es verwunderlich finden, daß ich das
alles herauszog und ins Licht neigte; daß ich das und
jenes an mich hielt oder umnahm; daß ich ein Kostüm,
welches etwa passen konnte, hastig anzog und darin,
neugierig und aufgeregt, in das nächste
Fremdenzimmer lief, vor den schmalen Pfeilerspiegel, der aus
einzelnen ungleich grünen Glasstücken zusammengesetzt
war. Ach, wie man zitterte, drin zu sein, und wie
hinreißend war es, wenn man es war. Wenn da etwas aus
dem Trüben heraus sich näherte, langsamer als man
selbst, denn der Spiegel glaubte es gleichsam nicht und
wollte, schläfrig wie er war, nicht gleich nachsprechen,
was man ihm vorsagte. Aber schließlich mußte er
natürlich. Und nun war es etwas sehr Überraschendes,
Fremdes, ganz anders, als man es sich gedacht hatte,
etwas Plötzliches, Selbständiges, das man rasch
überblickte, um sich im nächsten Augenblick doch zu
erkennen, nicht ohne eine gewisse Ironie, die um ein Haar
<<804>>
das ganze Vergnügen zerstören konnte. Wenn man aber
sofort zu reden begann, sich zu verbeugen, wenn man
sich zuwinkte, sich, fortwährend zurückblickend,
entfernte und dann entschlossen und angeregt wiederkam,
so hatte man die Einbildung auf seiner Seite, solang es
einem gefiel.

Ich lernte damals den Einfluß kennen, der unmittelbar
von einer bestimmten Tracht ausgehen kann. Kaum
hatte ich einen dieser Anzüge angelegt, mußte ich mir
eingestehen, daß er mich in seine Macht bekam; daß er
mir meine Bewegungen, meinen Gesichtsausdruck, ja
sogar meine Einfälle vorschrieb; meine Hand, über die
die Spitzenmanschette fiel und wieder fiel, war
durchaus nicht meine gewöhnliche Hand; sie bewegte sich
wie ein Akteur, ja, ich möchte sagen, sie sah sich selber
zu, so übertrieben das auch klingt. Diese Verstellungen
gingen indessen nie so weit, daß ich mich mir selber
entfremdet fühlte; im Gegenteil, je vielfältiger ich mich
abwandelte, desto überzeugter wurde ich von mir selbst.
Ich wurde kühner und kühner; ich warf mich immer
höher; denn meine Geschicklichkeit im Auffangen war
über allen Zweifel. Ich merkte nicht die Versuchung in
dieser rasch wachsenden Sicherheit. Zu meinem
Verhängnis fehlte nur noch, daß der letzte Schrank, den
ich bisher meinte nicht öffnen zu können, eines Tages
nachgab, um mir, statt bestimmter Trachten, allerhand
vages Maskenzeug auszuliefern, dessen phantastisches
Ungefähr mir das Blut in die Wangen trieb. Es läßt
sich nicht aufzählen, was da alles war. Außer einer
Bautta, deren ich mich entsinne, gab es Dominos in
<<805>>
verschiedenen Farben, es gab Frauenröcke, die hell
läuteten von den Münzen, mit denen sie benäht waren; es
gab Pierrots, die mir albern vorkamen, und faltige,
türkische Hosen und persische Mützen, aus denen kleine
Kampfersäckchen herausglitten, und Kronreifen mit
dummen, ausdruckslosen Steinen. Dies alles verachtete
ich ein wenig; es war von so dürftiger Unwirklichkeit
und hing so abgebalgt und armsälig da und schlappte
willenlos zusammen, wenn man es herauszerrte ans
Licht. Was mich aber in eine Art von Rausch versetzte,
das waren die geräumigen Mäntel, die Tücher, die
Schals, die Schleier, alle diese nachgiebigen, großen,
unverwendeten Stoffe, die weich und schmeichelnd
waren oder so gleitend, daß man sie kaum zu fassen
bekam, oder so leicht, daß sie wie ein Wind an einem
vorbeiflogen, oder einfach schwer mit ihrer ganzen Last.
In ihnen erst sah ich wirklich freie und unendlich
bewegliche Möglichkeiten: eine Sklavin zu sein, die
verkauft wird, oder Jeanne d'Arc zu sein oder ein alter
König oder ein Zauberer; das alles hatte man jetzt in der
Hand, besonders da auch Masken da waren, große
drohende oder erstaunte Gesichter mit echten Bärten und
vollen oder hochgezogenen Augenbrauen. Ich hatte nie
Masken gesehen vorher, aber ich sah sofort ein, daß es
Masken geben müsse. Ich mußte lachen, als mir einfiel,
daß wir einen Hund hatten, der sich ausnahm, als trüge
er eine. Ich stellte mir seine herzlichen Augen vor, die
immer wie von hinten hineinsahen in das behaarte
Gesicht. Ich lachte noch, während ich mich verkleidete,
und ich vergaß darüber völlig, was ich eigentlich
vor<<806>>
stellen wollte. Nun, es war neu und spannend, das erst
nachträglich vor dem Spiegel zu entscheiden. Das
Gesicht, das ich vorband, roch eigentümlich hohl, es legte
sich fest über meines, aber ich konnte bequem
durchsehen, und ich wählte erst, als die Maske schon saß,
allerhand Tücher, die ich in der Art eines Turbans um
den Kopf wand, so daß der Rand der Maske, der unten
in einen riesigen gelben Mantel hineinreichte, auch
oben und seitlich fast ganz verdeckt war. Schließlich,
als ich nicht mehr konnte, hielt ich mich für
hinreichend vermummt. Ich ergriff noch einen großen Stab,
den ich, soweit der Arm reichte, neben mir hergehen
ließ, und schleppte so, nicht ohne Mühe, aber, wie mir
vorkam, voller Würde, in das Fremdenzimmer hinein
auf den Spiegel zu.

Das war nun wirklich großartig, über alle Erwartung.
Der Spiegel gab es auch augenblicklich wieder, es war zu
überzeugend. Es wäre gar nicht nötig gewesen, sich viel
zu bewegen; diese Erscheinung war vollkommen, auch
wenn sie nichts tat. Aber es galt zu erfahren, was ich
eigentlich sei, und so drehte ich mich ein wenig und erhob
schließlich die beiden Arme: große, gleichsam
beschwörende Bewegungen, das war, wie ich schon merkte, das
einzig Richtige. Doch gerade in diesem feierlichen
Moment vernahm ich, gedämpft durch meine
Vermummung, ganz in meiner Nähe einen vielfach
zusammengesetzten Lärm; sehr erschreckt, verlor ich das Wesen
da drüben aus den Augen und war arg verstimmt, zu
gewahren, daß ich einen kleinen, runden Tisch
umgeworfen hatte mit weiß der Himmel was für,
wahrschein<<807>>
lich sehr zerbrechlichen Gegenständen. Ich bückte mich
so gut ich konnte und fand meine schlimmste
Erwartung bestätigt: es sah aus, als sei alles entzwei. Die
beiden überflüssigen, grün-violetten Porzellanpapageien
waren natürlich, jeder auf eine andere boshafte Art,
zerschlagen. Eine Dose, aus der Bonbons rollten, die
aussahen wie seidig eingepuppte Insekten, hatte ihren
Deckel weit von sich geworfen, man sah nur seine eine
Hälfte, die andere war überhaupt fort. Das
Ärgerlichste aber war ein in tausend winzige Scherben
zerschellter Flacon, aus dem der Rest irgendeiner alten Essenz
herausgespritzt war, der nun einen Fleck von sehr
widerlicher Physiognomie auf dem klaren Parkett bildete.
Ich trocknete ihn schnell mit irgendwas auf, das an mir
herunterhing, aber er wurde nur schwärzer und
unangenehmer. Ich war recht verzweifelt. Ich erhob mich
und suchte nach irgendeinem Gegenstand, mit dem ich
das alles gutmachen konnte. Aber es fand sich keiner.
Auch war ich so behindert im Sehen und in jeder
Bewegung, daß die Wut in mir aufstieg gegen meinen
unsinnigen Zustand, den ich nicht mehr begriff. Ich
zerrte an allem, aber es schloß sich nur noch enger an.
Die Schnüre des Mantels würgten mich, und das Zeug
auf meinem Kopfe drückte, als käme immer noch mehr
hinzu. Dabei war die Luft trübe geworden und wie
beschlagen mit dem ältlichen Dunst der verschütteten
Flüssigkeit.

Heiß und zornig stürzte ich vor den Spiegel und sah
mühsam durch die Maske durch, wie meine Hände
arbeiteten. Aber darauf hatte er nur gewartet. Der
Augen<<808>>
blick der Vergeltung war für ihn gekommen. Während
ich in maßlos zunehmender Beklemmung mich
anstrengte, mich irgendwie aus meiner Vermummung
hinauszuzwängen, nötigte er mich, ich weiß nicht
womit, aufzusehen und diktierte mir ein Bild, nein, eine
Wirklichkeit, eine fremde, unbegreifliche monströse
Wirklichkeit, mit der ich durchtränkt wurde gegen
meinen Willen: denn jetzt war er der Stärkere, und ich
war der Spiegel. Ich starrte diesen großen,
schrecklichen Unbekannten vor mir an, und es schien mir
ungeheuerlich, mit ihm allein zu sein. Aber in demselben
Moment, da ich dies dachte, geschah das Äußerste: ich
verlor allen Sinn, ich fiel einfach aus. Eine Sekunde lang
hatte ich eine unbeschreibliche, wehe und vergebliche
Sehnsucht nach mir, dann war nur noch er: es war
nichts außer ihm.

Ich rannte davon, aber nun war er es, der rannte. Er
stieß überall an, er kannte das Haus nicht, er wußte
nicht wohin; er geriet eine Treppe hinunter, er fiel auf
dem Gange über eine Person her, die sich schreiend
freimachte. Eine Tür ging auf, es traten mehrere Menschen
heraus: Ach, ach, was war das gut, sie zu kennen. Das
war Sieversen, die gute Sieversen, und das
Hausmädchen und der Silberdiener: nun mußte es sich
entscheiden. Aber sie sprangen nicht herzu und retteten; ihre
Grausamkeit war ohne Grenzen. Sie standen da und
lachten, mein Gott, sie konnten dastehn und lachen.
Ich weinte, aber die Maske ließ die Tränen nicht hinaus,
sie rannen innen über mein Gesicht und trockneten
gleich und rannen wieder und trockneten. Und endlich
<<809>>
kniete ich hin vor ihnen, wie nie ein Mensch gekniet hat;
ich kniete und hob meine Hände zu ihnen auf und
flehte: »Herausnehmen, wenn es noch geht, und behalten«,
aber sie hörten es nicht; ich hatte keine Stimme mehr.

Sieversen erzählte bis an ihr Ende, wie ich
umgesunken wäre und wie sie immer noch weitergelacht hätten
in der Meinung, das gehöre dazu. Sie waren es so
gewöhnt bei mir. Aber dann wäre ich doch immerzu
liegengeblieben und hätte nicht geantwortet. Und der
Schrecken, als sie endlich entdeckten, daß ich ohne
Besinnung sei und dalag wie ein Stück in allen den
Tüchern, rein wie ein Stück.

Die Zeit ging unberechenbar schnell, und auf einmal
war es schon wieder so weit, daß der Prediger Dr.
Jespersen geladen werden mußte. Das war dann für alle
Teile ein mühsames und langwieriges Frühstück.
Gewohnt an die sehr fromme Nachbarschaft, die sich
jedesmal ganz auflöste um seinetwillen, war er bei uns
durchaus nicht an seinem Platz; er lag sozusagen auf
dem Land und schnappte. Die Kiemenatmung, die er
an sich ausgebildet hatte, ging beschwerlich vor sich, es
bildeten sich Blasen, und das Ganze war nicht ohne
Gefahr. Gesprächsstoff war, wenn man genau sein will,
überhaupt keiner da; es wurden Reste veräußert zu
unglaublichen Preisen, es war eine Liquidation aller
Bestände. Dr. Jespersen mußte sich bei uns darauf
beschränken, eine Art von Privatmann zu sein; das gerade
aber war er nie gewesen. Er war, soweit er denken
konnte, im Seelenfach angestellt. Die Seele war eine
öffent<<810>>
liche Institution für ihn, die er vertrat, und er brachte
es zuwege, niemals außer Dienst zu sein, selbst nicht im
Umgang mit seiner Frau, »seiner bescheidenen, treuen,
durch Kindergebären seligwerdenden Rebekka«, wie
Lavater sich in einem anderen Fall ausdrückte.
<amRand> (Was übrigens meinen Vater betraf, so war seine
Haltung Gott gegenüber vollkommen korrekt und von
tadelloser Höflichkeit. In der Kirche schien es mir
manchmal, als wäre er geradezu Jägermeister bei Gott, wenn
er dastand und abwartete und sich verneigte. Maman
dagegen erschien es fast verletzend, daß jemand zu Gott
in einem höflichen Verhältnis stehen konnte. Wäre sie
in eine Religion mit deutlichen und ausführlichen
Gebräuchen geraten, es wäre eine Seligkeit für sie
gewesen, stundenlang zu knien und sich hinzuwerfen und
sich recht mit dem großen Kreuz zu gebärden vor der
Brust und um die Schultern herum. Sie lehrte mich
nicht eigentlich beten, aber es war ihr eine Beruhigung,
daß ich gerne kniete und die Hände bald gekrümmt und
bald aufrecht faltete, wie es mir gerade ausdrucksvoller
schien. Ziemlich in Ruhe gelassen, machte ich frühzeitig
eine Reihe von Entwickelungen durch, die ich erst viel
später in einer Zeit der Verzweiflung auf Gott bezog, und
zwar mit solcher Heftigkeit, daß er sich bildete und
zersprang, fast in demselben Augenblick. Es ist klar, daß ich
ganz von vorn anfangen mußte hernach. Und bei diesem
Anfang meinte ich manchmal, Maman nötig zu haben,
obwohl es ja natürlich richtiger war, ihn allein
durchzumachen. Und da war sie ja auch schon lange tot.) </amRand>
<<811>>
Dr. Jespersen gegenüber konnte Maman beinah
ausgelassen sein. Sie ließ sich in Gespräche mit ihm ein, die
er ernst nahm, und wenn er dann sich reden hörte,
meinte sie, das genüge, und vergaß ihn plötzlich, als
wäre er schon fort. »Wie kann er nur«, sagte sie
manchmal von ihm, »herumfahren und hineingehen zu den
Leuten, wenn sie gerade sterben.«

Er kam auch zu ihr bei dieser Gelegenheit, aber sie hat
ihn sicher nicht mehr gesehen. Ihre Sinne gingen ein,
einer nach dem andern, zuerst das Gesicht. Es war im
Herbst, man sollte schon in die Stadt ziehen, aber da
erkrankte sie gerade, oder vielmehr, sie fing gleich an zu
sterben, langsam und trostlos abzusterben an der
ganzen Oberfläche. Die Ärzte kamen, und an einem
bestimmten Tag waren sie alle zusammen da und
beherrschten das ganze Haus. Es war ein paar Stunden
lang, als gehörte es nun dem Geheimrat und seinen
Assistenten und als hätten wir nichts mehr zu sagen. Aber
gleich danach verloren sie alles Interesse, kamen nur
noch einzeln, wie aus purer Höflichkeit, um eine
Zigarre anzunehmen und ein Glas Portwein. Und Maman
starb indessen.

Man wartete nur noch auf Mamans einzigen Bruder,
den Grafen Christian Brahe, der, wie man sich noch
erinnern wird, eine Zeitlang in türkischen Diensten
gestanden hatte, wo er, wie es immer hieß, sehr
ausgezeichnet worden war. Er kam eines Morgens an in
Begleitung eines fremdartigen Dieners, und es überraschte
mich, zu sehen, daß er größer war als Vater und
scheinbar auch älter. Die beiden Herren wechselten sofort
<<812>>
einige Worte, die sich, wie ich vermutete, auf Maman
bezogen. Es entstand eine Pause. Dann sagte mein Vater:
»Sie ist sehr entstellt.« Ich begriff diesen Ausdruck
nicht, aber es fröstelte mich, da ich ihn hörte. Ich hatte
den Eindruck, als ob auch mein Vater sich hätte
überwinden müssen, ehe er ihn aussprach. Aber es war wohl
vor allem sein Stolz, der litt, indem er dies zugab.

Mehrere Jahre später erst hörte ich wieder von dem
Grafen Christian reden. Es war auf Urnekloster, und
Mathilde Brahe war es, die mit Vorliebe von ihm sprach.
Ich bin indessen sicher, daß sie die einzelnen Episoden
ziemlich eigenmächtig ausgestaltete, denn das Leben
meines Onkels, von dem immer nur Gerüchte in die
Öffentlichkeit und selbst in die Familie drangen,
Gerüchte, die er nie widerlegte, war geradezu grenzenlos
auslegbar. Urnekloster ist jetzt in seinem Besitz. Aber
niemand weiß, ob er es bewohnt. Vielleicht reist er
immer noch, wie es seine Gewohnheit war; vielleicht ist die
Nachricht seines Todes aus irgendeinem äußersten
Erdteil unterwegs, von der Hand des fremden Dieners
geschrieben in schlechtem Englisch oder in irgendeiner
unbekannten Sprache. Vielleicht auch giebt dieser Mensch
kein Zeichen von sich, wenn er eines Tages allein
zurückbleibt. Vielleicht sind sie beide längst verschwunden und
stehen nur noch auf der Schiffsliste eines verschollenen
Schiffes unter Namen, die nicht die ihren waren.

Freilich, wenn damals auf Urnekloster ein Wagen
einfuhr, so erwartete ich immer, ihn eintreten zu sehen,
und mein Herz klopfte auf eine besondere Art. Mathilde
<<813>>
Brahe behauptete: so käme er, das wäre so seine
Eigenheit, plötzlich da zu sein, wenn man es am wenigsten
für möglich hielte. Er kam nie, aber meine
Einbildungskraft beschäftigte sich wochenlang mit ihm, ich hatte
das Gefühl, als wären wir einander eine Beziehung
schuldig, und ich hätte gern etwas Wirkliches von ihm
gewußt.

Als indessen bald darauf mein Interesse umschlug und
infolge gewisser Begebenheiten ganz auf Christine Brahe
überging, bemühte ich mich eigentümlicherweise nicht,
etwas von ihren Lebensumständen zu erfahren.
Dagegen beunruhigte mich der Gedanke, ob ihr Bildnis wohl
in der Galerie vorhanden sei. Und der Wunsch, das
festzustellen, nahm so einseitig und quälend zu, daß ich
mehrere Nächte nicht schlief, bis, ganz unvermutet, diejenige
da war, in der ich, weiß Gott, aufstand und hinaufging
mit meinem Licht, das sich zu fürchten schien.

Was mich angeht, so dachte ich nicht an Furcht. Ich
dachte überhaupt nicht; ich ging. Die hohen Türen
gaben so spielend nach vor mir und über mir, die Zimmer,
durch die ich kam, hielten sich ruhig. Und endlich
merkte ich an der Tiefe, die mich anwehte, daß ich in
die Galerie getreten sei. Ich fühlte auf der rechten Seite
die Fenster mit der Nacht, und links mußten die Bilder
sein. Ich hob mein Licht so hoch ich konnte. Ja: da
waren die Bilder.

Erst nahm ich mir vor, nur nach den Frauen zu sehen,
aber dann erkannte ich eines und ein anderes, das
ähnlich in Ulsgaard hing, und wenn ich sie so von unten
beschien, so rührten sie sich und wollten ans Licht, und
<<814>>
es schien mir herzlos, das nicht wenigstens abzuwarten.
Da war immer wieder Christian der Vierte mit der schön
geflochtenen Cadenette neben der breiten, langsam
gewölbten Wange. Da waren vermutlich seine Frauen, von
denen ich nur Kirstine Munk kannte; und plötzlich
sah mich Frau Ellen Marsvin an, argwöhnisch in ihrer
Witwentracht und mit derselben Perlenschnur auf der
Krempe des hohen Huts. Da waren König Christians
Kinder: immer wieder frische aus neuen Frauen, die
>unvergleichliche< Eleonore auf einem weißen
Paßgänger in ihrer glänzendsten Zeit, vor der Heimsuchung.
Die Gyldenlöves: Hans Ulrik, von dem die Frauen in
Spanien meinten, daß er sich das Antlitz male, so voller
Blut war er, und Ulrik Christian, den man nicht wieder
vergaß. Und beinah alle Ulfelds. Und dieser da, mit dem
einen schwarzübermalten Auge, konnte wohl Henrik
Holck sein, der mit dreiunddreißig Jahren Reichsgraf
war und Feldmarschall, und das kam so: ihm träumte
auf dem Wege zu Jungfrau Hilleborg Krafse, es würde
ihm statt der Braut ein bloßes Schwert gegeben: und
er nahm sichs zu Herzen und kehrte um und begann
sein kurzes, verwegenes Leben, das mit der Pest endete.
Die kannte ich alle. Auch die Gesandten vom Kongreß
zu Nimwegen hatten wir auf Ulsgaard, die einander ein
wenig glichen, weil sie alle auf einmal gemalt worden
waren, jeder mit der schmalen, gestutzten Bartbraue
über dem sinnlichen, fast schauenden Munde. Daß ich
Herzog Ulrich erkannte, ist selbstverständlich, und Otte
Brahe und Claus Daa und Sten Rosensparre, den Letzten
seines Geschlechts; denn von ihnen allen hatte ich
Bil<<815>>
der im Saal zu Ulsgaard gesehen, oder ich hatte in alten
Mappen Kupferstiche gefunden, die sie darstellten.

Aber dann waren viele da, die ich nie gesehen hatte;
wenige Frauen, aber es waren Kinder da. Mein Arm
war längst müde geworden und zitterte, aber ich hob
doch immer wieder das Licht, um die Kinder zu sehen.
Ich begriff sie, diese kleinen Mädchen, die einen Vogel
auf der Hand trugen und ihn vergaßen. Manchmal saß
ein kleiner Hund bei ihnen unten, ein Ball lag da, und
auf dem Tisch nebenan gab es Früchte und Blumen;
und dahinter an der Säule hing, klein und vorläufig, das
Wappen der Grubbe oder der Bille oder der Rosenkrantz.
So viel hatte man um sie zusammengetragen, als ob eine
Menge gutzumachen wäre. Sie aber standen einfach in
ihren Kleidern und warteten; man sah, daß sie warteten.
Und da mußte ich wieder an die Frauen denken und an
Christine Brahe, und ob ich sie erkennen würde.

Ich wollte rasch bis ganz ans Ende laufen und von dort
zurückgehen und suchen, aber da stieß ich an etwas.
Ich drehte mich so jäh herum, daß der kleine Erik
zurücksprang und flüsterte: »Gieb acht mit deinem
Licht.«

»Du bist da?« sagte ich atemlos, und ich war nicht im
klaren, ob das gut sei oder ganz und gar schlimm. Er
lachte nur, und ich wußte nicht, was weiter. Mein Licht
flackerte, und ich konnte den Ausdruck seines Gesichts
nicht recht erkennen. Es war doch wohl schlimm, daß
er da war. Aber da sagte er, indem er näher kam: »Ihr
Bild ist nicht da, wir suchen es immer noch oben.« Mit
seiner halben Stimme und dem einen beweglichen Auge
<<816>>
wies er irgendwie hinauf. Und ich begriff, daß er den
Boden meinte. Aber auf einmal kam mir ein
merkwürdiger Gedanke.

»Wir?« fragte ich, »ist sie denn oben?«
»Ja«, nickte er und stand dicht neben mir.
»Sie sucht selber mit?«
»Ja, wir suchen.«
»Man hat es also fortgestellt, das Bild?«
»Ja, denk nur«, sagte er empört. Aber ich begriff nicht
recht, was sie damit wollte.
»Sie will sich sehen«, flüsterte er ganz nah.
»Ja so«, machte ich, als ob ich verstünde. Da blies er
mir das Licht aus. Ich sah, wie er sich vorstreckte, ins
Helle hinein, mit ganz hochgezogenen Augenbrauen.
Dann wars dunkel. Ich trat unwillkürlich zurück.
»Was machst du denn?« rief ich unterdrückt und war
ganz trocken im Halse. Er sprang mir nach und hängte
sich an meinen Arm und kicherte.
»Was denn?« fuhr ich ihn an und wollte ihn
abschütteln, aber er hing fest. Ich konnte es nicht hindern, daß
er den Arm um meinen Hals legte.
»Soll ich es sagen?« zischte er, und ein wenig Speichel
spritzte mir ans Ohr.
»Ja, ja, schnell.«
Ich wußte nicht, was ich redete. Er umarmte mich nun
völlig und streckte sich dabei.
»Ich hab ihr einen Spiegel gebracht«, sagte er und
kicherte wieder.
»Einen Spiegel?«
»Ja, weil doch das Bild nicht da ist.«
<<817>>
»Nein, nein«, machte ich.
Er zog mich auf einmal etwas weiter nach dem Fenster
hin und kniff mich so scharf in den Oberarm, daß ich
schrie.
»Sie ist nicht drin«, blies er mir ins Ohr.
Ich stieß ihn unwillkürlich von mir weg, etwas knackte
an ihm, mir war, als hätte ich ihn zerbrochen.
»Geh, geh«, und jetzt mußte ich selber lachen, »nicht
drin, wieso denn nicht drin?«
»Du bist dumm«, gab er böse zurück und flüsterte nicht
mehr. Seine Stimme war umgeschlagen, als begänne
er nun ein neues, noch ungebrauchtes Stück. »Man ist
entweder drin«, diktierte er altklug und strenge, »dann
ist man nicht hier; oder wenn man hier ist, kann man
nicht drin sein.«
»Natürlich«, antwortete ich schnell, ohne
nachzudenken. Ich hatte Angst, er könnte sonst fortgehen und
mich allein lassen. Ich griff sogar nach ihm.
»Wollen wir Freunde sein?« schlug ich vor. Er ließ sich
bitten. »Mir ists gleich«, sagte er keck.
Ich versuchte unsere Freundschaft zu beginnen, aber
ich wagte nicht, ihn zu umarmen. »Lieber Erik«,
brachte ich nur heraus und rührte ihn irgendwo ein bißchen
an. Ich war auf einmal sehr müde. Ich sah mich um;
ich verstand nicht mehr, wie ich hierher gekommen
war und daß ich mich nicht gefürchtet hatte. Ich wußte
nicht recht, wo die Fenster waren und wo die Bilder.
Und als wir gingen, mußte er mich führen.
»Sie tun dir nichts«, versicherte er großmütig und
kicherte wieder.
<<818>>
Lieber, lieber Erik; vielleicht bist du doch mein
einziger Freund gewesen. Denn ich habe nie einen gehabt.
Es ist schade, daß du auf Freundschaft nichts gabst. Ich
hätte dir manches erzählen mögen. Vielleicht hätten
wir uns vertragen. Man kann nicht wissen. Ich erinnere
mich, daß damals dein Bild gemalt wurde. Der Großvater
hatte jemanden kommen lassen, der dich malte. Jeden
Morgen eine Stunde. Ich kann mich nicht besinnen, wie
der Maler aussah, sein Name ist mir entfallen, obwohl
Mathilde Brahe ihn jeden Augenblick wiederholte.

Ob er dich gesehen hat, wie ich dich seh? Du trugst
einen Anzug von heliotropfarbenem Samt. Mathilde
Brahe schwärmte für diesen Anzug. Aber das ist nun
gleichgültig. Nur ob er dich gesehen hat, möchte ich
wissen. Nehmen wir an, daß es ein wirklicher Maler
war. Nehmen wir an, daß er nicht daran dachte, daß du
sterben könntest, ehe er fertig würde; daß er die Sache
gar nicht sentimental ansah; daß er einfach arbeitete.
Daß die Ungleichheit deiner beiden braunen Augen ihn
entzückte; daß er keinen Moment sich schämte für das
unbewegliche; daß er den Takt hatte, nichts
hinzuzulegen auf den Tisch zu deiner Hand, die sich vielleicht
ein wenig stützte --. Nehmen wir sonst noch alles Nötige
an und lassen es gelten: so ist ein Bild da, dein Bild, in
der Galerie auf Urnekloster das letzte.

(Und wenn man geht, und man hat sie alle gesehen, so
ist da noch ein Knabe. Einen Augenblick: wer ist das?
Ein Brahe. Siehst du den silbernen Pfahl im schwarzen
Feld und die Pfauenfedern? Da steht auch der Name:
Erik Brahe. War das nicht ein Erik Brahe, der
hinge<<819>>
richtet worden ist? Natürlich, das ist bekannt genug.
Aber um den kann es sich nicht handeln. Dieser Knabe
ist als Knabe gestorben, gleichviel wann. Kannst du das
nicht sehen?)

Wenn Besuch da war und Erik wurde gerufen, so
versicherte das Fräulein Mathilde Brahe jedesmal, es sei
geradezu unglaublich, wie sehr er der alten Gräfin
Brahe gliche, meiner Großmutter. Sie soll eine sehr große
Dame gewesen sein. Ich habe sie nicht gekannt.
Dagegen erinnere ich mich sehr gut an die Mutter meines
Vaters, die eigentliche Herrin auf Ulsgaard. Das war sie
wohl immer geblieben, wie sehr sie es auch Maman
übelnahm, daß sie als des Jägermeisters Frau ins Haus
gekommen war. Seither tat sie beständig, als zöge sie sich
zurück, und schickte die Dienstleute mit jeder
Kleinigkeit weiter zu Maman hinein, während sie in wichtigen
Angelegenheiten ruhig entschied und verfügte, ohne
irgend jemandem Rechenschaft abzulegen. Maman,
glaube ich, wünschte es gar nicht anders. Sie war so
wenig gemacht, ein großes Haus zu übersehen, ihr
fehlte völlig die Einteilung der Dinge in nebensächliche
und wichtige. Alles, wovon man ihr sprach, schien ihr
immer das Ganze zu sein, und sie vergaß darüber das
andere, das doch auch noch da war. Sie beklagte sich nie
über ihre Schwiegermutter. Und bei wem hätte sie sich
auch beklagen sollen? Vater war ein äußerst
respektvoller Sohn, und Großvater hatte wenig zu sagen.

Frau Margarete Brigge war immer schon, soweit ich
denken kann, eine hochgewachsene, unzugängliche
<<820>>
Greisin. Ich kann mir nicht anders vorstellen, als daß
sie viel älter gewesen sei, als der Kammerherr. Sie lebte
mitten unter uns ihr Leben, ohne auf jemanden
Rücksicht zu nehmen. Sie war auf keinen von uns angewiesen
und hatte immer eine Art Gesellschafterin, eine alternde
Komtesse Oxe, um sich, die sie sich durch irgendeine
Wohltat unbegrenzt verpflichtet hatte. Dies mußte
eine einzelne Ausnahme gewesen sein, denn wohltun
war sonst nicht ihre Art. Sie liebte keine Kinder, und
Tiere durften nicht in ihre Nähe. Ich weiß nicht, ob sie
sonst etwas liebte. Es wurde erzählt, daß sie als ganz
junges Mädchen dem schönen Felix Lichnowski verlobt
gewesen sei, der dann in Frankfurt so grausam ums
Leben kam. Und in der Tat war nach ihrem Tode ein
Bildnis des Fürsten da, das, wenn ich nicht irre, an die
Familie zurückgegeben worden ist. Vielleicht, denke
ich mir jetzt, versäumte sie über diesem eingezogenen
ländlichen Leben, das das Leben auf Ulsgaard von Jahr
zu Jahr mehr geworden war, ein anderes, glänzendes:
ihr natürliches. Es ist schwer zu sagen, ob sie es
betrauerte. Vielleicht verachtete sie es dafür, daß es nicht
gekommen war, daß es die Gelegenheit verfehlt hatte,
mit Geschick und Talent gelebt worden zu sein. Sie
hatte alles dies so weit in sich hineingenommen und
hatte darüber Schalen angesetzt, viele, spröde, ein
wenig metallisch glänzende Schalen, deren jeweilig
oberste sich neu und kühl ausnahm. Bisweilen freilich
verriet sie sich doch durch eine naive Ungeduld, nicht
genügend beachtet zu sein; zu meiner Zeit konnte sie sich
dann bei Tische plötzlich verschlucken auf irgendeine
<<821>>
deutliche und komplizierte Art, die ihr die Teilnahme
aller sicherte und sie, für einen Augenblick wenigstens,
so sensationell und spannend erscheinen ließ, wie sie es
im Großen hätte sein mögen. Indessen vermute ich, daß
mein Vater der einzige war, der diese viel zu häufigen
Zufälle ernst nahm. Er sah ihr, höflich vorübergeneigt,
zu, man konnte merken, wie er ihr in Gedanken seine
eigene, ordentliche Luftröhre gleichsam anbot und ganz
zur Verfügung stellte. Der Kammerherr hatte natürlich
gleichfalls zu essen aufgehört; er nahm einen kleinen
Schluck Wein und enthielt sich jeder Meinung.

Er hatte bei Tische ein einziges Mal die seinige seiner
Gemahlin gegenüber aufrechterhalten. Das war lange
her; aber die Geschichte wurde doch noch boshaft und
heimlich weitergegeben; es gab fast überall jemanden,
der sie noch nicht gehört hatte. Es hieß, daß die
Kammerherrin zu einer gewissen Zeit sich sehr über
Weinflecke ereifern konnte, die durch Ungeschicklichkeit
ins Tischzeug gerieten; daß ein solcher Fleck, bei
welchem Anlaß er auch passieren mochte, von ihr bemerkt
und unter dem heftigsten Tadel sozusagen bloßgestellt
wurde. Dazu wäre es auch einmal gekommen, als man
mehrere und namhafte Gäste hatte. Ein paar
unschuldige Flecke, die sie übertrieb, wurden der Gegenstand
ihrer höhnischen Anschuldigungen, und wie sehr der
Großvater sich auch bemühte, sie durch kleine Zeichen
und scherzhafte Zurufe zu ermahnen, so wäre sie doch
eigensinnig bei ihren Vorwürfen geblieben, die sie dann
allerdings mitten im Satze stehen lassen mußte. Es
geschah nämlich etwas nie Dagewesenes und völlig
Unbe<<822>>
greifliches. Der Kammerherr hatte sich den Rotwein
geben lassen, der gerade herumgereicht worden war,
und war nun in aller Aufmerksamkeit dabei, sein Glas
selber zu füllen. Nur daß er, wunderbarerweise,
einzugießen nicht aufhörte, als es längst voll war, sondern
unter zunehmender Stille langsam und vorsichtig
weitergoß, bis Maman, die nie an sich halten konnte,
auflachte und damit die ganze Angelegenheit nach dem
Lachen hin in Ordnung brachte. Denn nun stimmten
alle erleichtert ein, und der Kammerherr sah auf und
reichte dem Diener die Flasche.

Später gewann eine andere Eigenheit die Oberhand
bei meiner Großmutter. Sie konnte es nicht ertragen,
daß jemand im Hause erkrankte. Einmal, als die
Köchin sich verletzt hatte und sie sah sie zufällig mit der
eingebundenen Hand, behauptete sie, das Jodoform im
ganzen Hause zu riechen, und war schwer zu
überzeugen, daß man die Person daraufhin nicht entlassen
könne. Sie wollte nicht an das Kranksein erinnert
werden. Hatte jemand die Unvorsichtigkeit, vor ihr
irgendein kleines Unbehagen zu äußern, so war das nichts
anderes als eine persönliche Kränkung für sie, und sie
trug sie ihm lange nach.

In jenem Herbst, als Maman starb, schloß sich die
Kammerherrin mit Sophie Oxe ganz in ihren Zimmern
ein und brach allen Verkehr mit uns ab. Nicht einmal
ihr Sohn wurde angenommen. Es ist ja wahr, dieses
Sterben fiel recht unpassend. Die Zimmer waren kalt,
die Öfen rauchten, und die Mäuse waren ins Haus
gedrungen; man war nirgends sicher vor ihnen. Aber das
<<823>>
allein war es nicht, Frau Margarete Brigge war empört,
daß Maman starb; daß da eine Sache auf der
Tagesordnung stand, von der zu sprechen sie ablehnte; daß
die junge Frau sich den Vortritt anmaßte vor ihr, die
einmal zu sterben gedachte zu einem durchaus noch
nicht festgesetzten Termin. Denn daran, daß sie würde
sterben müssen, dachte sie oft. Aber sie wollte nicht
gedrängt sein. Sie würde sterben, gewiß, wann es ihr
gefiel, und dann konnten sie ja alle ruhig sterben,
hinterher, wenn sie es so eilig hatten.

Mamans Tod verzieh sie uns niemals ganz. Sie alterte
übrigens rasch während des folgenden Winters. Im
Gehen war sie immer noch hoch, aber im Sessel sank sie
zusammen, und ihr Gehör wurde schwieriger. Man
konnte sitzen und sie groß ansehen, stundenlang, sie
fühlte es nicht. Sie war irgendwo drinnen; sie kam nur
noch selten und nur für Augenblicke in ihre Sinne, die
leer waren, die sie nicht mehr bewohnte. Dann sagte sie
etwas zu der Komtesse, die ihr die Mantille richtete,
und nahm mit den großen, frisch gewaschenen Händen
ihr Kleid an sich, als wäre Wasser vergossen oder als
wären wir nicht ganz reinlich.

Sie starb gegen den Frühling zu, in der Stadt, eines
Nachts. Sophie Oxe, deren Tür offenstand, hatte nichts
gehört. Da man sie am Morgen fand, war sie kalt wie
Glas.

Gleich darauf begann des Kammerherrn große und
schreckliche Krankheit. Es war, als hätte er ihr Ende
abgewartet, um so rücksichtslos sterben zu können,
wie er mußte.
<<824>>
Es war in dem Jahr nach Mamans Tode, daß ich
Abelone zuerst bemerkte. Abelone war immer da. Das tat
ihr großen Eintrag. Und dann war Abelone
unsympathisch, das hatte ich ganz früher einmal bei
irgendeinem Anlaß festgestellt, und es war nie zu einer
ernstlichen Durchsicht dieser Meinung gekommen. Zu fragen,
was es mit Abelone für eine Bewandtnis habe, das wäre
mir bis dahin beinah lächerlich erschienen. Abelone
war da, und man nutzte sie ab, wie man eben konnte.
Aber auf einmal fragte ich mich: Warum ist Abelone
da? Jeder bei uns hatte einen bestimmten Sinn da zu
sein, wenn er auch keineswegs immer so
augenscheinlich war, wie zum Beispiel die Anwendung des
Fräuleins Oxe. Aber weshalb war Abelone da? Eine Zeitlang
war davon die Rede gewesen, daß sie sich zerstreuen
solle. Aber das geriet in Vergessenheit. Niemand trug
etwas zu Abelonens Zerstreuung bei. Es machte
durchaus nicht den Eindruck, daß sie sich zerstreue.

Übrigens hatte Abelone ein Gutes: sie sang. Das heißt,
es gab Zeiten, wo sie sang. Es war eine starke,
unbeirrbare Musik in ihr. Wenn es wahr ist, daß die Engel
männlich sind, so kann man wohl sagen, daß etwas
Männliches in ihrer Stimme war: eine strahlende,
himmlische Männlichkeit. Ich, der ich schon als Kind
der Musik gegenüber so mißtrauisch war (nicht, weil sie
mich stärker als alles forthob aus mir, sondern, weil ich
gemerkt hatte, daß sie mich nicht wieder dort ablegte,
wo sie mich gefunden hatte, sondern tiefer, irgendwo
ganz ins Unfertige hinein), ich ertrug diese Musik, auf
der man aufrecht aufwärtssteigen konnte, höher und
<<825>>
höher, bis man meinte, dies müßte ungefähr schon der
Himmel sein seit einer Weile. Ich ahnte nicht, daß
Abelone mir noch andere Himmel öffnen sollte.

Zunächst bestand unsere Beziehung darin, daß sie mir
von Mamans Mädchenzeit erzählte. Sie hielt viel
darauf, mich zu überzeugen, wie mutig und jung Maman
gewesen wäre. Es gab damals niemanden nach ihrer
Versicherung, der sich im Tanzen oder im Reiten mit
ihr messen konnte. »Sie war die Kühnste und
unermüdlich, und dann heiratete sie auf einmal«, sagte
Abelone, immer noch erstaunt nach so vielen Jahren.
»Es kam so unerwartet, niemand konnte es recht
begreifen.«

Ich interessierte mich dafür, weshalb Abelone nicht
geheiratet hatte. Sie kam mir alt vor verhältnismäßig,
und daß sie es noch könnte, daran dachte ich nicht.

»Es war niemand da«, antwortete sie einfach und
wurde richtig schön dabei. Ist Abelone schön? fragte
ich mich überrascht. Dann kam ich fort von Hause, auf
die Adels-Akademie, und es begann eine widerliche und
arge Zeit. Aber wenn ich dort zu Sorö, abseits von den
andern, im Fenster stand, und sie ließen mich ein wenig
in Ruh, so sah ich hinaus in die Bäume, und in solchen
Augenblicken und nachts wuchs in mir die Sicherheit,
daß Abelone schön sei. Und ich fing an, ihr alle jene
Briefe zu schreiben, lange und kurze, viele heimliche
Briefe, darin ich von Ulsgaard zu handeln meinte und
davon, daß ich unglücklich sei. Aber es werden doch
wohl, so wie ich es jetzt sehe, Liebesbriefe gewesen sein.
Denn schließlich kamen die Ferien, die erst gar nicht
<<826>>
kommen wollten, und da war es wie auf Verabredung,
daß wir uns nicht vor den anderen wiedersahen.

Es war durchaus nichts vereinbart zwischen uns, aber
da der Wagen einbog in den Park, konnte ich es nicht
lassen, auszusteigen, vielleicht nur, weil ich nicht
anfahren wollte, wie irgendein Fremder. Es war schon
voller Sommer. Ich lief in einen der Wege hinein und
auf einen Goldregen zu. Und da war Abelone. Schöne,
schöne Abelone.

Ich wills nie vergessen, wie das war, wenn du mich
anschautest. Wie du dein Schauen trugst, gleichsam wie
etwas nicht Befestigtes es aufhaltend auf
zurückgeneigtem Gesicht.

Ach, ob das Klima sich gar nicht verändert hat? Ob es
nicht milder geworden ist um Ulsgaard herum von all
unserer Wärme? Ob einzelne Rosen nicht länger
blühen jetzt im Park, bis in den Dezember hinein?

Ich will nichts erzählen von dir, Abelone. Nicht
deshalb, weil wir einander täuschten: weil du Einen
liebtest, auch damals, den du nie vergessen hast, Liebende,
und ich: alle Frauen; sondern weil mit dem Sagen nur
unrecht geschieht.

Es giebt Teppiche hier, Abelone, Wandteppiche. Ich
bilde mir ein, du bist da, sechs Teppiche sinds, komm,
laß uns langsam vorübergehen. Aber erst tritt zurück
und sieh alle zugleich. Wie ruhig sie sind, nicht? Es ist
wenig Abwechslung darin. Da ist immer diese ovale
blaue Insel, schwebend im zurückhaltend roten Grund,
der blumig ist und von kleinen, mit sich beschäftigten
<<827>>
Tieren bewohnt. Nur dort, im letzten Teppich, steigt
die Insel ein wenig auf, als ob sie leichter geworden sei.
Sie trägt immer eine Gestalt, eine Frau in verschiedener
Tracht, aber immer dieselbe. Zuweilen ist eine kleinere
Figur neben ihr, eine Dienerin, und immer sind die
wappentragenden Tiere da, groß, mit auf der Insel, mit in
der Handlung. Links ein Löwe, und rechts, hell, das
Einhorn; sie halten die gleichen Banner, die hoch über
ihnen zeigen: drei silberne Monde, steigend, in blauer
Binde auf rotem Feld. -- Hast du gesehen, willst du
beim ersten beginnen?

Sie füttert den Falken. Wie herrlich ihr Anzug ist.
Der Vogel ist auf der gekleideten Hand und rührt sich.
Sie sieht ihm zu und langt dabei in die Schale, die ihr
die Dienerin bringt, um ihm etwas zu reichen. Rechts
unten auf der Schleppe hält sich ein kleiner,
seidenhaariger Hund, der aufsieht und hofft, man werde sich
seiner erinnern. Und, hast du bemerkt, ein niederes
Rosengitter schließt hinten die Insel ab. Die
Wappentiere steigen heraldisch hochmütig. Das Wappen ist
ihnen noch einmal als Mantel umgegeben. Eine schöne
Agraffe hält es zusammen. Es weht.

Geht man nicht unwillkürlich leiser zu dem nächsten
Teppich hin, sobald man gewahrt, wie versunken sie
ist: sie bindet einen Kranz, eine kleine, runde Krone
aus Blumen. Nachdenklich wählt sie die Farbe der
nächsten Nelke in dem flachen Becken, das ihr die
Dienerin hält, während sie die vorige anreiht. Hinten auf
einer Bank steht unbenutzt ein Korb voller Rosen, den
ein Affe entdeckt hat. Diesmal sollten es Nelken sein.
<<828>>
Der Löwe nimmt [
Einhorn begreift.

Mußte nicht Musik kommen in diese Stille, war sie
nicht schon verhalten da? Schwer und still geschmückt,
ist sie (wie langsam, nicht?) an die tragbare Orgel
getreten und spielt, stehend, durch das Pfeifenwerk
abgetrennt von der Dienerin, die jenseits die Bälge bewegt. So
schön war sie noch nie. Wunderlich ist das Haar in zwei
Flechten nach vorn genommen und über dem Kopfputz
oben zusammengefaßt, so daß es mit seinen Enden aus
dem Bund aufsteigt wie ein kurzer Helmbusch.
Verstimmt erträgt der Löwe die Töne, ungern, Geheul
verbeißend. Das Einhorn aber ist schön, wie in Wellen
bewegt.

Die Insel wird breit. Ein Zelt ist errichtet. Aus blauem
Damast und goldgeflammt. Die Tiere raffen es auf,
und schlicht beinah in ihrem fürstlichen Kleid tritt sie
vor. Denn was sind ihre Perlen gegen sie selbst. Die
Dienerin hat eine kleine Truhe geöffnet, und sie hebt nun
eine Kette heraus, ein schweres, herrliches Kleinod, das
immer verschlossen war. Der kleine Hund sitzt bei ihr,
erhöht, auf bereitetem Platz und sieht es an. Und hast
du den Spruch entdeckt auf dem Zeltrand oben? da
steht: >A mon seul désir.<

Was ist geschehen, warum springt das kleine
Kaninchen da unten, warum sieht man gleich, daß es springt?
Alles ist so befangen. Der Löwe hat nichts zu tun. Sie
selbst hält das Banner. Oder hält sie sich dran? Sie hat
mit der anderen Hand nach dem Horn des Einhorns
gefaßt. Ist das Trauer, kann Trauer so aufrecht sein,
<<829>>
und ein Trauerkleid so verschwiegen wie dieser
grünschwarze Samt mit den welken Stellen?

Aber es kommt noch ein Fest, niemand ist geladen
dazu. Erwartung spielt dabei keine Rolle. Es ist alles da.
Alles für immer. Der Löwe sieht sich fast drohend um:
es darf niemand kommen. Wir haben sie noch nie müde
gesehen; ist sie müde? oder hat sie sich nur
niedergelassen, weil sie etwas Schweres hält? Man könnte meinen,
eine Monstranz. Aber sie neigt den andern Arm gegen
das Einhorn hin, und das Tier bäumt sich geschmeichelt
auf und steigt und stützt sich auf ihren Schooß. Es ist
ein Spiegel, was sie hält. Siehst du: sie zeigt dem
Einhorn sein Bild --.

Abelone, ich bilde mir ein, du bist da. Begreifst du,
Abelone? Ich denke, du mußt begreifen.

<<830>>
Nun sind auch die Teppiche der Dame à la Licorne
nicht mehr in dem alten Schloß von Boussac. Die Zeit
ist da, wo alles aus den Häusern fortkommt, sie können
nichts mehr behalten. Die Gefahr ist sicherer
geworden als die Sicherheit. Niemand aus dem Geschlecht
der Delle Viste geht neben einem her und hat das im
Blut. Sie sind alle vorbei. Niemand spricht deinen
Namen aus, Pierre d'Aubusson, großer Großmeister aus
uraltem Hause, auf dessen Willen hin vielleicht diese
Bilder gewebt wurden, die alles preisen und nichts
preisgeben. (Ach, daß die Dichter je anders von Frauen
geschrieben haben, wörtlicher, wie sie meinten. Es ist
sicher, wir durften nichts wissen als das.) Nun kommt
man zufällig davor unter Zufälligen und erschrickt fast,
nicht geladen zu sein. Aber da sind andere und gehen
vorüber, wenn es auch nie viele sind. Die jungen Leute
halten sich kaum auf, es sei denn, daß das irgendwie in
ihr Fach gehört, diese Dinge einmal gesehen zu haben,
auf die oder jene bestimmte Eigenschaft hin.

Junge Mädchen allerdings findet man zuweilen davor.
Denn es giebt eine Menge junger Mädchen in den
Museen, die fortgegangen sind irgendwo aus den Häusern,
die nichts mehr behalten. Sie finden sich vor diesen
Teppichen und vergessen sich ein wenig. Sie haben immer
gefühlt, daß es dies gegeben hat, solch ein leises Leben
langsamer, nie ganz aufgeklärter Gebärden, und sie
erinnern sich dunkel, daß sie sogar eine Zeitlang meinten,
es würde ihr Leben sein. Aber dann ziehen sie rasch ein
Heft hervor und beginnen zu zeichnen, gleichviel was,
eine von den Blumen oder ein kleines, vergnügtes Tier.
<<831>>
Darauf käme es nicht an, hat man ihnen vorgesagt, was
es gerade wäre. Und darauf kommt es wirklich nicht an.
Nur daß gezeichnet wird, das ist die Hauptsache; denn
dazu sind sie fortgegangen eines Tages, ziemlich
gewaltsam. Sie sind aus guter Familie. Aber wenn sie jetzt
beim Zeichnen die Arme heben, so ergiebt sich, daß ihr
Kleid hinten nicht zugeknöpft ist oder doch nicht ganz.
Es sind da ein paar Knöpfe, die man nicht erreichen
kann. Denn als dieses Kleid gemacht wurde, war noch
nicht davon die Rede gewesen, daß sie plötzlich allein
weggehen würden. In der Familie ist immer jemand für
solche Knöpfe. Aber hier, lieber Gott, wer sollte sich
damit abgeben in einer so großen Stadt. Man müßte schon
eine Freundin haben; Freundinnen sind aber in
derselben Lage, und da kommt es doch darauf hinaus, daß man
sich gegenseitig die Kleider schließt. Das ist lächerlich
und erinnert an die Familie, an die man nicht erinnert
sein will.

Es läßt sich ja nicht vermeiden, daß man während des
Zeichnens zuweilen überlegt, ob es nicht doch möglich
gewesen wäre zu bleiben. Wenn man hätte fromm sein
können, herzhaft fromm im gleichen Tempo mit den
andern. Aber das nahm sich so unsinnig aus, das
gemeinsam zu versuchen. Der Weg ist irgendwie enger
geworden: Familien können nicht mehr zu Gott. Es
blieben also nur verschiedene andere Dinge, die man zur
Not teilen konnte. Da kam dann aber, wenn man ehrlich
teilte, so wenig auf den einzelnen, daß es eine Schande
war. Und betrog man beim Teilen, so entstanden
Auseinandersetzungen. Nein, es ist wirklich besser zu
zeich<<832>>
nen, gleichviel was. Mit der Zeit stellt sich die
Ähnlichkeit schon ein. Und die Kunst, wenn man sie so
allmählich hat, ist doch etwas recht Beneidenswertes.

Und über der angestrengten Beschäftigung mit dem, was
sie sich vorgenommen haben, diese jungen Mädchen,
kommen sie nicht mehr dazu, aufzusehen. Sie merken
nicht, wie sie bei allem Zeichnen doch nichts tun, als
das unabänderliche Leben in sich unterdrücken, das in
diesen gewebten Bildern strahlend vor ihnen
aufgeschlagen ist in seiner unendlichen Unsäglichkeit. Sie wollen
es nicht glauben. Jetzt, da so vieles anders wird, wollen
sie sich verändern. Sie sind ganz nahe daran, sich
aufzugeben und so von sich zu denken, wie Männer etwa von
ihnen reden könnten, wenn sie nicht da sind. Das scheint
ihnen ihr Fortschritt. Sie sind fast schon überzeugt, daß
man einen Genuß sucht und wieder einen und einen
noch stärkeren Genuß: daß darin das Leben besteht,
wenn man es nicht auf eine albere Art verlieren will. Sie
haben schon angefangen, sich umzusehen, zu suchen;
sie, deren Stärke immer darin bestanden hat, gefunden
zu werden.

Das kommt, glaube ich, weil sie müde sind. Sie haben
Jahrhunderte lang die ganze Liebe geleistet, sie haben
immer den vollen Dialog gespielt, beide Teile. Denn der
Mann hat nur nachgesprochen und schlecht. Und hat
ihnen das Erlernen schwer gemacht mit seiner
Zerstreutheit, mit seiner Nachlässigkeit, mit seiner Eifersucht,
die auch eine Art Nachlässigkeit war. Und sie haben
trotzdem ausgeharrt Tag und Nacht und haben
zugenommen an Liebe und Elend. Und aus ihnen sind, unter
<<833>>
dem Druck endloser Nöte, die gewaltigen Liebenden
hervorgegangen, die, während sie ihn riefen, den Mann
überstanden; die über ihn hinauswuchsen, wenn er
nicht wiederkam, wie Gaspara Stampa oder wie die
Portugiesin, die nicht abließen, bis ihre Qual umschlug in
eine herbe, eisige Herrlichkeit, die nicht mehr zu
halten war. Wir wissen von der und der, weil Briefe da
sind, die wie durch ein Wunder sich erhielten, oder
Bücher mit anklagenden oder klagenden Gedichten, oder
Bilder, die uns anschauen in einer Galerie durch ein
Weinen durch, das dem Maler gelang, weil er nicht
wußte, was es war. Aber es sind ihrer zahllos mehr gewesen;
solche, die ihre Briefe verbrannt haben, und andere, die
keine Kraft mehr hatten, sie zu schreiben. Greisinnen,
die verhärtet waren, mit einem Kern von Köstlichkeit
in sich, den sie verbargen. Formlose, stark gewordene
Frauen, die, stark geworden aus Erschöpfung, sich
ihren Männern ähnlich werden ließen und die doch innen
ganz anders waren, dort, wo ihre Liebe gearbeitet
hatte, im Dunkel. Gebärende, die nie gebären wollten,
und wenn sie endlich starben an der achten Geburt, so
hatten sie die Gesten und das Leichte von Mädchen, die
sich auf die Liebe freuen. Und die, die blieben neben
Tobenden und Trinkern, weil sie das Mittel gefunden
hatten, in sich so weit von ihnen zu sein wie nirgend
sonst; und kamen sie unter die Leute, so konnten sies
nicht verhalten und schimmerten, als gingen sie immer
mit Seligen um. Wer kann sagen, wie viele es waren
und welche. Es ist, als hätten sie im voraus die Worte
vernichtet, mit denen man sie fassen könnte.
<<834>>
Aber nun, da so vieles anders wird, ist es nicht an uns,
uns zu verändern? Könnten wir nicht versuchen, uns
ein wenig zu entwickeln, und unseren Anteil Arbeit in
der Liebe langsam auf uns nehmen nach und nach?
Man hat uns alle ihre Mühsal erspart, und so ist sie uns
unter die Zerstreuungen geglitten, wie in eines Kindes
Spiellade manchmal ein Stück echter Spitze fällt und
freut und nicht mehr freut und endlich daliegt unter
Zerbrochenem und Auseinandergenommenem,
schlechter als alles. Wir sind verdorben vom leichten Genuß
wie alle Dilettanten und stehen im Geruch der
Meisterschaft. Wie aber, wenn wir unsere Erfolge verachteten,
wie, wenn wir ganz von vorne begännen die Arbeit der
Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist?
Wie, wenn wir hingingen und Anfänger würden, nun,
da sich vieles verändert.

Nun weiß ich auch, wie es war, wenn Maman die
kleinen Spitzenstücke aufrollte. Sie hatte nämlich ein
einziges von den Schubfachern in Ingeborgs Sekretär für
sich in Gebrauch genommen.

»Wollen wir sie sehen, Malte«, sagte sie und freute sich,
als sollte sie eben alles geschenkt bekommen, was in
der kleinen gelblackierten Lade war. Und dann konnte
sie vor lauter Erwartung das Seidenpapier gar nicht
auseinanderschlagen. Ich mußte es tun jedesmal. Aber ich
wurde auch ganz aufgeregt, wenn die Spitzen zum
Vorschein kamen. Sie waren aufgewunden um eine
Holzwelle, die gar nicht zu sehen war vor lauter Spitzen.
Und nun wickelten wir sie langsam ab und sahen den
<<835>>
Mustern zu, wie sie sich abspielten, und erschraken
jedesmal ein wenig, wenn eines zu Ende war. Sie hörten
so plötzlich auf.

Da kamen erst Kanten italienischer Arbeit, zähe Stücke
mit ausgezogenen Fäden, in denen sich alles immerzu
wiederholte, deutlich wie in einem Bauerngarten. Dann
war auf einmal eine ganze Reihe unserer Blicke
vergittert mit venezianischer Nadelspitze, als ob wir Klöster
wären oder Gefängnisse. Aber es wurde wieder frei,
und man sah weit in Gärten hinein, die immer
künstlicher wurden, bis es dicht und lau an den Augen war
wie in einem Treibhaus: prunkvolle Pflanzen, die wir
nicht kannten, schlugen riesige Blätter auf, Ranken
griffen nacheinander, als ob ihnen schwindelte, und die
großen offenen Blüten der Points d'Alençon trübten
alles mit ihren Pollen. Plötzlich, ganz müde und wirr,
trat man hinaus in die lange Bahn der Valenciennes,
und es war Winter und früh am Tag und Reif. Und
man drängte sich durch das verschneite Gebüsch der
Binche und kam an Plätze, wo noch keiner gegangen
war; die Zweige hingen so merkwürdig abwärts, es
konnte wohl ein Grab darunter sein, aber das
verbargen wir voreinander. Die Kälte drang immer dichter
an uns heran, und schließlich sagte Maman, wenn die
kleinen, ganz feinen Klöppelspitzen kamen: »Oh, jetzt
bekommen wir Eisblumen an den Augen«, und so war
es auch, denn es war innen sehr warm in uns.

Über dem Wiederaufrollen seufzten wir beide, das war
eine lange Arbeit, aber wir mochten es niemandem
überlassen.
<<836>>
»Denk nun erst, wenn wir sie machen müßten«, sagte
Maman und sah förmlich erschrocken aus. Das konnte
ich mir gar nicht vorstellen. Ich ertappte mich darauf,
daß ich an kleine Tiere gedacht hatte, die das immerzu
spinnen und die man dafür in Ruhe läßt. Nein, es
waren ja natürlich Frauen.

»Die sind gewiß in den Himmel gekommen, die das
gemacht haben«, meinte ich bewundernd. Ich
erinnere, es fiel mir auf, daß ich lange nicht nach dem
Himmel gefragt hatte. Maman atmete auf, die Spitzen
waren wieder beisammen.

Nach einer Weile, als ich es schon wieder vergessen
hatte, sagte sie ganz langsam: »In den Himmel? Ich
glaube, sie sind ganz und gar da drin. Wenn man das
so sieht: das kann gut eine ewige Seligkeit sein. Man
weiß ja so wenig darüber.«

Oft, wenn Besuch da war, hieß es, daß Schulins sich
einschränkten. Das große, alte Schloß war abgebrannt
vor ein paar Jahren, und nun wohnten sie in den beiden
engen Seitenflügeln und schränkten sich ein. Aber das
Gästehaben lag ihnen nun einmal im Blut. Das
konnten sie nicht aufgeben. Kam jemand unerwartet zu uns,
so kam er wahrscheinlich von Schulins; und sah jemand
plötzlich nach der Uhr und mußte ganz erschrocken
fort, so wurde er sicher auf Lystager erwartet.

Maman ging eigentlich schon nirgends mehr hin, aber
so etwas konnten Schulins nicht begreifen; es blieb
nichts übrig, man mußte einmal hinüberfahren. Es war
im Dezember nach ein paar frühen Schneefällen; der
<<837>>
Schlitten war auf drei Uhr befohlen, ich sollte mit. Man
fuhr indessen nie pünktlich bei uns. Maman, die es nicht
liebte, daß der Wagen gemeldet wurde, kam meistens
viel zu früh herunter, und wenn sie niemanden fand,
so fiel ihr immer etwas ein, was schon längst hätte
getan sein sollen, und sie begann irgendwo oben zu
suchen oder zu ordnen, so daß sie kaum wieder zu
erreichen war. Schließlich standen alle und warteten. Und
saß sie endlich und war eingepackt, so zeigte es sich,
daß etwas vergessen sei, und Sieversen mußte geholt
werden; denn nur Sieversen wußte, wo es war. Aber
dann fuhr man plötzlich los, eh Sieversen wiederkam.

An diesem Tag war es überhaupt nicht recht hell
geworden. Die Baume standen da, als wüßten sie nicht
weiter im Nebel, und es hatte etwas Rechthaberisches,
dahinein zu fahren. Zwischendurch fing es an, still
weiterzuschneien, und nun wars, als würde auch noch das
Letzte ausradiert und als führe man in ein weißes Blatt.
Es gab nichts als das Geläut, und man konnte nicht
sagen, wo es eigentlich war. Es kam ein Moment, da es
einhielt, als wäre nun die letzte Schelle ausgegeben;
aber dann sammelte es sich wieder und war beisammen
und streute sich wieder aus dem Vollen aus. Den
Kirchturm links konnte man sich eingebildet haben. Aber der
Parkkontur war plötzlich da, hoch, beinahe über einem,
und man befand sich in der langen Allee. Das Geläut fiel
nicht mehr ganz ab; es war, als hängte es sich in
Trauben rechts und links an die Bäume. Dann schwenkte
man und fuhr rund um etwas herum und rechts an
etwas vorbei und hielt in der Mitte.
<<838>>
Georg hatte ganz vergessen, daß das Haus nicht da war,
und für uns alle war es in diesem Augenblick da. Wir
stiegen die Freitreppe hinauf, die auf die alte Terrasse
führte, und wunderten uns nur, daß es ganz dunkel sei.
Auf einmal ging eine Tür, links unten hinter uns, und
jemand rief: »Hierher!« und hob und schwenkte ein
dunstiges Licht. Mein Vater lachte: »Wir steigen hier
herum wie die Gespenster«, und er half uns wieder die
Stufen zurück.

»Aber es war doch eben ein Haus da«, sagte Maman
und konnte sich gar nicht so rasch an Wjera Schulin
gewöhnen, die warm und lachend herausgelaufen war.
Nun mußte man natürlich schnell hinein, und an das
Haus war nicht mehr zu denken. In einem engen
Vorzimmer wurde man ausgezogen, und dann war man
gleich mitten drin unter den Lampen und der Wärme
gegenüber.

Diese Schulins waren ein mächtiges Geschlecht
selbständiger Frauen. Ich weiß nicht, ob es Söhne gab. Ich
erinnere mich nur dreier Schwestern; der ältesten, die
an einen Marchese in Neapel verheiratet gewesen war,
von dem sie sich nun langsam unter vielen Prozessen
schied. Dann kam Zoë, von der es hieß, daß es nichts
gab, was sie nicht wußte. Und vor allem war Wjera da,
diese warme Wjera; Gott weiß, was aus ihr geworden
ist. Die Gräfin, eine Narischkin, war eigentlich die vierte
Schwester und in gewisser Beziehung die jüngste. Sie
wußte von nichts und mußte in einem fort von ihren
Kindern unterrichtet werden. Und der gute Graf
Schulin fühlte sich, als ob er mit allen diesen Frauen
verhei<<839>>
ratet sei, und ging herum und küßte sie, wie es eben
kam.

Vor der Hand lachte er laut und begrüßte uns
eingehend. Ich wurde unter den Frauen weitergegeben und
befühlt und befragt. Aber ich hatte mir fest
vorgenommen, wenn das vorüber sei, irgendwie hinauszugleiten
und mich nach dem Haus umzusehen. Ich war
überzeugt, daß es heute da sei. Das Hinauskommen war
nicht so schwierig; zwischen allen den Kleidern kam
man unten durch wie ein Hund, und die Tür nach dem
Vorraum zu war noch angelehnt. Aber draußen die
äußere wollte nicht nachgeben. Da waren mehrere
Vorrichtungen, Ketten und Riegel, die ich nicht richtig
behandelte in der Eile. Plötzlich ging sie doch auf, aber
mit lautem Geräusch, und eh ich draußen war, wurde
ich festgehalten und zurückgezogen.

»Halt, hier wird nicht ausgekniffen«, sagte Wjera
Schulin belustigt. Sie beugte sich zu mir, und ich war
entschlossen, dieser warmen Person nichts zu verraten. Sie
aber, als ich nichts sagte, nahm ohne weiters an, eine
Nötigung meiner Natur hätte mich an die Tür
getrieben; sie ergriff meine Hand und fing schon an zu gehen
und wollte mich, halb vertraulich, halb hochmütig,
irgendwohin mitziehen. Dieses intime Mißverständnis
kränkte mich über die Maßen. Ich riß mich los und sah
sie böse an. »Das Haus will ich sehen«, sagte ich stolz.
Sie begriff nicht.

»Das große Haus draußen an der Treppe.«
»Schaf«, machte sie und haschte nach mir, »da ist doch
gar kein Haus mehr.« Ich bestand darauf.
<<840>>
»Wir gehen einmal bei Tage hin«, schlug sie
einlenkend vor, »jetzt kann man da nicht herumkriechen. Es
sind Löcher da, und gleich dahinter sind Papas
Fischteiche, die nicht zufrieren dürfen. Da fällst du hinein
und wirst ein Fisch.«

Damit schob sie mich vor sich her wieder in die hellen
Stuben. Da saßen sie alle und sprachen, und ich sah sie
mir der Reihe nach an: die gehen natürlich nur hin,
wenn es nicht da ist, dachte ich verächtlich; wenn
Maman und ich hier wohnten, so wäre es immer da.
Maman sah zerstreut aus, während alle zugleich redeten.
Sie dachte gewiß an das Haus.

Zoë setzte sich zu mir und stellte mir Fragen. Sie hatte
ein gutgeordnetes Gesicht, in dem sich das Einsehen
von Zeit zu Zeit erneute, als sähe sie beständig etwas
ein. Mein Vater saß etwas nach rechts geneigt und hörte
der Marchesin zu, die lachte. Graf Schulin stand zwischen
Maman und seiner Frau und erzählte etwas. Aber die
Gräfin unterbrach ihn, sah ich, mitten im Satze.

»Nein, Kind, das bildest du dir ein«, sagte der Graf
gutmütig, aber er hatte auf einmal dasselbe beunruhigte
Gesicht, das er vorstreckte über den beiden Damen. Die
Gräfin war von ihrer sogenannten Einbildung nicht
abzubringen. Sie sah ganz angestrengt aus, wie jemand,
der nicht gestört sein will. Sie machte kleine,
abwinkende Bewegungen mit ihren weichen Ringhänden,
jemand sagte »sst«, und es wurde plötzlich ganz still.

Hinter den Menschen drängten sich die großen
Gegenstände aus dem alten Hause, viel zu nah. Das schwere
Familiensilber glänzte und wölbte sich, als sähe man es
<<841>>
Durch Vergrößerungsgläser. Mein Vater sah sich
befremdet um.

»Mama riecht«, sagte Wjera Schulin hinter ihm, »da
müssen wir immer alle still sein, sie riecht mit den
Ohren, dabei aber stand sie selbst mit hochgezogenen
Augenbrauen da, aufmerksam und ganz Nase.

Die Schulins waren in dieser Beziehung ein bißchen
eigen seit dem Brande. In den engen, überheizten
Stuben kam jeden Augenblick ein Geruch auf, und dann
untersuchte man ihn, und jeder gab seine Meinung ab.
Zoë machte sich am Ofen zu tun, sachlich und
gewissenhaft, der Graf ging umher und stand ein wenig in
jeder Ecke und wartete; »hier ist es nicht«, sagte er
dann. Die Gräfin war aufgestanden und wußte nicht,
wo sie suchen sollte. Mein Vater drehte sich langsam
um sich selbst, als hätte er den Geruch hinter sich. Die
Marchesin, die sofort angenommen hatte, daß es ein
garstiger Geruch sei, hielt ihr Taschentuch vor und sah
von einem zum andern, ob es vorüber wäre. »Hier,
hier«, rief Wjera von Zeit zu Zeit, als hätte sie ihn. Und
um jedes Wort herum war es merkwürdig still. Was
mich angeht, so hatte ich fleißig mitgerochen. Aber auf
einmal (war es die Hitze in den Zimmern oder das viele
nahe Licht) überfiel mich zum erstenmal in meinem
Leben etwas wie Gespensterfurcht. Es wurde mir klar,
daß alle die deutlichen großen Menschen, die eben noch
gesprochen und gelacht hatten, gebückt herumgingen
und sich mit etwas Unsichtbarem beschäftigten; daß
sie zugaben, daß da etwas war, was sie nicht sahen. Und
es war schrecklich, daß es stärker war als sie alle.
<<842>>
Meine Angst steigerte sich. Mir war, als könnte das, was
sie suchten, plötzlich aus mir ausbrechen wie ein
Ausschlag; und dann würden sie es sehen und nach mir
zeigen. Ganz verzweifelt sah ich nach Maman hinüber.
Sie saß eigentümlich gerade da, mir kam vor, daß sie
auf mich wartete. Kaum war ich bei ihr und fühlte, daß
sie innen zitterte, so wußte ich, daß das Haus jetzt erst
wieder verging.

»Malte, Feigling«, lachte es irgendwo. Es war Wjeras
Stimme. Aber wir ließen einander nicht los und
ertrugen es zusammen; und wir blieben so, Maman und ich,
bis das Haus wieder ganz vergangen war.

Am reichsten an beinah unfaßbaren Erfahrungen
waren aber doch die Geburtstage. Man wußte ja schon
daß das Leben sich darin gefiel, keine Unterschiede zu
machen; aber zu diesem Tage stand man mit einem
Recht auf Freude auf, an dem nicht zu zweifeln war.
Wahrscheinlich war das Gefühl dieses Rechts ganz früh
in einem ausgebildet worden, zu der Zeit, da man nach
allem greift und rein alles bekommt und da man die
Dinge, die man gerade festhält, mit unbeirrbarer
Einbildungskraft zu der grundfarbigen Intensität des
gerade herrschenden Verlangens steigert.

Dann aber kommen auf einmal jene merkwürdigen
Geburtstage, da man, im Bewußtsein dieses Rechtes
völlig befestigt, die anderen unsicher werden sieht.
Man möchte wohl noch wie früher angekleidet werden
und dann alles Weitere entgegennehmen. Aber kaum
ist man wach, so ruft jemand draußen, die Torte sei
<<843>>
noch nicht da; oder man hört, daß etwas zerbricht,
während nebenan der Geschenktisch geordnet wird; oder es
kommt jemand herein und läßt die Türe offen, und
man sieht alles, ehe man es hätte sehen dürfen. Das ist
der Augenblick, wo etwas wie eine Operation an einem
geschieht. Ein kurzer, wahnsinnig schmerzhafter
Eingriff. Aber die Hand, die ihn tut, ist geübt und fest. Es
ist gleich vorbei. Und kaum ist es überstanden, so denkt
man nicht mehr an sich; es gilt, den Geburtstag zu
retten, die anderen zu beobachten, ihren Fehlern
zuvorzukommen, sie in ihrer Einbildung zu bestärken, daß
sie alles trefflich bewältigen. Sie machen es einem nicht
leicht. Es erweist sich, daß sie von einer beispiellosen
Ungeschicklichkeit sind, beinahe stupide. Sie bringen es
zuwege, mit irgendwelchen Paketen hereinzukommen,
die für andere Leute bestimmt sind; man läuft ihnen
entgegen und muß hernach tun, als liefe man überhaupt
in der Stube herum, um sich Bewegung zu schaffen,
auf nichts Bestimmtes zu. Sie wollen einen überraschen
und heben mit oberflächlich nachgeahmter Erwartung
die unterste Lage in den Spielzeugschachteln auf, wo
weiter nichts ist als Holzwolle; da muß man ihnen ihre
Verlegenheit erleichtern. Oder wenn es etwas
Mechanisches war, so überdrehen sie das, was sie einem
geschenkt haben, beim ersten Aufziehen. Es ist deshalb
gut, wenn man sich beizeiten übt, eine überdrehte
Maus oder dergleichen unauffällig mit dem Fuß
weiterzustoßen: auf diese Weise kann man sie oft täuschen
und ihnen über die Beschämung forthelfen.

Das alles leistete man schließlich, wie es verlangt
wur<<844>>
de, auch ohne besondere Begabumg. Talent war
eigentlich nur nötig, wenn sich einer Mühe gegeben hatte,
und brachte, wichtig und gutmütig, eine Freude, und
man sah schon von weitem, daß es eine Freude für einen
ganz anderen war, eine vollkommen fremde Freude;
man wußte nicht einmal jemanden, dem sie gepaßt
hätte: so fremd war sie.

Dass man erzählte, wirklich erzählte, das muß vor
meiner Zeit gewesen sein. Ich habe nie jemanden erzählen
hören. Damals, als Abelone mir von Mamans Jugend
sprach, zeigte es sich, daß sie nicht erzählen könne. Der
alte Graf Brahe soll es noch gekonnt haben. Ich will
aufschreiben, was sie davon wußte.

Abelone muß als ganz junges Mädchen eine Zeit gehabt
haben, da sie von einer eigenen, weiten Bewegtheit
war. Brahes wohnten damals in der Stadt, in der
Bredgade, unter ziemlicher Geselligkeit. Wenn sie abends
spät hinauf in ihr Zimmer kam, so meinte sie müde zu
sein wie die anderen. Aber dann fühlte sie auf einmal
das Fenster und, wenn ich recht verstanden habe, so
konnte sie vor der Nacht stehn, stundenlang, und
denken: das geht mich an. »Wie ein Gefangener stand ich
da«, sagte sie, »und die Sterne waren die Freiheit.« Sie
konnte damals einschlafen, ohne sich schwer zu
machen. Der Ausdruck In-den-Schlaf-fallen paßt nicht für
dieses Mädchenjahr. Schlaf war etwas, was mit einem
stieg, und von Zeit zu Zeit hatte man die Augen offen
und lag auf einer neuen Oberfläche, die noch lang nicht
die oberste war. Und dann war man auf vor Tag; selbst
<<845>>
im Winter, wenn die anderen schläfrig und spät zum
späten Frühstück kamen. Abends, wenn es dunkel
wurde, gab es ja immer nur Lichter für alle, gemeinsame
Lichter. Aber diese beiden Kerzen ganz früh in der
neuen Dunkelheit, mit der alles wieder anfing, die hatte
man für sich. Sie standen in ihrem niederen
Doppelleuchter und schienen ruhig durch die kleinen, ovalen,
mit Rosen bemalten Tüllschirme, die von Zeit zu Zeit
nachgerückt werden mußten. Das hatte nichts
Störendes; denn einmal war man durchaus nicht eilig, und
dann kam es doch so, daß man manchmal aufsehen
mußte und nachdenken, wenn man an einem Brief
schrieb oder in das Tagebuch, das früher einmal mit
ganz anderer Schrift, ängstlich und schön, begonnen
war.

Der Graf Brahe lebte ganz abseits von seinen Töchtern.
Er hielt es für Einbildung, wenn jemand behauptete,
das Leben mit andern zu teilen. (»Ja, teilen --«, sagte
er.) Aber es war ihm nicht unlieb, wenn die Leute ihm
von seinen Töchtern erzählten; er hörte aufmerksam
zu, als wohnten sie in einer anderen Stadt.

Es war deshalb etwas ganz Außerordentliches, daß er
einmal nach dem Frühstück Abelone zu sich winkte:
»Wir haben die gleichen Gewohnheiten, wie es scheint,
ich schreibe auch ganz früh. Du kannst mir helfen.«
Abelone wußte es noch wie gestern.

Schon am anderen Morgen wurde sie in ihres Vaters
Kabinett geführt, das im Rufe der Unzugänglichkeit
stand. Sie hatte nicht Zeit, es in Augenschein zu
nehmen, denn man setzte sie sofort gegen dem Grafen über
<<846>>
an den Schreibtisch, der ihr wie eine Ebene schien mit
Büchern und Schriftstößen als Ortschaften.

Der Graf diktierte. Diejenigen, die behaupteten, daß
Graf Brahe seine Memoiren schriebe, hatten nicht
völlig unrecht. Nur daß es sich nicht um politische oder
militärische Erinnerungen handelte, wie man mit
Spannung erwartete. »Die vergesse ich«, sagte der alte Herr
kurz, wenn ihn jemand auf solche Tatsachen hin
anredete. Was er aber nicht vergessen wollte, das war seine
Kindheit. Auf die hielt er. Und es war ganz in der
Ordnung, seiner Meinung nach, daß jene sehr entfernte
Zeit nun in ihm die Oberhand gewann, daß sie, wenn er
seinen Blick nach innen kehrte, dalag wie in einer hellen
nordischen Sommernacht, gesteigert und schlaflos.

Manchmal sprang er auf und redete in die Kerzen
hinein, daß sie flackerten. Oder ganze Sätze mußten wieder
durchgestrichen werden, und dann ging er heftig hin
und her und wehte mit seinem nilgrünen, seidenen
Schlafrock. Während alledem war noch eine Person
zugegen, Sten, des Grafen alter, jütlandischer
Kammerdiener, dessen Aufgabe es war, wenn der Großvater
aufsprang, die Hände schnell über die einzelnen losen
Blätter zu legen, die, mit Notizen bedeckt, auf dem
Tische herumlagen. Seine Gnaden hatten die Vorstellung,
daß das heutige Papier nichts tauge, daß es viel zu leicht
sei und davonfliege bei der geringsten Gelegenheit. Und
Sten, von dem man nur die lange obere Hälfte sah, teilte
diesen Verdacht und saß gleichsam auf seinen Händen,
lichtblind und ernst wie ein Nachtvogel.

Dieser Sten verbrachte die Sonntag-Nachmittage
da<<847>>
mit, Swedenborg zu lesen, und niemand von der
Dienerschaft hätte je sein Zimmer betreten mögen, weil es
hieß, daß er zitiere. Die Familie Stens hatte seit je
Umgang mit Geistern gehabt, und Sten war für diesen
Verkehr ganz besonders vorausbestimmt. Seiner Mutter
war etwas erschienen in der Nacht, da sie ihn gebar. Er
hatte große, runde Augen, und das andere Ende seines
Blicks kam hinter jeden zu liegen, den er damit ansah.
Abelonens Vater fragte ihn oft nach den Geistern, wie
man sonst jemanden nach seinen Angehörigen fragt:
»Kommen sie, Sten?« sagte er wohlwollend. »Es ist gut,
wenn sie kommen.«

Ein paar Tage ging das Diktieren seinen Gang. Aber
dann konnte Abelone >Eckernförde< nicht schreiben.
Es war ein Eigenname, und sie hatte ihn nie gehört.
Der Graf, der im Grunde schon lange einen Vorwand
suchte, das Schreiben aufzugeben, das zu langsam war
für seine Erinnerungen, stellte sich unwillig.

»Sie kann es nicht schreiben«, sagte er scharf, »und
andere werden es nicht lesen können. Und werden sie
es überhaupt sehen, was ich da sage?« fuhr er böse fort
und ließ Abelone nicht aus den Augen.

»Werden sie ihn sehen, diesen Saint-Germain?« schrie
er sie an. »Haben wir Saint-Germain gesagt? streich es
durch. Schreib: der Marquis von Belmare.«

Abelone strich durch und schrieb. Aber der Graf sprach
so schnell weiter, daß man nicht mitkonnte.

»Er mochte Kinder nicht leiden, dieser vortreffliche
Belmare, aber mich nahm er auf sein Knie, so klein
ich war, und mir kam die Idee, in seine Diamantknöpfe
<<848>>
zu beißen. Das freute ihn. Er lachte und hob mir den
Kopf, bis wir einander in die Augen sahen: >Du hast
ausgezeichnete Zähne<, sagte er, >Zähne, die etwas
unternehmen ...< -- Ich aber merkte mir seine Augen. Ich
bin später da und dort herumgekommen. Ich habe
allerhand Augen gesehen, kannst du mir glauben: solche
nicht wieder. Für diese Augen hätte nichts da sein
müssen, die hattens in sich. Du hast von Venedig gehört?
Gut. Ich sage dir, die hätten Venedig hier
hereingesehen in dieses Zimmer, daß es da gewesen wäre, wie der
Tisch. Ich saß in der Ecke einmal und hörte, wie er
meinem Vater von Persien erzählte, manchmal mein
ich noch, mir riechen die Hände davon. Mein Vater
schätzte ihn, und Seine Hoheit, der Landgraf, war so
etwas wie sein Schüler. Aber es gab natürlich genug,
die ihm übelnahmen, daß er an die Vergangenheit nur
glaubte, wenn sie in ihm war. Das konnten sie nicht
begreifen, daß der Kram nur Sinn hat, wenn man damit
geboren wird.«

»Die Bücher sind leer«, schrie der Graf mit einer
wütenden Gebärde nach den Wänden hin, »das Blut,
darauf kommt es an, da muß man drin lesen können. Er
hatte wunderliche Geschichten drin und merkwürdige
Abbildungen, dieser Belmare; er konnte aufschlagen, wo
er wollte, da war immer was beschrieben; keine Seite in
seinem Blut war überschlagen worden. Und wenn er sich
einschloß von Zeit zu Zeit und allein drin blätterte, dann
kam er zu den Stellen über das Goldmachen und über die
Steine und über die Farben. Warum soll das nicht darin
gestanden haben? es steht sicher irgendwo.«
<<849>>
»Er hätte gut mit einer Wahrheit leben können, dieser
Mensch, wenn er allein gewesen wäre. Aber es war
keine Kleinigkeit, allein zu sein mit einer solchen. Und er
war nicht so geschmacklos, die Leute einzuladen, daß
sie ihn bei seiner Wahrheit besuchten; die sollte nicht
ins Gerede kommen: dazu war er viel zu sehr
Orientale. >Adieu, Madame<, sagte er ihr wahrheitsgemäß,
>auf ein anderes Mal. Vielleicht ist man in tausend
Jahren etwas kräftiger und ungestörter. Ihre Schönheit ist
ja doch erst im Werden, Madame<, sagte er, und das
war keine bloße Höflichkeit. Damit ging er fort und
legte draußen für die Leute seinen Tierpark an, eine
Art Jardin d'Acclimatation für die größeren Arten von
Lügen, die man bei uns noch nie gesehen hatte, und ein
Palmenhaus von Übertreibungen und eine kleine,
gepflegte Figuerie falscher Geheimnisse. Da kamen sie von
allen Seiten, und er ging herum mit Diamantschnallen
an den Schuhen und war ganz für seine Gäste da.«

»Eine oberflächliche Existenz: wie? Im Grunde wars
doch eine Ritterlichkeit gegen seine Dame, und er hat
sich ziemlich dabei konserviert.«

Seit einer Weile schon redete der Alte nicht mehr auf
Abelone ein, die er vergessen hatte. Er ging wie rasend
auf und ab und warf herausfordernde Blicke auf Sten,
als sollte Sten in einem gewissen Augenblicke sich in
den verwandeln, an den er dachte. Aber Sten
verwandelte sich noch nicht.

»Man müßte ihn sehen«, fuhr Graf Brahe versessen fort.
»Es gab eine Zeit, wo er durchaus sichtbar war, obwohl
in manchen Städten die Briefe, die er empfing, an
nie<<850>>
manden gerichtet waren: es stand nur der Ort darauf,
sonst nichts. Aber ich hab ihn gesehen.«

»Er war nicht schön.« Der Graf lachte eigentümlich
eilig. »Auch nicht, was die Leute bedeutend nennen
oder vornehm: es waren immer Vornehmere neben ihm.
Er war reich: aber das war bei ihm nur wie ein Einfall,
daran konnte man sich nicht halten. Er war gut
gewachsen, obzwar andere hielten sich besser. Ich konnte
damals natürlich nicht beurteilen, ob er geistreich war
und das und dies, worauf Wert gelegt wird --: aber er
war

Der Graf, bebend, stand und machte eine Bewegung,
als stellte er etwas in den Raum hinein, was blieb.
In diesem Moment gewahrte er Abelone.

»Siehst du ihn?« herrschte er sie an. Und plötzlich
ergriff er den einen silbernen Armleuchter und leuchtete
ihr blendend ins Gesicht.

Abelone erinnerte sich, daß sie ihn gesehen habe.

In den nächsten Tagen wurde Abelone regelmäßig
gerufen, und das Diktieren ging nach diesem
Zwischenfall viel ruhiger weiter. Der Graf stellte nach allerhand
Papieren seine frühesten Erinnerungen an den
Bernstorffschen Kreis zusammen, in dem sein Vater eine
gewisse Rolle spielte. Abelone war jetzt so gut auf die
Besonderheiten ihrer Arbeit eingestellt, daß, wer die beiden
sah, ihre zweckdienliche Gemeinsamkeit leicht für ein
wirkliches Vertrautsein nehmen konnte.

Einmal, als Abelone sich schon zurückziehen wollte,
trat der alte Herr auf sie zu, und es war, als hielte er
die Hände mit einer Überraschung hinter sich:
<<851>>
»Morgen schreiben wir von Julie Reventlow«, sagte er und
kostete seine Worte: »das war eine Heilige.«

Wahrscheinlich sah Abelone ihn ungläubig an.

»Ja, ja, das giebt es alles noch«, bestand er in
befehlendem Tone, »es giebt alles, Komtesse Abel.«

Er nahm Abelonens Hände und schlug sie auf wie ein
Buch.

»Sie hatte die Stigmata«, sagte er, »hier und hier.« Und
er tippte mit seinem kalten Finger hart und kurz in
ihre beiden Handflächen.

Den Ausdruck Stigmata kannte Abelone nicht. Es wird
sich zeigen, dachte sie; sie war recht ungeduldig, von
der Heiligen zu hören, die ihr Vater noch gesehen hatte.
Aber sie wurde nicht mehr geholt, nicht am nächsten
Morgen und auch später nicht. --

»Von der Gräfin Reventlow ist ja dann oft bei euch
gesprochen worden«, schloß Abelone kurz, als ich sie bat,
mehr zu erzählen. Sie sah müde aus; auch behauptete
sie, das Meiste wieder vergessen zu haben. »Aber die
Stellen fühl ich noch manchmal«, lächelte sie und konnte
es nicht lassen und schaute beinah neugierig in ihre
leeren Hände.

Noch vor meines Vaters Tod war alles anders geworden.
Ulsgaard war nicht mehr in unserm Besitz. Mein Vater
starb in der Stadt, in einer Etagenwohnung, die mir
feindsälig und befremdlich schien. Ich war damals schon
im Ausland und kam zu spät.

Er war aufgebahrt in einem Hofzimmer zwischen zwei
Reihen hoher Kerzen. Der Geruch der Blumen war
<<852>>
unverständlich wie viele gleichzeitige Stimmen. Sein
schönes Gesicht, darin die Augen geschlossen worden
waren, hatte einen Ausdruck höflichen Erinnerns. Er
war eingekleidet in die Jägermeisters-Uniform, aber aus
irgendeinem Grunde hatte man das weiße Band
aufgelegt, statt des blauen. Die Hände waren nicht gefaltet,
sie lagen schräg übereinander und sahen nachgemacht
und sinnlos aus. Man hatte mir rasch erzählt, daß er
viel gelitten habe: es war nichts davon zu sehen. Seine
Züge waren aufgeräumt wie die Möbel in einem
Fremdenzimmer, aus dem jemand abgereist war. Mir war
zumute, als hätte ich ihn schon öfter tot gesehen: so gut
kannte ich das alles.

Neu war nur die Umgebung, auf eine unangenehme
Art. Neu war dieses bedrückende Zimmer, das Fenster
gegenüber hatte, wahrscheinlich die Fenster anderer
Leute. Neu war es, daß Sieversen von Zeit zu Zeit
hereinkam und nichts tat. Sieversen war alt geworden.
Dann sollte ich frühstücken. Mehrmals wurde mir das
Frühstück gemeldet. Mir lag durchaus nichts daran, zu
frühstücken an diesem Tage. Ich merkte nicht, daß man
mich forthaben wollte; schließlich, da ich nicht ging,
brachte Sieversen es irgendwie heraus, daß die Ärzte da
wären. Ich begriff nicht, wozu. Es wäre da noch etwas
zu tun, sagte Sieversen und sah mich mit ihren roten
Augen angestrengt an. Dann traten, etwas überstürzt,
zwei Herren herein: das waren die Ärzte. Der vordere
senkte seinen Kopf mit einem Ruck, als hätte er
Hörner und wollte stoßen, um uns über seine Gläser fort
anzusehen: erst Sieversen, dann mich.
<<853>>
Er verbeugte sich mit studentischer Förmlichkeit. »Der
Herr Jägermeister hatte noch einen Wunsch«, sagte er
genau so, wie er eingetreten war; man hatte wieder das
Gefühl, daß er sich überstürzte. Ich nötigte ihn
irgendwie, seinen Blick durch seine Gläser zu richten. Sein
Kollege war ein voller, dünnschaliger, blonder Mensch;
es fiel mir ein, daß man ihn leicht zum Erröten bringen
könnte. Darüber entstand eine Pause. Es war seltsam,
daß der Jägermeister jetzt noch Wünsche hatte.

Ich blickte unwillkürlich wieder hin in das schöne,
gleichmäßige Gesicht. Und da wußte ich, daß er Sicherheit
wollte. Die hatte er im Grunde immer gewünscht. Nun
sollte er sie bekommen.

»Sie sind wegen des Herzstichs da: bitte.«

Ich verneigte mich und trat zurück. Die beiden Ärzte
verbeugten sich gleichzeitig und begannen sofort sich
über ihre Arbeit zu verständigen. Jemand rückte auch
schon die Kerzen beiseite. Aber der Ältere machte
nochmals ein paar Schritte auf mich zu. Aus einer gewissen
Nähe streckte er sich vor, um das letzte Stück Weg zu
ersparen, und sah mich böse an.

»Es ist nicht nötig«, sagte er, »das heißt, ich meine,
es ist vielleicht besser, wenn Sie ...«

Er kam mir vernachlässigt und abgenutzt vor in seiner
sparsamen und eiligen Haltung. Ich verneigte mich
abermals; es machte sich so, daß ich mich schon wieder
verneigte.

»Danke«, sagte ich knapp. »Ich werde nicht stören.«

Ich wußte, daß ich dieses ertragen würde und daß kein
Grund da war, sich dieser Sache zu entziehen. Das hatte
<<854>>
so kommen müssen. Das war vielleicht der Sinn von dem
Ganzen. Auch hatte ich nie gesehen, wie es ist, wenn
jemand durch die Brust gestochen wird. Es schien mir in
der Ordnung, eine so merkwürdige Erfahrung nicht
abzulehnen, wo sie sich zwanglos und unbedingt einstellte.
An Enttäuschungen glaubte ich damals eigentlich schon
nicht mehr; also war nichts zu befürchten.

Nein, nein, vorstellen kann man sich nichts auf der
Welt, nicht das Geringste. Es ist alles aus so viel
einzigen Einzelheiten zusammengesetzt, die sich nicht
absehen lassen. Im Einbilden geht man über sie weg und
merkt nicht, daß sie fehlen, schnell wie man ist. Die
Wirklichkeiten aber sind langsam und unbeschreiblich
ausführlich.

Wer hätte zum Beispiel an diesen Widerstand gedacht.
Kaum war die breite, hohe Brust bloßgelegt, so hatte
der eilige kleine Mann schon die Stelle heraus, um die
es sich handelte. Aber das rasch angesetzte Instrument
drang nicht ein. Ich hatte das Gefühl, als wäre
plötzlich alle Zeit fort aus dem Zimmer. Wir befanden uns
wie in einem Bilde. Aber dann stürzte die Zeit nach
mit einem kleinen, gleitenden Geräusch, und es war
mehr da, als verbraucht wurde. Auf einmal klopfte es
irgendwo. Ich hatte noch nie so klopfen hören: ein
warmes, verschlossenes, doppeltes Klopfen. Mein Gehör gab
es weiter, und ich sah zugleich, daß der Arzt auf Grund
gestoßen war. Aber es dauerte eine Weile, bevor die
beiden Eindrücke in mir zusammenkamen. So, so, dachte
ich, nun ist es also durch. Das Klopfen war, was das
Tempo betrifft, beinah schadenfroh.
<<855>>
Ich sah mir den Mann an, den ich nun schon so lange
kannte. Nein, er war völlig beherrscht: ein rasch und
sachlich arbeitender Herr, der gleich weiter mußte. Es
war keine Spur von Genuß oder Genugtuung dabei.
Nur an seiner linken Schläfe hatten sich ein paar Haare
aufgestellt aus irgendeinem alten Instinkt. Er zog das
Instrument vorsichtig zurück, und es war etwas wie ein
Mund da, aus dem zweimal hintereinander Blut
austrat, als sagte er etwas Zweisilbiges. Der junge, blonde
Arzt nahm es schnell mit einer eleganten Bewegung
in seine Watte auf. Und nun blieb die Wunde ruhig,
wie ein geschlossenes Auge.

Es ist anzunehmen, daß ich mich noch einmal
verneigte, ohne diesmal recht bei der Sache zu sein. Wenigstens
war ich erstaunt, mich allein zu finden. Jemand hatte
die Uniform wieder in Ordnung gebracht, und das weiße
Band lag darüber wie vorher. Aber nun war der
Jägermeister tot, und nicht er allein. Nun war das Herz
durchbohrt, unser Herz, das Herz unseres Geschlechts. Nun
war es vorbei. Das war also das Helmzerbrechen: »Heute
Brigge und nimmermehr«, sagte etwas in mir.

An mein Herz dachte ich nicht. Und als es mir später
einfiel, wußte ich zum erstenmal ganz gewiß, daß es
hierfür nicht in Betracht kam. Es war ein einzelnes
Herz. Es war schon dabei, von Anfang anzufangen.

Ich weiß, daß ich mir einbildete, nicht sofort wieder
abreisen zu können. Erst muß alles geordnet sein,
wiederholte ich mir. Was geordnet sein wollte, war mir
nicht klar. Es war so gut wie nichts zu tun. Ich ging in
<<856>>
der Stadt umher und konstatierte, daß sie sich
verändert hatte. Es war mir angenehm, aus dem Hotel
hinauszutreten, in dem ich abgestiegen war, und zu sehen,
daß es nun eine Stadt für Erwachsene war, die sich für
einen zusammennahm, fast wie für einen Fremden.
Ein bißchen klein war alles geworden, und ich
promenierte die Langelinie hinaus bis an den Leuchtturm
und wieder zurück. Wenn ich in die Gegend der
Amaliengade kam, so konnte es freilich geschehen, daß von
irgendwo etwas ausging, was man jahrelang anerkannt
hatte und was seine Macht noch einmal versuchte. Es
gab da gewisse Eckfenster oder Torbogen oder
Laternen, die viel von einem wußten und damit drohten.
Ich sah ihnen ins Gesicht und ließ sie fühlen, daß ich
im Hotel >Phönix< wohnte und jeden Augenblick
wieder reisen konnte. Aber mein Gewissen war nicht ruhig
dabei. Der Verdacht stieg in mir auf, daß noch keiner
dieser Einflüsse und Zusammenhänge wirklich
bewältigt worden war. Man hatte sie eines Tages heimlich
verlassen, unfertig wie sie waren. Auch die Kindheit
würde also gewissermaßen noch zu leisten sein, wenn
man sie nicht für immer verloren geben wollte. Und
während ich begriff, wie ich sie verlor, empfand ich
zugleich, daß ich nie etwas anderes haben würde, mich
darauf zu berufen.

Ein paar Stunden täglich brachte ich in Dronningens
Tværgade zu, in den engen Zimmern, die beleidigt
aussahen wie alle Mietswohnungen, in denen jemand
gestorben ist. Ich ging zwischen dem Schreibtisch und dem
großen weißen Kachelofen hin und her und
verbrann<<857>>
te die Papiere des Jägermeisters. Ich hatte begonnen,
die Briefschaften, so wie sie zusammengebunden
waren, ins Feuer zu werfen, aber die kleinen Pakete waren
zu fest verschnürt und verkohlten nur an den
Rändern. Es kostete mich Überwindung, sie zu lockern. Die
meisten hatten einen starken, überzeugenden Duft, der
auf mich eindrang, als wollte er auch in mir
Erinnerungen aufregen. Ich hatte keine. Dann konnte es
geschehen, daß Photographien herausglitten, die schwerer
waren als das andere; diese Photographien verbrannten
unglaublich langsam. Ich weiß nicht, wie es kam,
plötzlich bildete ich mir ein, es könnte Ingeborgs Bild
darunter sein. Aber sooft ich hinsah, waren es reife, großartige,
deutlich schöne Frauen, die mich auf andere Gedanken
brachten. Es erwies sich nämlich, daß ich doch nicht
ganz ohne Erinnerungen war. Genau solche Augen
waren es, in denen ich mich manchmal fand, wenn ich, zur
Zeit da ich heranwuchs, mit meinem Vater über die
Straße ging. Dann konnten sie von einem Wageninnern
aus mich mit einem Blick umgeben, aus dem kaum
hinauszukommen war. Nun wußte ich, daß sie mich damals
mit ihm verglichen und daß der Vergleich nicht zu
meinen Gunsten ausfiel. Gewiß nicht, Vergleiche hatte der
Jägermeister nicht zu fürchten.

Es kann sein, daß ich nun etwas weiß, was er
gefürchtet hat. Ich will sagen, wie ich zu dieser Annahme
komme. Ganz innen in seiner Brieftasche befand sich
ein Papier, seit lange gefaltet, mürbe, gebrochen in den
Bügen. Ich habe es gelesen, bevor ich es verbrannte.
Es war von seiner besten Hand, sicher und
gleich<<858>>
mäßig geschrieben, aber ich merkte gleich, daß es nur
eine Abschrift war.

»Drei Stunden vor seinem Tod«, so begann es und
handelte von Christian dem Vierten. Ich kann den
Inhalt natürlich nicht wörtlich wiederholen. Drei Stunden
vor seinem Tod begehrte er aufzustehen. Der Arzt und
der Kammerdiener Wormius halfen ihm auf die Füße.
Er stand ein wenig unsicher, aber er stand, und sie
zogen ihm das gesteppte Nachtkleid an. Dann setzte er
sich plötzlich vorn an das Bettende und sagte etwas. Es
war nicht zu verstehen. Der Arzt behielt immerzu seine
linke Hand, damit der König nicht auf das Bett
zurücksinke. So saßen sie, und der König sagte von Zeit zu Zeit
mühsam und trübe das Unverständliche. Schließlich
begann der Arzt ihm zuzusprechen; er hoffte allmählich
zu erraten, was der König meinte. Nach einer Weile
unterbrach ihn der König und sagte auf einmal ganz
klar: »O, Doktor, Doktor, wie heißt er?« Der Arzt hatte
Mühe, sich zu besinnen.

»Sperling, Allergnädigster König.«

Aber darauf kam es nun wirklich nicht an. Der König,
sobald er hörte, daß man ihn verstand, riß das rechte
Auge, das ihm geblieben war, weit auf und sagte mit
dem ganzen Gesicht das eine Wort, das seine Zunge seit
Stunden formte, das einzige, das es noch gab: »Döden«,
sagte er, »Döden.«

Mehr stand nicht auf dem Blatt. Ich las es mehrere Male,
ehe ich es verbrannte. Und es fiel mir ein, daß mein Vater
viel gelitten hatte zuletzt. So hatte man mir erzählt.
<<859>>
Seitdem habe ich viel über die Todesfurcht
nachgedacht, nicht ohne gewisse eigene Erfahrungen dabei zu
berücksichtigen. Ich glaube, ich kann wohl sagen, ich
habe sie gefühlt. Sie überfiel mich in der vollen Stadt,
mitten unter den Leuten, oft ganz ohne Grund. Oft
allerdings häuften sich die Ursachen; wenn zum Beispiel
jemand auf einer Bank verging und alle standen herum
und sahen ihm zu, und er war schon über das Fürchten
hinaus: dann hatte ich seine Furcht. Oder in Neapel
damals: da saß diese junge Person mir gegenüber in der
Elektrischen Bahn und starb. Erst sah es wie eine
Ohnmacht aus, wir fuhren sogar noch eine Weile. Aber dann
war kein Zweifel, daß wir stehenbleiben mußten. Und
hinter uns standen die Wagen und stauten sich, als ginge
es in dieser Richtung nie mehr weiter. Das blasse, dicke
Mädchen hätte so, angelehnt an ihre Nachbarin, ruhig
sterben können. Aber ihre Mutter gab das nicht zu. Sie
bereitete ihr alle möglichen Schwierigkeiten. Sie brachte
ihre Kleider in Unordnung und goß ihr etwas in den
Mund, der nichts mehr behielt. -- Sie verrieb auf ihrer
Stirn eine Flüssigkeit, die jemand gebracht hatte, und
wenn die Augen dann ein wenig verrollten, so begann sie
an ihr zu rütteln, damit der Blick wieder nach vorne
käme. Sie schrie in diese Augen hinein, die nicht hörten,
sie zerrte und zog das Ganze wie eine Puppe hin und
her, und schließlich holte sie aus und schlug mit aller
Kraft in das dicke Gesicht, damit es nicht stürbe.
Damals fürchtete ich mich.

Aber ich fürchtete mich auch schon früher. Zum
Beispiel, als mein Hund starb. Derselbe, der mich ein- für
<<860>>
allemal beschuldigte. Er war sehr krank. Ich kniete bei
ihm schon den ganzen Tag, da plötzlich bellte er auf,
ruckweise und kurz, wie er zu tun pflegte, wenn ein
Fremder ins Zimmer trat. Ein solches Bellen war für
diesen Fall zwischen uns gleichsam verabredet worden,
und ich sah unwillkürlich nach der Tür. Aber es war
schon in ihm. Beunruhigt suchte ich seinen Blick, und
auch er suchte den meinen; aber nicht um Abschied zu
nehmen. Er sah mich hart und befremdet an. Er warf
mir vor, daß ich es hereingelassen hatte. Er war
überzeugt, ich hätte es hindern können. Nun zeigte es sich,
daß er mich immer überschätzt hatte. Und es war keine
Zeit mehr, ihn aufzuklären. Er sah mich befremdet und
einsam an, bis es zu Ende war.

Oder ich fürchtete mich, wenn im Herbst nach den
ersten Nachtfrösten die Fliegen in die Stuben kamen
und sich noch einmal in der Wärme erholten. Sie waren
merkwürdig vertrocknet und erschraken bei ihrem
eigenen Summen; man konnte sehen, daß sie nicht mehr
recht wußten, was sie taten. Sie saßen stundenlang da
und ließen sich gehen, bis es ihnen einfiel, daß sie noch
lebten; dann warfen sie sich blindlings irgendwohin und
begriffen nicht, was sie dort sollten, und man hörte sie
weiterhin niederfallen und drüben und anderswo. Und
endlich krochen sie überall und bestarben langsam das
ganze Zimmer.

Aber sogar wenn ich allein war, konnte ich mich
fürchten. Warum soll ich tun, als wären jene Nächte nicht
gewesen, da ich aufsaß vor Todesangst und mich daran
klammerte, daß das Sitzen wenigstens noch etwas
Le<<861>>
bendiges sei: daß Tote nicht saßen. Das war immer in
einem von diesen zufälligen Zimmern, die mich sofort
im Stich ließen, wenn es mir schlecht ging, als fürchteten
sie, verhört und in meine argen Sachen verwickelt zu
werden. Da saß ich, und wahrscheinlich sah ich so
schrecklich aus, daß nichts den Mut hatte, sich zu mir
zu bekennen. Nicht einmal das Licht, dem ich doch eben
den Dienst erwiesen hatte, es anzuzünden, wollte von
mir wissen. Es brannte so vor sich hin, wie in einem
leeren Zimmer. Meine letzte Hoffnung war dann immer
das Fenster. Ich bildete mir ein, dort draußen könnte
noch etwas sein, was zu mir gehörte, auch jetzt, auch in
dieser plötzlichen Armut des Sterbens. Aber kaum hatte
ich hingesehen, so wünschte ich, das Fenster wäre
verrammelt gewesen, zu, wie die Wand. Denn nun wußte
ich, daß es dort hinaus immer gleich teilnahmslos
weiterging, daß auch draußen nichts als meine Einsamkeit
war. Die Einsamkeit, die ich über mich gebracht hatte
und zu deren Größe mein Herz in keinem Verhältnis
mehr stand. Menschen fielen mir ein, von denen ich
einmal fortgegangen war, und ich begriff nicht, wie man
Menschen verlassen konnte.

Mein Gott, mein Gott, wenn mir noch solche Nächte
bevorstehen, laß mir doch wenigstens einen von den
Gedanken, die ich zuweilen denken konnte. Es ist nicht so
unvernünftig, was ich da verlange; denn ich weiß, daß
sie gerade aus der Furcht gekommen sind, weil meine
Furcht so groß war. Da ich ein Knabe war, schlugen sie
mich ins Gesicht und sagten mir, daß ich feige sei. Das
war, weil ich mich noch schlecht fürchtete. Aber
seit<<862>>
dem habe ich mich fürchten gelernt mit der wirklichen
Furcht, die nur zunimmt, wenn die Kraft zunimmt,
die sie erzeugt. Wir haben keine Vorstellung von
dieser Kraft, außer in unserer Furcht. Denn so ganz
unbegreiflich ist sie, so völlig gegen uns, daß unser
Gehirn sich zersetzt an der Stelle, wo wir uns anstrengen,
sie zu denken. Und dennoch, seit einer Weile glaube
ich, daß es unsere Kraft ist, alle unsere Kraft, die noch
zu stark ist für uns. Es ist wahr, wir kennen sie nicht,
aber ist es nicht gerade unser Eigenstes, wovon wir
am wenigsten wissen? Manchmal denke ich mir, wie
der Himmel entstanden ist und der Tod: dadurch, daß
wir unser Kostbarstes von uns fortgerückt haben, weil
noch so viel anderes zu tun war vorher und weil es
bei uns Beschäftigten nicht in Sicherheit war. Nun
sind Zeiten darüber vergangen, und wir haben uns an
Geringeres gewöhnt. Wir erkennen unser Eigentum
nicht mehr und entsetzen uns vor seiner äußersten
Großheit. Kann das nicht sein?

Ich begreife übrigens jetzt gut, daß man ganz innen in
der Brieftasche die Beschreibung einer Sterbestunde bei
sich trägt durch alle die Jahre. Es müßte nicht einmal
eine besonders gesuchte sein; sie haben alle etwas fast
Seltenes. Kann man sich zum Beispiel nicht jemanden
vorstellen, der sich abschreibt, wie Felix Arvers
gestorben ist. Es war im Hospital. Er starb auf eine sanfte und
gelassene Weise, und die Nonne meinte vielleicht, daß
er damit schon weiter sei, als er in Wirklichkeit war. Sie
rief ganz laut irgend eine Weisung hinaus, wo das und
<<863>>
das zu finden wäre. Es war eine ziemlich ungebildete
Nonne; sie hatte das Wort Korridor, das im Augenblick
nicht zu vermeiden war, nie geschrieben gesehen; so
konnte es geschehen, daß sie >Kollidor< sagte in der
Meinung, es hieße so. Da schob Arvers das Sterben
hinaus. Es schien ihm nötig, dieses erst aufzuklären. Er
wurde ganz klar und setzte ihr auseinander, daß es
>Korridor< hieße. Dann starb er. Er war ein Dichter
und haßte das Ungefähre; oder vielleicht war es ihm nur
um die Wahrheit zu tun; oder es störte ihn, als letzten
Eindruck mitzunehmen, daß die Welt so nachlässig
weiterginge. Das wird nicht mehr zu entscheiden sein.
Nur soll man nicht glauben, daß es Pedanterie war.
Sonst träfe derselbe Vorwurf den heiligen Jean de Dieu,
der in seinem Sterben aufsprang und gerade noch
zurechtkam, im Garten den eben Erhängten
abzuschneiden, von dem auf wunderbare Art Kunde in die
verschlossene Spannung seiner Agonie gedrungen war.
Auch ihm war es nur um die Wahrheit zu tun.

Es giebt ein Wesen, das vollkommen unschädlich ist,
wenn es dir in die Augen kommt, du merkst es kaum und
hast es gleich wieder vergessen. Sobald es dir aber
unsichtbar auf irgendeine Weise ins Gehör gerät, so
entwickelt es sich dort, es kriecht gleichsam aus, und man
hat Fälle gesehen, wo es bis ins Gehirn vordrang und in
diesem Organ verheerend gedieh, ähnlich den
Pneumokokken des Hundes, die durch die Nase eindringen.

Dieses Wesen ist der Nachbar.

Nun, ich habe, seit ich so vereinzelt herumkomme,
<<864>>
unzählige Nachbaren gehabt; obere und untere, rechte
und linke, manchmal alle vier Arten zugleich. Ich
könnte einfach die Geschichte meiner Nachbaren
schreiben; das wäre ein Lebenswerk. Es wäre freilich
mehr die Geschichte der Krankheitserscheinungen,
die sie in mir erzeugt haben; aber das teilen sie mit
allen derartigen Wesen, daß sie nur in den Störungen
nachzuweisen sind, die sie in gewissen Geweben
hervorrufen.

Ich habe unberechenbare Nachbaren gehabt und sehr
regelmäßige. Ich habe gesessen und das Gesetz der ersten
herauszufinden versucht; denn es war klar, daß auch sie
eines hatten. Und wenn die pünktlichen einmal am
Abend ausblieben, so hab ich mir ausgemalt, was ihnen
könnte zugestoßen sein, und habe mein Licht brennen
lassen und mich geängstigt wie eine junge Frau. Ich habe
Nachbaren gehabt, die gerade haßten, und Nachbaren,
die in eine heftige Liebe verwickelt waren; oder ich
erlebte es, daß bei ihnen eines in das andere umsprang
mitten in der Nacht, und dann war natürlich an Schlafen
nicht zu denken. Da konnte man überhaupt beobachten,
daß der Schlaf durchaus nicht so häufig ist, wie man
meint. Meine beiden Petersburger Nachbaren zum
Beispiel gaben nicht viel auf Schlaf. Der eine stand und
spielte die Geige, und ich bin sicher, daß er dabei
hinübersah in die überwachen Häuser, die nicht aufhörten
hell zu sein in den unwahrscheinlichen Augustnächten.
Von dem anderen zur Rechten weiß ich allerdings, daß
er lag; er stand zu meiner Zeit überhaupt nicht mehr
auf. Er hatte sogar die Augen geschlossen; aber man
<<865>>
konnte nicht sagen, daß er schlief. Er lag und sagte lange
Gedichte her, Gedichte von Puschkin und Nekrassow,
in dem Tonfall, in dem Kinder Gedichte hersagen,
wenn man es von ihnen verlangt. Und trotz der Musik
meines linken Nachbars, war es dieser mit seinen
Gedichten, der sich in meinem Kopfe einpuppte, und Gott
weiß, was da ausgekrochen wäre, wenn nicht der
Student, der ihn zuweilen besuchte, sich eines Tages in
der Tür geirrt hätte. Er erzählte mir die Geschichte
seines Bekannten, und es ergab sich, daß sie
gewissermaßen beruhigend war. Jedenfalls war es eine
wörtliche, eindeutige Geschichte, an der die vielen Würmer
meiner Vermutungen zugrunde gingen.

Dieser kleine Beamte da nebenan war eines Sonntags
auf die Idee gekommen, eine merkwürdige Aufgabe zu
lösen. Er nahm an, daß er recht lange leben würde,
sagen wir noch fünfzig Jahre. Die Großmütigkeit, die
er sich damit erwies, versetzte ihn in eine glänzende
Stimmung. Aber nun wollte er sich selber übertreffen.
Er überlegte, daß man diese Jahre in Tage, in Stunden,
in Minuten, ja, wenn man es aushielt, in Sekunden
umwechseln könne, und er rechnete und rechnete, und
es kam eine Summe heraus, wie er noch nie eine
gesehen hatte. Ihn schwindelte. Er mußte sich ein wenig
erholen. Zeit war kostbar, hatte er immer sagen hören,
und es wunderte ihn, daß man einen Menschen, der
eine solche Menge Zeit besaß, nicht geradezu bewachte.
Wie leicht konnte er bestohlen werden. Dann aber
kam seine gute, beinah ausgelassene Laune wieder, er
zog seinen Pelz an, um etwas breiter und stattlicher
<<866>>
auszusehen, und machte sich das ganze fabelhafte
Kapital zum Geschenk, indem er sich ein bißchen
herablassend anredete:

»Nikolaj Kusmitsch«, sagte er wohlwollend und stellte
sich vor, daß er außerdem noch, ohne Pelz, dünn und
dürftig auf dem Roßhaarsofa säße, »ich hoffe, Nikolaj
Kusmitsch«, sagte er, »Sie werden sich nichts auf Ihren
Reichtum einbilden. Bedenken Sie immer, daß das nicht
die Hauptsache ist, es giebt arme Leute, die durchaus
respektabel sind; es giebt sogar verarmte Edelleute und
Generalstöchter, die auf der Straße herumgehen und
etwas verkaufen.« Und der Wohltäter führte noch
allerlei in der ganzen Stadt bekannte Beispiele an.
Der andere Nikolaj Kusmitsch, der auf dem
Roßhaarsofa, der Beschenkte, sah durchaus noch nicht
übermütig aus, man durfte annehmen, daß er vernünftig
sein würde. Er änderte in der Tat nichts an seiner
bescheidenen, regelmäßigen Lebensführung, und die
Sonntage brachte er nun damit zu, seine Rechnung in
Ordnung zu bringen. Aber schon nach ein paar Wochen
fiel es ihm auf, daß er unglaublich viel ausgäbe. Ich
werde mich einschränken, dachte er. Er stand früher
auf, er wusch sich weniger ausführlich, er trank
stehend seinen Tee, er lief ins Bureau und kam viel zu
früh. Er ersparte überall ein bißchen Zeit. Aber am
Sonntag war nichts Erspartes da. Da begriff er, daß er
betrogen sei. Ich hätte nicht wechseln dürfen, sagte er
sich. Wie lange hat man an so einem Jahr. Aber da,
dieses infame Kleingeld, das geht hin, man weiß nicht
wie. Und es wurde ein häßlicher Nachmittag, als er in
<<867>>
der Sofaecke saß und auf den Herrn im Pelz wartete,
von dem er seine Zeit zurückverlangen wollte. Er wollte
die Tür verriegeln und ihn nicht fortlassen, bevor er
nicht damit herausgerückt war. »In Scheinen«, wollte
er sagen, »meinetwegen zu zehn Jahren.« Vier Scheine
zu zehn und einer zu fünf, und den Rest sollte er
behalten, in des Teufels Namen. Ja, er war bereit, ihm
den Rest zu schenken, nur damit keine
Schwierigkeiten entstünden. Gereizt saß er im Roßhaarsofa und
wartete, aber der Herr kam nicht. Und er, Nikolaj
Kusmitsch, der sich vor ein paar Wochen mit
Leichtigkeit so hatte dasitzen sehen, er konnte sich jetzt, da er
wirklich saß, den andern Nikolaj Kusmitsch, den im
Pelz, den Großmütigen, nicht vorstellen. Weiß der
Himmel, was aus ihm geworden war, wahrscheinlich
war man seinen Betrügereien auf die Spur gekommen,
und er saß nun schon irgendwo fest. Sicher hatte er
nicht ihn allein ins Unglück gebracht. Solche
Hochstapler arbeiten immer im großen.

Es fiel ihm ein, daß es eine staatliche Behörde geben
müsse, eine Art Zeitbank, wo er wenigstens einen Teil
seiner lumpigen Sekunden umwechseln könne. Echt
waren sie doch schließlich. Er hatte nie von einer
solchen Anstalt gehört, aber im Adreßbuch würde gewiß
etwas Derartiges zu finden sein, unter Z, oder vielleicht
auch hieß es >Bank für Zeit<; man konnte leicht unter
B nachsehen. Eventuell war auch der Buchstabe K zu
berücksichtigen, denn es war anzunehmen, daß es ein
kaiserliches Institut war; das entsprach seiner
Wichtigkeit.
<<868>>
Später versicherte Nikolaj Kusmitsch immer, daß er
an jenem Sonntag Abend, obwohl er sich
begreiflicherweise in recht gedrückter Stimmung befand, nichts
getrunken habe. Er war also völlig nüchtern, als das
Folgende passierte, soweit man überhaupt sagen kann, was
da geschah. Vielleicht, daß er ein bißchen in seiner Ecke
eingeschlummert war, das ließe sich immerhin denken.
Dieser kleine Schlaf verschaffte ihm zunächst lauter
Erleichterung. Ich habe mich mit den Zahlen
eingelassen, redete er sich zu. Nun, ich verstehe nichts von
Zahlen. Aber es ist klar, daß man ihnen keine zu große
Bedeutung einräumen darf; sie sind doch sozusagen
nur eine Einrichtung von Staats wegen, um der
Ordnung willen. Niemand hatte doch je anderswo als auf
dem Papier eine gesehen. Es war ausgeschlossen, daß
einem zum Beispiel in einer Gesellschaft eine Sieben
oder eine Fünfundzwanzig begegnete. Da gab es die
einfach nicht. Und dann war da diese kleine
Verwechslung vorgefallen, aus purer Zerstreutheit: Zeit und
Geld, als ob sich das nicht auseinanderhalten ließe.
Nikolaj Kusmitsch lachte beinah. Es war doch gut,
wenn man sich so auf die Schliche kam, und
rechtzeitig, das war das Wichtige, rechtzeitig. Nun sollte es
anders werden. Die Zeit, ja, das war eine peinliche Sache.
Aber betraf es etwa ihn allein, ging sie nicht auch den
andern so, wie er es herausgefunden hatte, in
Sekunden, auch wenn sie es nicht wußten?

Nikolaj Kusmitsch war nicht ganz frei von
Schadenfreude: Mag sie immerhin --, wollte er eben denken,
aber da geschah etwas Eigentümliches. Es wehte
plötz<<869>>
lich an seinem Gesicht, es zog ihm an den Ohren
vorbei, er fühlte es an den Händen. Er riß die Augen auf.
Das Fenster war fest verschlossen. Und wie er da so mit
weiten Augen im dunkeln Zimmer saß, da begann er
zu verstehen, daß das, was er nun verspürte, die
wirkliche Zeit sei, die vorüberzog. Er erkannte sie förmlich,
alle diese Sekündchen, gleich lau, eine wie die andere,
aber schnell, aber schnell. Weiß der Himmel, was sie
noch vorhatten. Daß gerade ihm das widerfahren mußte,
der jede Art von Wind als Beleidigung empfand. Nun
würde man dasitzen, und es würde immer so
weitergehen, das ganze Leben lang. Er sah alle die
Neuralgien voraus, die man sich dabei holen würde, er war
außer sich vor Wut. Er sprang auf, aber die
Überraschungen waren noch nicht zu Ende. Auch unter seinen
Füßen war etwas wie eine Bewegung, nicht nur eine,
mehrere, merkwürdig durcheinanderschwankende
Bewegungen. Er erstarrte vor Entsetzen: konnte das die
Erde sein? Gewiß, das war die Erde. Sie bewegte sich
ja doch. In der Schule war davon gesprochen worden,
man war etwas eilig darüber weggegangen, und später
wurde es gern vertuscht; es galt nicht für passend,
davon zu sprechen. Aber nun, da er einmal empfindlich
geworden war, bekam er auch das zu fühlen. Ob die
anderen es fühlten? Vielleicht, aber sie zeigten es nicht.
Wahrscheinlich machte es ihnen nichts aus, diesen
Seeleuten. Nikolaj Kusmitsch aber war ausgerechnet in
diesem Punkt etwas delikat, er vermied sogar die
Straßenbahnen. Er taumelte im Zimmer umher wie auf Deck
und mußte sich rechts und links halten. Zum Unglück
<<870>>
fiel ihm noch etwas von der schiefen Stellung der
Erdachse ein. Nein, er konnte alle diese Bewegungen nicht
vertragen. Er fühlte sich elend. Liegen und ruhig halten,
hatte er einmal irgendwo gelesen. Und seither lag
Nikolaj Kusmitsch.

Er lag und hatte die Augen geschlossen. Und es gab
Zeiten, weniger bewegte Tage sozusagen, wo es ganz
erträglich war. Und dann hatte er sich das ausgedacht mit
den Gedichten. Man sollte nicht glauben, wie das half.
Wenn man so ein Gedicht langsam hersagte, mit
gleichmäßiger Betonung der Endreime, dann war
gewissermaßen etwas Stabiles da, worauf man sehen konnte,
innerlich versteht sich. Ein Glück, daß er alle diese
Gedichte wußte. Aber er hatte sich immer ganz besonders
für Literatur interessiert. Er beklagte sich nicht über
seinen Zustand, versicherte mir der Student, der ihn
lange kannte. Nur hatte sich mit der Zeit eine
übertriebene Bewunderung für die in ihm herausgebildet, die,
wie der Student, herumgingen und die Bewegung der
Erde vertrugen.

Ich erinnere mich dieser Geschichte so genau, weil sie
mich ungemein beruhigte. Ich kann wohl sagen, ich
habe nie wieder einen so angenehmen Nachbar
gehabt, wie diesen Nikolaj Kusmitsch, der sicher auch
mich bewundert hätte.

Ich nahm mir nach dieser Erfahrung vor, in ähnlichen
Fällen immer gleich auf die Tatsachen loszugehen. Ich
merkte, wie einfach und erleichternd sie waren, den
Vermutungen gegenüber. Als ob ich nicht gewußt
hät<<871>>
daß alle unsere Einsichten nachträglich sind,
Abschlüsse, nichts weiter. Gleich dahinter fängt eine neue
Seite an mit etwas ganz anderem, ohne Übertrag. Was
halfen mir jetzt im gegenwärtigen Falle die paar
Tatsachen, die sich spielend feststellen ließen. Ich will sie
gleich aufzählen, wenn ich gesagt haben werde, was mich
augenblicklich beschäftigt: daß sie eher dazu
beigetragen haben, meine Lage, die (wie ich jetzt eingestehe)
recht schwierig war, noch lästiger zu gestalten.

Es sei zu meiner Ehre gesagt, daß ich viel geschrieben
habe in diesen Tagen; ich habe krampfhaft
geschrieben. Allerdings, wenn ich ausgegangen war, so dachte
ich nicht gerne an das Nachhausekommen. Ich machte
sorar kleine Umwege und verlor auf diese Art eine
halbe Stunde, während welcher ich hätte schreiben
können. Ich gebe zu, daß dies eine Schwäche war. War ich
aber einmal in meinem Zimmer, so hatte ich mir nichts
vorzuwerfen. Ich schrieb, ich hatte mein Leben, und
das da nebenan war ein ganz anderes Leben, mit dem
ich nichts teilte: das Leben eines Studenten der
Medizin, der für sein Examen studierte. Ich hatte nichts
Ähnliches vor mir, schon das war ein entscheidender
Unterschied. Und auch sonst waren unsere Umstände
so verschieden wie möglich. Das alles leuchtete mir eim
Bis zu dem Moment, da ich wußte, daß es kommen
würde; da vergaß ich, daß es zwischen uns keine
Gemeinsamkeit gab. Ich horchte so, daß mein Herz ganz
laut wurde. Ich ließ alles und horchte. Und dann kam
es: ich habe mich nie geirrt.

Beinah jeder kennt den Lärm, den irgendein
blecher<<872>>
nes, rundes Ding, nehmen wir an, der Deckel einer
Blechbüchse, verursacht, wenn er einem entglitten ist.
Gewöhnlich kommt er gar nicht einmal sehr laut unten
an, er fällt kurz auf, rollt auf dem Rande weiter und
wird eigentlich erst unangenehm, wenn der Schwung
zu Ende geht und er nach allen Seiten taumelnd
aufschlägt, eh er ins Liegen kommt. Nun also: das ist das
Ganze; so ein blecherner Gegenstand fiel nebenan, rollte,
blieb liegen, und dazwischen, in gewissen Abständen,
stampfte es. Wie alle Geräusche, die sich wiederholt
durchsetzen, hatte auch dieses sich innerlich organisiert;
es wandelte sich ab, es war niemals genau dasselbe.
Aber gerade das sprach für seine Gesetzmäßigkeit. Es
konnte heftig sein oder milde oder melancholisch; es
konnte gleichsam überstürzt vorübergehen oder
unendlich lange hingleiten, eh es zu Ruhe kam. Und das
letzte Schwanken war immer überraschend. Dagegen
hatte das Aufstampfen, das hinzukam, etwas fast
Mechanisches. Aber es teilte den Lärm immer anders ab,
das schien seine Aufgabe zu sein. Ich kann diese
Einzelheiten jetzt viel besser übersehen; das Zimmer neben
mir ist leer. Er ist nach Hause gereist, in die Provinz.
Er sollte sich erholen. Ich wohne im obersten
Stockwerk. Rechts ist ein anderes Haus, unter mir ist noch
niemand eingezogen: ich bin ohne Nachbar.

In dieser Verfassung wundert es mich beinah, daß ich
die Sache nicht leichter nahm. Obwohl ich doch
jedesmal im voraus gewarnt war durch mein Gefühl. Das
wäre auszunutzen gewesen. Erschrick nicht, hätte ich
mir sagen müssen, jetzt kommt es; ich wußte ja, daß
<<873>>
ich mich niemals täuschte. Aber das lag vielleicht
gerade an den Tatsachen, die ich mir hatte sagen lassen;
seit ich sie wußte, war ich noch schreckhafter geworden.
Es berührte mich fast gespenstisch, daß das, was diesen
Lärm auslöste, jene kleine, langsame, lautlose
Bewegung war, mit der sein Augenlid sich eigenmächtig
über sein rechtes Auge senkte und schloß, während er
las. Dies war das Wesentliche an seiner Geschichte, eine
Kleinigkeit. Er hatte schon ein paar Mal die Examen
vorbeigehen lassen müssen, sein Ehrgeiz war
empfindlich geworden, und die Leute daheim drängten
wahrscheinlich, sooft sie schrieben. Was blieb also übrig, als
sich zusammenzunehmen. Aber da hatte sich, ein paar
Monate vor der Entscheidung, diese Schwäche
eingestellt; diese kleine, unmögliche Ermüdung, die so
lächerlich war, wie wenn ein Fenstervorhang nicht oben
bleiben will. Ich bin sicher, daß er wochenlang der
Meinung war, man müßte das beherrschen können. Sonst
wäre ich nicht auf die Idee verfallen, ihm meinen
Willen anzubieten. Eines Tages begriff ich nämlich, daß
der seine zu Ende sei. Und seither, wenn ich es
kommen fühlte, stand ich da auf meiner Seite der Wand
und bat ihn, sich zu bedienen. Und mit der Zeit wurde
mir klar, daß er darauf einging. Vielleicht hätte er das
nicht tun dürfen, besonders wenn man bedenkt, daß es
eigentlich nichts half. Angenommen sogar, daß wir die
Sache ein wenig hinhielten, so bleibt es doch fraglich, ob
er wirklich imstande war, die Augenblicke, die wir so
gewannen, auszunutzen. Und was meine Ausgaben
betrifft, so begann ich sie zu fühlen. Ich weiß, ich fragte
<<874>>
mich, ob das so weitergehen dürfe, gerade an dem
Nachmittag, als jemand in unserer Etage ankam. Dies ergab
bei dem engen Aufgang immer viel Unruhe in dem
kleinen Hotel. Eine Weile später schien es mir, als trete
man bei meinem Nachbar ein. Unsere Türen waren die
letzten im Gang, die seine quer und dicht neben der
meinen. Ich wußte indessen, daß er zuweilen Freunde
bei sich sah, und, wie gesagt, ich interessierte mich
durchaus nicht für seine Verhältnisse. Es ist möglich,
daß seine Tür noch mehrmals geöffnet wurde, daß man
draußen kam und ging. Dafür war ich wirklich nicht
verantwortlich.

Nun an diesem selben Abend war es ärger denn je. Es
war noch nicht sehr spät, aber ich war aus Müdigkeit
schon zu Bett gegangen; ich hielt es für wahrscheinlich,
daß ich schlafen würde. Da fuhr ich auf, als hätte man
mich berührt. Gleich darauf brach es los. Es sprang und
rollte und rannte irgendwo an und schwankte und
klappte. Das Stampfen war fürchterlich. Dazwischen
klopfte man unten, einen Stock tiefer, deutlich und böse
gegen die Decke. Auch der neue Mieter war natürlich
gestört. Jetzt: das mußte seine Türe sein. Ich war so
wach, daß ich seine Türe zu hören meinte, obwohl er
erstaunlich vorsichtig damit umging. Es kam mir vor,
als nähere er sich. Sicher wollte er wissen, in welchem
Zimmer es sei. Was mich befremdete, war seine
wirklich übertriebene Rücksicht. Er hatte doch eben
bemerken können, daß es auf Ruhe nicht ankam in diesem
Hause. Warum in aller Welt unterdrückte er seinen
Schritt? Eine Weile glaubte ich ihn an meiner Tür;
<<875>>
und dann vernahm ich, darüber war kein Zweifel, daß er
nebenan eintrat. Er trat ohne weiters nebenan ein.

Und nun (ja, wie soll ich das beschreiben?), nun wurde
es still. Still, wie wenn ein Schmerz aufhört. Eine
eigentümlich fühlbare, prickelnde Stille, als ob eine Wunde
heilte. Ich hätte sofort schlafen können; ich hätte Atem
holen können und einschlafen. Nur mein Erstaunen
hielt mich wach. Jemand sprach nebenan, aber auch
das gehörte mit in die Stille. Das muß man erlebt
haben, wie diese Stille war, wiedergeben läßt es sich nicht.
Auch draußen war alles wie ausgeglichen. Ich saß auf,
ich horchte, es war wie auf dem Lande. Lieber Gott,
dachte ich, seine Mutter ist da. Sie saß neben dem Licht,
sie redete ihm zu, vielleicht hatte er den Kopf ein wenig
gegen ihre Schulter gelegt. Gleich würde sie ihn zu Bett
bringen. Nun begriff ich das leise Gehen draußen auf
dem Gang. Ach, daß es das gab. So ein Wesen, vor dem
die Türen ganz anders nachgeben als vor uns. Ja, nun
konnten wir schlafen.

Ich habe meinen Nachbar fast schon vergessen. Ich sehe
wohl, daß es keine richtige Teilnahme war, was ich für
ihn hatte. Unten frage ich zwar zuweilen im
Vorübergehen, ob Nachrichten von ihm da sind und welche.
Und ich freue mich, wenn sie gut sind. Aber ich
übertreibe. Ich habe eigentlich nicht nötig, das zu wissen.
Das hängt gar nicht mehr mit ihm zusammen, daß ich
manchmal einen plötzlichen Reiz verspüre, nebenan
einzutreten. Es ist nur ein Schritt von meiner Tür zu
der anderen, und das Zimmer ist nicht verschlossen. Es
<<876>>
würde mich interessieren, wie dieses Zimmer
eigentlich beschaffen ist. Man kann sich mit Leichtigkeit ein
beliebiges Zimmer vorstellen, und oft stimmt es dann
ungefähr. Nur das Zimmer, das man neben sich hat, ist
immer ganz anders, als man es sich denkt.

Ich sage mir, daß es dieser Umstand ist, der mich reizt.
Aber ich weiß ganz gut, daß es ein gewisser blecherner
Gegenstand ist, der auf mich wartet. Ich habe
angenommen, daß es sich wirklich um einen
Büchsendeckel handelt, obwohl ich mich natürlich irren kann. Das
beunruhigt mich nicht. Es entspricht nun einmal
meiner Anlage, die Sache auf einen Büchsendeckel zu
schieben. Man kann denken, daß er ihn nicht mitgenommen
hat. Wahrscheinlich hat man aufgeräumt, man hat den
Deckel auf seine Büchse gesetzt, wie es sich gehört. Und
nun bilden die beiden zusammen den Begriff Büchse,
runde Büchse, genau ausgedrückt, einen einfachen,
sehr bekannten Begriff. Mir ist, als entsänne ich mich,
daß sie auf dem Kamin stehn, die beiden, die die Büchse
ausmachen. Ja, sie stehn sogar vor dem Spiegel, so daß
dahinter noch eine Büchse entsteht, eine täuschend
ähnliche, imaginäre. Eine Büchse, auf die wir gar
keinen Wert legen, nach der aber zum Beispiel ein Affe
greifen würde. Richtig, es würden sogar zwei Affen
danach greifen, denn auch der Affe wäre doppelt, sobald
er auf dem Kaminrand ankäme. Nun also, es ist der
Deckel dieser Büchse, der es auf mich abgesehen hat.

Einigen wir uns darüber: der Deckel einer Büchse, einer
gesunden Büchse, deren Rand nicht anders gebogen ist,
als sein eigener, so ein Deckel müßte kein anderes
Ver<<877>>
langen kennen, als sich auf seiner Büchse zu befinden;
dies müßte das Äußerste sein, was er sich vorzustellen
vermag; eine nicht zu übertreffende Befriedigung, die
Erfüllung aller seiner Wünsche. Es ist ja auch etwas
geradezu Ideales, geduldig und sanft eingedreht auf der
kleinen Gegenwulst gleichmäßig aufzuruhen und die
eingreifende Kante in sich zu fühlen, elastisch und
gerade so scharf, wie man selber am Rande ist, wenn man
einzeln daliegt. Ach, aber wie wenige Deckel giebt es,
die das noch zu schätzen wissen. Hier zeigt es sich so
recht, wie verwirrend der Umgang mit den Menschen
auf die Dinge gewirkt hat. Die Menschen nämlich, wenn
es angeht, sie ganz vorübergehend mit solchen Deckeln
zu vergleichen, sitzen höchst ungern und schlecht auf
ihren Beschäftigungen. Teils weil sie nicht auf die
richtigen gekommen sind in der Eile, teils weil man sie
schief und zornig aufgesetzt hat, teils weil die Ränder,
die aufeinander gehören, verbogen sind, jeder auf eine
andere Art. Sagen wir es nur ganz aufrichtig: sie
denken im Grunde nur daran, sobald es sich irgend tun
läßt, hinunterzuspringen, zu rollen und zu blechern.
Wo kämen sonst alle diese sogenannten Zerstreuungen
her und der Lärm, den sie verursachen?

Die Dinge sehen das nun schon seit Jahrhunderten an.
Es ist kein Wunder, wenn sie verdorben sind, wenn sie
den Geschmack verlieren an ihrem natürlichen, stillen
Zweck und das Dasein so ausnutzen möchten, wie sie es
rings um sich ausgenutzt sehen. Sie machen Versuche,
sich ihren Anwendungen zu entziehen, sie werden
unlustig und nachlässig, und die Leute sind gar nicht
er<<878>>
staunt, wenn sie sie auf einer Ausschweifung ertappen.
Sie kennen das so gut von sich selbst. Sie ärgern sich,
weil sie die Stärkeren sind, weil sie mehr Recht auf
Abwechslung zu haben meinen, weil sie sich nachgeäfft
fühlen; aber sie lassen die Sache gehen, wie sie sich
selber gehen lassen. Wo aber einer ist, der sich
zusammennimmt, ein Einsamer etwa, der so recht rund auf
sich beruhen wollte Tag und Nacht, da fordert er
geradezu den Widerspruch, den Hohn, den Haß der
entarteten Geräte heraus, die, in ihrem argen Gewissen, nicht
mehr vertragen können, daß etwas sich zusammenhält
und nach seinem Sinne strebt. Da verbinden sie sich,
um ihn zu stören, zu schrecken, zu beirren, und wissen,
daß sie es können. Da fangen sie, einander zuzwinkernd,
die Verführung an, die dann ins Unermessene weiter
wächst und alle Wesen und Gott selber hinreißt gegen
den Einen, der vielleicht übersteht: den Heiligen.

Wie begreif ich jetzt die wunderlichen Bilder, darinnen
Dinge von beschränkten und regelmäßigen
Gebrauchen sich ausspannen und sich lüstern und neugierig
aneinander versuchen, zuckend in der ungefähren
Unzucht der Zerstreuung. Diese Kessel, die kochend
herumgehen, diese Kolben, die auf Gedanken kommen,
und die müßigen Trichter, die sich in ein Loch
drängen zu ihrem Vergnügen. Und da sind auch schon, vom
eifersüchtigen Nichts heraufgeworfen, Gliedmaßen und
Glieder unter ihnen und Gesichter, die warm in sie
hineinvomieren, und blasende Gesäße, die ihnen den
Gefallen tun.
<<879>>
Und der Heilige krümmt sich und zieht sich zusammen;
aber in seinen Augen war noch ein Blick, der dies für
möglich hielt: er hat hingesehen. Und schon schlagen sich
seine Sinne nieder aus der hellen Lösung seiner Seele.
Schon entblättert sein Gebet und steht ihm aus dem
Mund wie ein eingegangener Strauch. Sein Herz ist
umgefallen und ausgeflossen ins Trübe hinein. Seine Geißel
trifft ihn schwach wie ein Schwanz, der Fliegen verjagt.
Sein Geschlecht ist wieder nur an einer Stelle, und wenn
eine Frau aufrecht durch das Gehudel kommt, den
offenen Busen voll Brüste, so zeigt es auf sie wie ein Finger.

Es gab Zeiten, da ich diese Bilder für veraltet hielt.
Nicht, als ob ich an ihnen zweifelte. Ich konnte mir
denken, daß dies den Heiligen geschah, damals, den
eifernden Voreiligen, die gleich mit Gott anfangen
wollten um jeden Preis. Wir muten uns dies nicht mehr
zu. Wir ahnen, daß er zu schwer ist für uns, daß wir
ihn hinausschieben müssen, um langsam die lange
Arbeit zu tun, die uns von ihm trennt. Nun aber weiß
ich, daß diese Arbeit genau so bestritten ist wie das
Heiligsein; daß dies da um jeden entsteht, der um
ihretwillen einsam ist, wie es sich bildete um die Einsamen
Gottes in ihren Höhlen und leeren Herbergen, einst.

Wenn man von den Einsamen spricht, setzt man
imer zuviel voraus. Man meint, die Leute wüßten, um
was es sich handelt. Nein, sie wissen es nicht. Sie haben
nie einen Einsamen gesehen, sie haben ihn nur gehaßt,
ohne ihn zu kennen. Sie sind seine Nachbaren gewesen,
die ihn aufbrauchten, und die Stimmen im
Nebenzim<<880>>
mer, die ihn versuchten. Sie haben die Dinge
aufgereizt gegen ihn, daß sie lärmten und ihn übertönten.
Die Kinder verbanden sich wider ihn, da er zart und
ein Kind war, und mit jedem Wachsen wuchs er gegen
die Erwachsenen an. Sie spürten ihn auf in seinem
Versteck wie ein jagdbares Tier, und seine lange Jugend war
ohne Schonzeit. Und wenn er sich nicht erschöpfen ließ
und davonkam, so schrieen sie über das, was von ihm
ausging, und nannten es häßlich und verdächtigten es.
Und hörte er nicht darauf, so wurden sie deutlicher und
aßen ihm sein Essen weg und atmeten ihm seine Luft
aus und spieen in seine Armut, daß sie ihm
widerwärtig würde. Sie brachten Verruf über ihn wie über einen
Ansteckenden und warfen ihm Steine nach, damit er
sich rascher entfernte. Und sie hatten recht in ihrem
alten Instinkt: denn er war wirklich ihr Feind.

Aber dann, wenn er nicht aufsah, besannen sie sich. Sie
ahnten, daß sie ihm mit alledem seinenWillen taten; daß
sie ihn in seinem Alleinsein bestärkten und ihm halfen,
sich abzuscheiden von ihnen für immer. Und nun
schlugen sie um und wandten das Letzte an, das Äußerste,
den anderen Widerstand: den Ruhm. Und bei diesem
Lärmen blickte fast jeder auf und wurde zerstreut.

Diese Nacht ist mir das kleine grüne Buch wieder
eingefallen, das ich als Knabe einmal besessen haben muß;
und ich weiß nicht, warum ich mir einbilde, daß es von
Mathilde Brahe stammte. Es interessierte mich nicht,
da ich es bekam, und ich las es erst mehrere Jahre
später, ich glaube in der Ferienzeit auf Ulsgaard. Aber
<<881>>
wichtig war es mir vom ersten Augenblick an. Es war
durch und durch voller Bezug, auch äußerlich
betrachtet. Das Grün des Einbands bedeutete etwas, und man
sah sofort ein, daß es innen so sein mußte, wie es war.
Als ob das verabredet worden wäre, kam zuerst dieses
glatte, weiß in weiß gewässerte Vorsatzblatt und dann
die Titelseite, die man für geheimnisvoll hielt. Es
hätten wohl Bilder drin sein können, so sah es aus; aber es
waren keine, und man mußte, fast wider Willen,
zugeben, daß auch das in der Ordnung sei. Es entschädigte
einen irgendwie, an einer bestimmten Stelle das schmale
Leseband zu finden, das, mürbe und ein wenig schräg,
rührend in seinem Vertrauen, noch rosa zu sein, seit
Gott weiß wann immer zwischen den gleichen Seiten
lag. Vielleicht war es nie benutzt worden, und der
Buchbinder hatte es rasch und fleißig da hineingebogen,
ohne recht hinzusehen. Möglicherweise aber war es
kein Zufall. Es konnte sein, daß jemand dort zu lesen
aufgehört hatte, der nie wieder las; daß das Schicksal
in diesem Moment an seiner Türe klopfte, um ihn zu
beschäftigen, daß er weit von allen Büchern weggeriet,
die doch schließlich nicht das Leben sind. Das war nicht
zu erkennen, ob das Buch weitergelesen worden war.
Man konnte sich auch denken, daß es sich einfach
darum handelte, diese Stelle aufzuschlagen wieder und
wieder, und daß es dazu gekommen war, wenn auch
manchmal erst spät in der Nacht. Jedenfalls hatte ich
eine Scheu vor den beiden Seiten, wie vor einem
Spiegel, vor dem jemand steht. Ich habe sie nie gelesen. Ich
weiß überhaupt nicht, ob ich das ganze Buch gelesen
<<882>>
habe. Es war nicht sehr stark, aber es standen eine
Menge Geschichten drin, besonders am Nachmittag; dann
war immer eine da, die man noch nicht kannte.

Ich erinnere nur noch zwei. Ich will sagen, welche: Das
Ende des Grischa Otrepjow und Karls des Kühnen
Untergang.

Gott weiß, ob es mir damals Eindruck machte. Aber
jetzt, nach so viel Jahren, entsinne ich mich der
Beschreibung, wie der Leichnam des falschen Zaren
unter die Menge geworfen worden war und dalag drei
Tage, zerfetzt und zerstochen und eine Maske vor dem
Gesicht. Es ist natürlich gar keine Aussicht, daß mir
das kleine Buch je wieder in die Hände kommt. Aber
diese Stelle muß merkwürdig gewesen sein. Ich hätte
auch Lust, nachzulesen, wie die Begegnung mit der
Mutter verlief. Er mag sich sehr sicher gefühlt haben,
da er sie nach Moskau kommen ließ; ich bin sogar
überzeugt, daß er zu jener Zeit so stark an sich glaubte, daß
er in der Tat seine Mutter zu berufen meinte. Und
diese Marie Nagoi, die in schnellen Tagreisen aus ihrem
dürftigen Kloster kam, gewann ja auch alles, wenn sie
zustimmte. Ob aber seine Unsicherheit nicht gerade
damit begann, daß sie ihn anerkannte? Ich bin nicht
abgeneigt zu glauben, die Kraft seiner Verwandlung hätte
darin beruht, niemandes Sohn mehr zu sein.
<amRand> (Das ist schließlich die Kraft aller jungen Leute, die
fortgegangen sind.) </amRand>

Das Volk, das sich ihn erwünschte, ohne sich einen
vorzustellen, machte ihn nur noch freier und unbegrenzter
<<883>>
in seinen Möglichkeiten. Aber die Erklärung der Mutter
hatte, selbst als bewußter Betrug, noch die Macht, ihn
zu verringern; sie hob ihn aus der Fülle seiner
Erfindung; sie beschränkte ihn auf ein müdes Nachahmen;
sie setzte ihn auf den Einzelnen herab, der er nicht war:
sie machte ihn zum Betrüger. Und nun kam, leiser
auflösend, diese Marina Mniczek hinzu, die ihn auf ihre
Art leugnete, indem sie, wie sich später erwies, nicht
an ihn glaubte, sondern an jeden. Ich kann natürlich
nicht dafür einstehen, wie weit das alles in jener
Geschichte berücksichtigt war. Dies, scheint mir, wäre zu
erzählen gewesen.

Aber auch abgesehen davon, ist diese Begebenheit
durchaus nicht veraltet. Es wäre jetzt ein Erzähler denkbar,
der viel Sorgfalt an die letzten Augenblicke wendete;
er hätte nicht unrecht. Es geht eine Menge in ihnen vor:
Wie er aus dem innersten Schlaf ans Fenster springt
und über das Fenster hinaus in den Hof zwischen die
Wachen. Er kann allein nicht auf; sie müssen ihm
helfen. Wahrscheinlich ist der Fuß gebrochen. An zwei
von den Männern gelehnt, fühlt er, daß sie an ihn
glauben. Er sieht sich um: auch die andern glauben an ihn.
Sie dauern ihn fast, diese riesigen Strelitzen, es muß
weit gekommen sein: sie haben Iwan Grosnij gekannt
in all seiner Wirklichkeit, und glauben an ihn. Er hätte
Lust, sie aufzuklären, aber den Mund öffnen, hieße
einfach schreien. Der Schmerz im Fuß ist rasend, und er
hält so wenig von sich in diesem Moment, daß er nichts
weiß als den Schmerz. Und dann ist keine Zeit. Sie
drängen heran, er sieht den Schuiskij und hinter ihm
<<884>>
alle. Gleich wird es vorüber sein. Aber da schließen sich
seine Wachen. Sie geben ihn nicht auf. Und ein
Wunder geschieht. Der Glauben dieser alten Männer pflanzt
sich fort, auf einmal will niemand mehr vor. Schuiskij,
dicht vor ihm, ruft verzweifelt nach einem Fenster
hinauf. Er sieht sich nicht um. Er weiß, wer dort steht; er
begreift, daß es still wird, ganz ohne Übergang still.
Jetzt wird die Stimme kommen, die er von damals her
kennt; die hohe, falsche Stimme, die sich überanstrengt.
Und da hört er die Zarin-Mutter, die ihn verleugnet.

Bis hierher geht die Sache von selbst, aber nun, bitte,
einen Erzähler, einen Erzähler: denn von den paar
Zeilen, die noch bleiben, muß Gewalt ausgehen über
jeden Widerspruch hinaus. Ob es gesagt wird oder nicht,
man muß darauf schwören, daß zwischen Stimme und
Pistolenschuß, unendlich zusammengedrängt, noch
einmal Wille und Macht in ihm war, alles zu sein. Sonst
versteht man nicht, wie glänzend konsequent es ist, daß
sie sein Nachtkleid durchbohrten und in ihm
herumstachen, ob sie auf das Harte einer Person stoßen
würden. Und daß er im Tode doch noch die Maske trug,
drei Tage lang, auf die er fast schon verzichtet hatte.

Wenn ichs nun bedenke, so scheint es mir seltsam, daß
in demselben Buche der Ausgang dessen erzählt wurde,
der sein ganzes Leben lang Einer war, der Gleiche, hart
und nicht zu ändern wie ein Granit und immer
schwerer auf allen, die ihn ertrugen. Es giebt ein Bild von ihm
in Dijon. Aber man weiß es auch so, daß er kurz, quer,
trotzig war und verzweifelt. Nur an die Hände hätte
<<885>>
man vielleicht nicht gedacht. Es sind arg warme
Hände, die sich immerfort kühlen möchten und sich
unwillkürlich auf Kaltes legen, gespreizt, mit Luft
zwischen allen Fingern. In diese Hände konnte das Blut
hineinschießen, wie es einem zu Kopf steigt, und
geballt waren sie wirklich wie die Köpfe von Tollen,
tobend von Einfällen.

Es gehörte unglaubliche Vorsicht dazu, mit diesem Blute
zu leben. Der Herzog war damit eingeschlossen in sich
selbst, und zuzeiten fürchtete ers, wenn es um ihn
herumging, geduckt und dunkel. Es konnte ihm selber
grauenhaft fremd sein, dieses behende,
halbportugiesische Blut, das er kaum kannte. Oft ängstigte es ihn, daß
es ihn im Schlafe anfallen könnte und zerreißen. Er tat,
als bändigte ers, aber er stand immer in seiner Furcht.
Er wagte nie eine Frau zu lieben, damit es nicht
eifersüchtig würde, und so reißend war es, daß Wein nie
über seine Lippen kam; statt zu trinken, sänftigte ers
mit Rosenmus. Doch, einmal trank er, im Lager vor
Lausanne, als Granson verloren war; da war er krank
und abgeschieden und trank viel puren Wein. Aber
damals schlief sein Blut. In seinen sinnlosen letzten
Jahren verfiel es manchmal in diesen schweren, tierischen
Schlaf. Dann zeigte es sich, wie sehr er in seiner
Gewalt war; denn wenn es schlief, war er nichts. Dann
durfte keiner von seiner Umgebung herein; er begriff nicht,
was sie redeten. Den fremden Gesandten konnte er sich
nicht zeigen, öd wie er war. Dann saß er und wartete, daß
es aufwachte. Und meistens fuhr es mit einem Sprunge
auf und brach aus dem Herzen aus und brüllte.
<<886>>
Für dieses Blut schleppte er alle die Dinge mit, auf die
er nichts gab. Die drei großen Diamanten und alle die
Steine; die flandrischen Spitzen und die Teppiche von
Arras, haufenweis. Sein seidenes Gezelt mit den aus
Gold gedrehten Schnüren und vierhundert Zelte für
sein Gefolg. Und Bilder, auf Holz gemalt, und die zwölf
Apostel aus vollem Silber. Und den Prinzen von Tarent
und den Herzog von Cleve und Philipp von Baden und
den Herrn von Château-Guyon. Denn er wollte seinem
Blut einreden, daß er Kaiser sei und nichts über ihm:
damit es ihn fürchte. Aber sein Blut glaubte ihm nicht,
trotz solcher Beweise, es war ein mißtrauisches Blut.
Vielleicht erhielt er es noch eine Weile im Zweifel.
Aber die Hörner von Uri verrieten ihn. Seither wußte
sein Blut, daß es in einem Verlorenen war: und wollte
heraus.

So seh ich es jetzt, damals aber machte es mir vor allem
Eindruck, von dem Dreikönigstag zu lesen, da man ihn
suchte.

Der junge lothringische Fürst, der tags vorher, gleich
nach der merkwürdig hastigen Schlacht in seiner
elenden Stadt Nancy eingeritten war, hatte ganz früh seine
Umgebung geweckt und nach dem Herzog gefragt.
Bote um Bote wurde ausgesandt, und er selbst erschien
von Zeit zu Zeit am Fenster, unruhig und besorgt. Er
erkannte nicht immer, wen sie da brachten auf ihren
Wagen und Tragbahren, er sah nur, daß es nicht der
Herzog war. Und auch unter den Verwundeten war er
nicht, und von den Gefangenen, die man fortwährend
noch einbrachte, hatte ihn keiner gesehen. Die
Flücht<<887>>
linge aber trugen nach allen Seiten verschiedene
Nachrichten und waren wirr und schreckhaft, als fürchteten
sie, auf ihn zuzulaufen. Es dunkelte schon, und man
hatte nichts von ihm gehört. Die Kunde, daß er
verschwunden sei, hatte Zeit herumzukommen an dem
langen Winterabend. Und wohin sie kam, da erzeugte
sie in allen eine jähe, übertriebene Sicherheit, daß er
lebte. Nie vielleicht war der Herzog so wirklich in jeder
Einbildung wie in dieser Nacht. Es gab kein Haus, wo
man nicht wachte und auf ihn wartete und sich sein
Klopfen vorstellte. Und wenn er nicht kam, so wars,
weil er schon vorüber war.

Es fror diese Nacht, und es war, als fröre auch die Idee,
daß er sei; so hart wurde sie. Und Jahre und Jahre
vergingen, eh sie sich auflöste. Alle diese Menschen, ohne
es recht zu wissen, bestanden jetzt auf ihm. Das
Schicksal, das er über sie gebracht hatte, war nur erträglich
durch seine Gestalt. Sie hatten so schwer erlernt, daß
er war; nun aber, da sie ihn konnten, fanden sie, daß er
gut zu merken sei und nicht zu vergessen.

Aber am nächsten Morgen, dem siebenten Januar, einem
Dienstag, fing das Suchen doch wieder an. Und diesmal
war ein Führer da. Es war ein Page des Herzogs, und es
hieß, er habe seinen Herrn von ferne stürzen sehen;
nun sollte er die Stelle zeigen. Er selbst hatte nichts
erzählt, der Graf von Campobasso hatte ihn gebracht und
hatte für ihn gesprochen. Nun ging er voran, und die
anderen hielten sich dicht hinter ihm. Wer ihn so sah,
vermummt und eigentümlich unsicher, der hatte Mühe
zu glauben, daß es wirklich Gian-Battista Colonna sei,
<<888>>
der schön wie ein Mädchen war und schmal in den
Gelenken. Er zitterte vor Kälte; die Luft war steif vom
Nachtfrost, es klang wie Zähneknirschen unter den
Schritten. Übrigens froren sie alle. Nur des Herzogs
Narr, Louis-Onze zubenannt, machte sich Bewegung.
Er spielte den Hund, lief voraus, kam wieder und trollte
eine Weile auf allen Vieren neben dem Knaben her; wo
er aber von fern eine Leiche sah, da sprang er hin und
verbeugte sich und redete ihr zu, sie möchte sich
zusammennehmen und der sein, den man suchte. Er ließ
ihr ein wenig Bedenkzeit, aber dann kam er mürrisch
zu den andern zurück und drohte und fluchte und
beklagte sich über den Eigensinn und die Trägheit der
Toten. Und man ging immerzu, und es nahm kein Ende.
Die Stadt war kaum mehr zu sehen; denn das Wetter
hatte sich inzwischen geschlossen, trotz der Kälte, und
war grau und undurchsichtig geworden. Das Land lag
flach und gleichgültig da, und die kleine, dichte
Gruppe sah immer verirrter aus, je weiter sie sich bewegte.
Niemand sprach, nur ein altes Weib, das mitgelaufen
war, malmte etwas und schüttelte den Kopf dabei;
vielleicht betete sie.

Auf einmal blieb der Vorderste stehen und sah um sich.
Dann wandte er sich kurz zu Lupi, dem
portugiesischen Arzt des Herzogs, und zeigte nach vorn. Ein paar
Schritte weiterhin war eine Eisfläche, eine Art Tümpel
oder Teich, und da lagen, halb eingebrochen, zehn oder
zwölf Leichen. Sie waren fast ganz entblößt und
ausgeraubt. Lupi ging gebückt und aufmerksam von einem
zum andern. Und nun erkannte man Olivier de la
Mar<<889>>
che und den Geistlichen, wie sie so einzeln
herumgingen. Die Alte aber kniete schon im Schnee und winselte
und bückte sich über eine große Hand, deren Finger ihr
gespreizt entgegenstarrten. Alle eilten herbei. Lupi mit
einigen Dienern versuchte den Leichnam zu wenden,
denn er lag vornüber. Aber das Gesicht war
eingefroren, und da man es aus dem Eis herauszerrte, schälte
sich die eine Wange dünn und spröde ab, und es zeigte
sich, daß die andere von Hunden oder Wölfen
herausgerissen war; und das Ganze war von einer großen
Wunde gespalten, die am Ohr begann, so daß von einem
Gesicht keine Rede sein konnte.

Einer nach dem anderen blickte sich um; jeder meinte
den Römer hinter sich zu finden. Aber sie sahen nur
den Narren, der herbeigelaufen kam, böse und blutig.
Er hielt einen Mantel von sich ab und schüttelte ihn,
als sollte etwas herausfallen; aber der Mantel war leer.
So ging man daran, nach Kennzeichen zu suchen, und
es fanden sich einige. Man hatte ein Feuer gemacht und
wusch den Körper mit warmem Wasser und Wein. Die
Narbe am Halse kam zum Vorschein und die Stellen der
beiden großen Abszesse. Der Arzt zweifelte nicht mehr.
Aber man verglich noch anderes. Louis-Onze hatte ein
paar Schritte weiter den Kadaver des großen schwarzen
Pferdes Moreau gefunden, das der Herzog am Tage von
Nancy geritten hatte. Er saß darauf und ließ die kurzen
Beine hängen. Das Blut rann ihm noch immer aus der
Nase in den Mund, und man sah ihm an, daß er es
schmeckte. Einer der Diener drüben erinnerte, daß ein
Nagel an des Herzogs linkem Fuß eingewachsen
gewe<<890>>
sen wäre; nun suchten alle den Nagel. Der Narr aber
zappelte, als würde er gekitzelt, und schrie: »Ach,
Monseigneur, verzeih ihnen, daß sie deine groben Fehler
aufdecken, die Dummköpfe, und dich nicht erkennen
an meinem langen Gesicht, in dem deine Tugenden
stehn.«
<amRand> (Des Herzogs Narr war auch der erste, der eintrat, als
die Leiche gebettet war. Es war im Hause eines
gewissen Georg Marquis, niemand konnte sagen, wieso. Das
Bahrtuch war noch nicht übergelegt, und so hatte er
den ganzen Eindruck. Das Weiß des Kamisols und das
Karmesin vom Mantel sonderten sich schroff und
unfreundlich voneinander ab zwischen den beiden Schwarz
von Baldachin und Lager. Vorne standen scharlachne
Schaftstiefel ihm entgegen mit großen, vergoldeten
Sporen. Und daß das dort oben ein Kopf war, darüber
konnte kein Streit entstehen, sobald man die Krone sah.
Es war eine große Herzogs-Krone mit irgendwelchen
Steinen. Louis-Onze ging umher und besah alles genau.
Er befühlte sogar den Atlas, obwohl er wenig davon
verstand. Es mochte guter Atlas sein, vielleicht ein
bißchen billig für das Haus Burgund. Er trat noch einmal
zurück um des Überblicks willen. Die Farben waren
merkwürdig unzusammenhängend im Schneelicht. Er
prägte sich jede einzeln ein. »Gut angekleidet«, sagte
er schließlich anerkennend, »vielleicht eine Spur zu
deutlich.« Der Tod kam ihm vor wie ein
Puppenspieler, der rasch einen Herzog braucht.)
<<891>>
Man tut gut, gewisse Dinge, die sich nicht mehr ändern
werden, einfach festzustellen, ohne die Tatsachen zu
bedauern oder auch nur zu beurteilen. So ist mir klar
geworden, daß ich nie ein richtiger Leser war. In der
Kindheit kam mir das Lesen vor wie ein Beruf, den
man auf sich nehmen würde, später einmal, wenn alle
die Berufe kamen, einer nach dem andern. Ich hatte,
aufrichtig gesagt, keine bestimmte Vorstellung, wann
das sein könnte. Ich verließ mich darauf, daß man es
merken würde, wenn das Leben gewissermaßen
umschlug und nur noch von außen kam, so wie früher von
innen. Ich bildete mir ein, es würde dann deutlich und
eindeutig sein und gar nicht mißzuverstehn. Durchaus
nicht einfach, im Gegenteil recht anspruchsvoll,
verwickelt und schwer meinetwegen, aber immerhin
sichtbar. Das eigentümlich Unbegrenzte der Kindheit, das
Unverhältnismäßige, das Nie-recht-Absehbare, das
würde dann überstanden sein. Es war freilich nicht
einzusehen, wieso. Im Grunde nahm es immer noch zu
und schloß sich auf allen Seiten, und je mehr man
hinaussah, desto mehr Inneres rührte man in sich auf:
Gott weiß, wo es herkam. Aber wahrscheinlich wuchs
es zu einem Äußersten an und brach dann mit einem
Schlage ab. Es war leicht zu beobachten, daß die
Erwachsenen sehr wenig davon beunruhigt wurden; sie
gingen herum und urteilten und handelten, und wenn
sie je in Schwierigkeiten waren, so lag das an äußeren
Verhältnissen.

An den Anfang solcher Veränderungen verlegte ich auch
das Lesen. Dann würde man mit Büchern umgehen
<<892>>
wie mit Bekannten, es würde Zeit dafür da sein, eine
bestimmte, gleichmäßig und gefällig vergehende Zeit,
gerade so viel, als einem eben paßte. Natürlich würden
einzelne einem näher stehen, und es ist nicht gesagt,
daß man davor sicher sein würde, ab und zu eine halbe
Stunde über ihnen zu versäumen: einen Spaziergang,
eine Verabredung, den Anfang im Theater oder einen
dringenden Brief. Daß sich einem aber das Haar
verbog und verwirrte, als ob man darauf gelegen hätte,
daß man glühende Ohren bekam und Hände kalt wie
Metall, daß eine lange Kerze neben einem
herunterbrannte und in den Leuchter hinein, das würde dann,
Gott sei Dank, völlig ausgeschlossen sein.

Ich führe diese Erscheinungen an, weil ich sie ziemlich
auffällig an mir erfuhr, damals in jenen Ferien auf
Ulsgaard, als ich so plötzlich ins Lesen geriet. Da zeigte
es sich gleich, daß ich es nicht konnte. Ich hatte es
freilich vor der Zeit begonnen, die ich mir dafür in
Aussicht gestellt hatte. Aber dieses Jahr in Sorö unter
lauter andern ungefähr Altersgleichen hatte mich
mißtrauisch gemacht gegen solche Berechnungen. Dort
waren rasche, unerwartete Erfahrungen an mich
herangekommen, und es war deutlich zu sehen, daß sie
mich wie einen Erwachsenen behandelten. Es waren
lebensgroße Erfahrungen, die sich so schwer machten,
wie sie waren. In demselben Maße aber, als ich ihre
Wirklichkeit begriff, gingen mir auch für die
unendliche Realität meines Kindseins die Augen auf. Ich
wußte, daß es nicht aufhören würde, so wenig wie das
andere erst begann. Ich sagte mir, daß es natürlich
je<<893>>
dem freistand, Abschnitte zu machen, aber sie waren
erfunden. Und es erwies sich, daß ich zu ungeschickt
war, mir welche auszudenken. Sooft ich es versuchte,
gab mir das Leben zu verstehen, daß es nichts von ihnen
wußte. Bestand ich aber darauf, daß meine Kindheit
vorüber sei, so war in demselben Augenblick auch alles
Kommende fort, und mir blieb nur genau so viel, wie
ein Bleisoldat unter sich hat, um stehen zu können.

Diese Entdeckung sonderte mich begreiflicherweise
noch mehr ab. Sie beschäftigte mich in mir und erfüllte
mich mit einer Art endgültiger Frohheit, die ich für
Kümmernis nahm, weil sie weit über mein Alter
hinausging. Es beunruhigte mich auch, wie ich mich
entsinne, daß man nun, da nichts für eine bestimmte Frist
vorgesehen war, manches überhaupt versäumen könne.
Und als ich so nach Ulsgaard zurückkehrte und alle die
Bücher sah, machte ich mich darüber her; recht in
Eile, mit fast schlechtem Gewissen. Was ich später so
oft empfunden habe, das ahnte ich damals irgendwie
voraus: daß man nicht das Recht hatte, ein Buch
aufzuschlagen, wenn man sich nicht verpflichtete, alle zu
lesen. Mit jeder Zeile brach man die Welt an. Vor den
Büchern war sie heil und vielleicht wieder ganz
dahinter. Wie aber sollte ich, der nicht lesen konnte, es mit
allen aufnehmen? Da standen sie, selbst in diesem
bescheidenen Bücherzimmer, in so aussichtsloser
Überzahl und hielten zusammen. Ich stürzte mich trotzig
und verzweifelt von Buch zu Buch und schlug mich
durch die Seiten durch wie einer, der etwas
Unverhältnismäßiges zu leisten hat. Damals las ich Schiller und
<<894>>
Baggesen, Öhlenschläger und Schack-Staffeldt, was von
Walter Scott da war und Calderon. Manches kam mir
in die Hände, was gleichsam schon hätte gelesen sein
müssen, für anderes war es viel zu früh; fällig war fast
nichts für meine damalige Gegenwart. Und trotzdem
las ich.

In späteren Jahren geschah es mir zuweilen nachts, daß
ich aufwachte, und die Sterne standen so wirklich da
und gingen so bedeutend vor, und ich konnte nicht
begreifen, wie man es über sich brachte, so viel Welt
zu versäumen. So ähnlich war mir, glaub ich, zumut,
sooft ich von den Büchern aufsah und hinaus, wo der
Sommer war, wo Abelone rief. Es kam uns sehr
unerwartet, daß sie rufen mußte und daß ich nicht einmal
antwortete. Es fiel mitten in unsere seligste Zeit. Aber
da es mich nun einmal erfaßt hatte, hielt ich mich
krampfhaft ans Lesen und verbarg mich, wichtig und
eigensinnig, vor unseren täglichen Feiertagen.
Ungeschickt wie ich war, die vielen, oft unscheinbaren
Gelegenheiten eines natürlichen Glücks auszunutzen, ließ
ich mir nicht ungern von dem anwachsenden
Zerwürfnis künftige Versöhnungen versprechen, die desto
reizender wurden, je weiter man sie hinausschob.

Übrigens war mein Leseschlaf eines Tages so plötzlich
zu Ende, wie er begonnen hatte; und da erzürnten wir
einander gründlich. Denn Abelone ersparte mir nun
keinerlei Spott und Überlegenheit, und wenn ich sie in
der Laube traf, behauptete sie zu lesen. An dem einen
Sonntag-Morgen lag das Buch zwar geschlossen neben
ihr, aber sie schien mehr als genug mit den
Johannis<<895>>
beeren beschäftigt, die sie vorsichtig mittels einer
Gabel aus ihren kleinen Trauben streifte.

Es muß dies eine von jenen Tagesfrühen gewesen sein,
wie es solche im Juli giebt, neue, ausgeruhte Stunden,
in denen überall etwas frohes Unüberlegtes geschieht.
Aus Millionen kleinen ununterdrückbaren Bewegungen
setzt sich ein Mosaik überzeugtesten Daseins
zusammen; die Dinge schwingen ineinander hinüber und
hinaus in die Luft, und ihre Kühle macht den Schatten
klar und die Sonne zu einem leichten, geistigen Schein.
Da giebt es im Garten keine Hauptsache; alles ist
überall, und man müßte in allem sein, um nichts zu
versäumen.

In Abelonens kleiner Handlung aber war das Ganze
nochmal. Es war so glücklich erfunden, gerade dies zu
tun und genau so, wie sie es tat. Ihre im Schattigen
hellen Hände arbeiteten einander so leicht und einig
zu, und vor der Gabel sprangen mutwillig die runden
Beeren her, in die mit tauduffem Weinblatt ausgelegte
Schale hinein, wo schon andere sich häuften, rote und
blonde, glanzlichternd, mit gesunden Kernen im
herben Innern. Ich wünschte unter diesen Umständen
nichts als zuzusehen, aber, da es wahrscheinlich war,
daß man mirs verwies, ergriff ich, auch um mich
unbefangen zu geben, das Buch, setzte mich an die andere
Seite des Tisches und ließ mich, ohne lang zu blättern,
irgendwo damit ein.

»Wenn du doch wenigstens laut läsest, Leserich«,
sagte Abelone nach einer Weile. Das klang lange nicht
mehr so streitsüchtig, und da es, meiner Meinung nach,
<<896>>
ernstlich Zeit war, sich auszugleichen, las ich sofort
laut, immerzu bis zu einem Abschnitt und weiter, die
nächste Überschrift: An Bettine.

»Nein, nicht die Antworten«, unterbrach mich
Abelone und legte auf einmal wie erschöpft die kleine
Gabel nieder. Gleich darauf lachte sie über das Gesicht,
mit dem ich sie ansah.

»Mein Gott, was hast du schlecht gelesen, Malte.«

Da mußte ich nun zugeben, daß ich keinen
Augenblick bei der Sache gewesen sei. »Ich las nur, damit du
mich unterbrichst«, gestand ich und wurde heiß und
blätterte zurück nach dem Titel des Buches. Nun
wußte ich erst, was es war. »Warum denn nicht die
Antworten?« fragte ich neugierig.

Es war, als hätte Abelone mich nicht gehört. Sie saß
da in ihrem lichten Kleid, als ob sie überall innen ganz
dunkel würde, wie ihre Augen wurden.

»Gieb her«, sagte sie plötzlich wie im Zorn und nahm
mir das Buch aus der Hand und schlug es richtig dort
auf, wo sie es wollte. Und dann las sie einen von
Bettinens Briefen.

Ich weiß nicht, was ich davon verstand, aber es war,
als würde mir feierlich versprochen, dieses alles einmal
einzusehen. Und während ihre Stimme zunahm und
endlich fast jener glich, die ich vom Gesang her kannte,
schämte ich mich, daß ich mir unsere Versöhnung so
gering vorgestellt hatte. Denn ich begriff wohl, daß sie
das war. Aber nun geschah sie irgendwo ganz im
Großen, weit über mir, wo ich nicht hinreichte.
<<897>>
Das Versprechen erfüllt sich noch immer, irgendwann
ist dasselbe Buch unter meine Bücher geraten, unter
die paar Bücher, von denen ich mich nicht trenne.
Nun schlägt es sich auch mir an den Stellen auf, die ich
gerade meine, und wenn ich sie lese, so bleibt es
unentschieden, ob ich an Bettine denke oder an Abelone.
Nein, Bettine ist wirklicher in mir geworden, Abelone,
die ich gekannt habe, war wie eine Vorbereitung auf
sie, und nun ist sie mir in Bettine aufgegangen wie in
ihrem eigenen, unwillkürlichen Wesen. Denn diese
wunderliche Bettine hat mit allen ihren Briefen Raum
gegeben, geräumigste Gestalt. Sie hat von Anfang an
sich im Ganzen so ausgebreitet, als wär sie nach ihrem
Tod. Überall hat sie sich ganz weit ins Sein
hineingelegt, zugehörig dazu, und was ihr geschah, das war
ewig in der Natur; dort erkannte sie sich und löste sich
beinah schmerzhaft heraus; erriet sich mühsam zurück
wie aus Überlieferungen, beschwor sich wie einen
Geist und hielt sich aus.

Eben warst du noch, Bettine; ich seh dich ein. Ist nicht
die Erde noch warm von dir, und die Vögel lassen noch
Raum für deine Stimme. Der Tau ist ein anderer,
aber die Sterne sind noch die Sterne deiner Nächte.
Oder ist nicht die Welt überhaupt von dir? denn wie
oft hast du sie in Brand gesteckt mit deiner Liebe und
hast sie lodern sehen und aufbrennen und hast sie
heimlich durch eine andere ersetzt, wenn alle schliefen. Du
fühltest dich so recht im Einklang mit Gott, wenn du
jeden Morgen eine neue Erde von ihm verlangtest,
damit doch alle drankämen, die er gemacht hatte. Es
<<898>>
kam dir armsälig vor, sie zu schonen und auszubessern,
du verbrauchtest sie und hieltest die Hände hin um
immer noch Welt. Denn deine Liebe war allem
gewachsen.

Wie ist es möglich, daß nicht noch alle erzählen von
deiner Liebe? Was ist denn seither geschehen, was
merkwürdiger war? Was beschäftigt sie denn? Du
selber wußtest um deiner Liebe Wert, du sagtest sie
laut deinem größesten Dichter vor, daß er sie
menschlich mache; denn sie war noch Element. Er aber hat
sie den Leuten ausgeredet, da er dir schrieb. Alle haben
diese Antworten gelesen und glauben ihnen mehr,
weil der Dichter ihnen deutlicher ist als die Natur.
Aber vielleicht wird es sich einmal zeigen, daß hier die
Grenze seiner Größe war. Diese Liebende ward ihm
auferlegt, und er hat sie nicht bestanden. Was heißt es,
daß er nicht hat erwidern können? Solche Liebe
bedarf keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort
in sich; sie erhört sich selbst. Aber demütigen hätte er
sich müssen vor ihr in seinem ganzen Staat und
schreiben was sie diktiert, mit beiden Händen, wie Johannes
auf Patmos, knieend. Es gab keine Wahl dieser Stimme
gegenüber, die »das Amt der Engel verrichtete«; die
gekommen war, ihn einzuhüllen und zu entziehen ins
Ewige hinein. Da war der Wagen seiner feurigen
Himmelfahrt. Da war seinem Tod der dunkle Mythos
bereitet, den er leer ließ.

Das Schicksal liebt es, Muster und Figuren zu erfinden.
Seine Schwierigkeit beruht im Komplizierten. Das
<<899>>
Leben selbst aber ist schwer aus Einfachheit. Es hat
nur ein paar Dinge von uns nicht angemessener Größe.
Der Heilige, indem er das Schicksal ablehnt, wählt diese,
Gott gegenüber. Daß aber die Frau, ihrer Natur nach,
in Bezug auf den Mann die gleiche Wahl treffen muß,
ruft das Verhängnis aller Liebesbeziehungen herauf:
entschlossen und schicksalslos, wie eine Ewige, steht sie
neben ihm, der sich verwandelt. Immer übertrifft die
Liebende den Geliebten, weil das Leben größer ist als
das Schicksal. Ihre Hingabe will unermeßlich sein: dies
ist ihr Glück. Das namenlose Leid ihrer Liebe aber ist
immer dieses gewesen: daß von ihr verlangt wird, diese
Hingabe zu beschränken.

Es ist keine andere Klage je von Frauen geklagt
worden: die beiden ersten Briefe Heloïsens enthalten nur
sie, und fünfhundert Jahre später erhebt sie sich aus
den Briefen der Portugiesin; man erkennt sie wieder
wie einen Vogelruf. Und plötzlich geht durch den
hellen Raum dieser Einsicht der Sappho fernste Gestalt,
die die Jahrhunderte nicht fanden, da sie sie im
Schicksal suchten.

Ich habe niemals gewagt, von ihm eine Zeitung zu
kaufen. Ich bin nicht sicher, daß er wirklich immer
einige Nummern bei sich hat, wenn er sich außen am
Luxembourg-Garten langsam hin und zurück schiebt
den ganzen Abend lang. Er kehrt dem Gitter den
Rücken, und seine Hand streift den Steinrand, auf dem
die Stäbe aufstehen. Er macht sich so flach, daß täglich
viele vorübergehen, die ihn nie gesehen haben. Zwar
<<900>>
hat er noch einen Rest von Stimme in sich und mahnt;
aber das ist nicht anders als ein Geräusch in einer
Lampe oder im Ofen oder wenn es in eigentümlichen
Abständen in einer Grotte tropft. Und die Welt ist so
eingerichtet, daß es Menschen giebt, die ihr ganzes Leben
lang in der Pause vorbeikommen, wenn er, lautloser
als alles was sich bewegt, weiter rückt wie ein Zeiger,
wie eines Zeigers Schatten, wie die Zeit.

Wie unrecht hatte ich, ungern hinzusehen. Ich
schäme mich aufzuschreiben, daß ich oft in seiner Nähe
den Schritt der andern annahm, als wüßte ich nicht
um ihn. Dann hörte ich es in ihm »La Presse« sagen
und gleich darauf noch einmal und ein drittes Mal in
raschen Zwischenräumen. Und die Leute neben mir
sahen sich um und suchten die Stimme. Nur ich tat
eiliger als alle, als wäre mir nichts aufgefallen, als wäre
ich innen überaus beschäftigt.

Und ich war es in der Tat. Ich war beschäftigt, ihn mir
vorzustellen, ich unternahm die Arbeit, ihn
einzubilden, und der Schweiß trat mir aus vor Anstrengung.
Denn ich mußte ihn machen wie man einen Toten
macht, für den keine Beweise mehr da sind, keine
Bestandteile; der ganz und gar innen zu leisten ist. Ich
weiß jetzt, daß es mir ein wenig half, an die vielen
abgenommenen Christusse aus streifigem Elfenbein zu
denken, die bei allen Althändlern herumliegen. Der
Gedanke an irgendeine Pietà trat vor und ab --: dies
alles wahrscheinlich nur, um eine gewisse Neigung
hervorzurufen, in der sein langes Gesicht sich hielt,
und den trostlosen Bartnachwuchs im Wangenschatten
<<901>>
und die endgültig schmerzvolle Blindheit seines
verschlossenen Ausdrucks, der schräg aufwärts gehalten
war. Aber es war außerdem so vieles, was zu ihm
gehörte; denn dies begriff ich schon damals, daß nichts an
ihm nebensächlich sei: nicht die Art, wie der Rock
oder der Mantel, hinten abstehend, überall den Kragen
sehen ließ, diesen niedrigen Kragen, der in einem großen
Bogen um den gestreckten, nischigen Hals stand, ohne
ihn zu berühren; nicht die grünlich schwarze Krawatte,
die weit um das Ganze herumgeschnallt war; und ganz
besonders nicht der Hut, ein alter, hochgewölbter,
steifer Filzhut, den er trug wie alle Blinden ihre Hüte
tragen: ohne Bezug zu den Zeilen des Gesichts, ohne die
Möglichkeit, aus diesem Hinzukommenden und sich
selbst eine neue äußere Einheit zu bilden; nicht anders
als irgendeinen verabredeten fremden Gegenstand. In
meiner Feigheit, nicht hinzusehen, brachte ich es so
weit, daß das Bild dieses Mannes sich schließlich oft auch
ohne Anlaß stark und schmerzhaft in mir
zusammenzog zu so hartem Elend, daß ich mich, davon bedrängt,
entschloß, die zunehmende Fertigkeit meiner
Einbildung durch die auswärtige Tatsache einzuschüchtern
und aufzuheben. Es war gegen Abend. Ich nahm mir vor,
sofort aufmerksam an ihm vorbeizugehen.

Nun muß man wissen: es ging auf den Frühling zu.
Der Tagwind hatte sich gelegt, die Gassen waren lang
und befriedigt; an ihrem Ausgang schimmerten
Häuser, neu wie frische Bruchstellen eines weißen Metalls.
Aber es war ein Metall, das einen überraschte durch
seine Leichtigkeit. In den breiten, fortlaufenden
Stra<<902>>
ßen zogen viele Leute durcheinander, fast ohne die
Wagen zu fürchten, die selten waren. Es mußte ein
Sonntag sein. Die Turmaufsätze von Saint-Sulpice
zeigten sich heiter und unerwartet hoch in der
Windstille, und durch die schmalen, beinah römischen
Gassen sah man unwillkürlich hinaus in die Jahreszeit. Im
Garten und davor war so viel Bewegung von Menschen,
daß ich ihn nicht gleich sah. Oder erkannte ich ihn
zuerst nicht zwischen der Menge durch?

Ich wußte sofort, daß meine Vorstellung wertlos war.
Die durch keine Vorsicht oder Verstellung
eingeschränkte Hingegebenheit seines Elends übertraf meine
Mittel. Ich hatte weder den Neigungswinkel seiner
Haltung begriffen gehabt noch das Entsetzen, mit dem die
Innenseite seiner Lider ihn fortwährend zu erfüllen
schien. Ich hatte nie an seinen Mund gedacht, der
eingezogen war wie die Öffnung eines Ablaufs.
Möglicherweise hatte er Erinnerungen; jetzt aber kam nie mehr
etwas zu seiner Seele hinzu als täglich das amorphe
Gefühl des Steinrands hinter ihm, an dem seine Hand sich
abnutzte. Ich war stehngeblieben, und während ich das
alles fast gleichzeitig sah, fühlte ich, daß er einen
anderen Hut hatte und eine ohne Zweifel sonntägliche
Halsbinde; sie war schräg in gelben und violetten
Vierecken gemustert, und was den Hut angeht, so war
es ein billiger neuer Strohhut mit einem grünen Band.
Es liegt natürlich nichts an diesen Farben, und es ist
kleinlich, daß ich sie behalten habe. Ich will nur sagen,
daß sie an ihm waren wie das Weicheste auf eines
Vogels Unterseite. Er selbst hatte keine Lust daran,
<<903>>
und wer von allen (ich sah mich um) durfte meinen,
dieser Staat wäre um seinetwillen?

Mein Gott, fiel es mir mit Ungestüm ein, so bist du also.
Es giebt Beweise für deine Existenz. Ich habe sie alle
vergessen und habe keinen je verlangt, denn welche
ungeheuere Verpflichtung läge in deiner Gewißheit.
Und doch, nun wird mirs gezeigt. Dieses ist dein
Geschmack, hier hast du Wohlgefallen. Daß wir doch
lernten, vor allem aushalten und nicht urteilen.
Welche sind die schweren Dinge? Welche die gnädigen?
Du allein weißt es.

Wenn es wieder Winter wird und ich muß einen neuen
Mantel haben, -- gieb mir, daß ich ihn so trage, solang
er neu ist.

Es ist nicht, daß ich mich von ihnen unterscheiden
will, wenn ich in besseren, von Anfang an meinigen
Kleidern herumgehe und darauf halte, irgendwo zu
wohnen. Ich bin nicht so weit. Ich habe nicht das Herz
zu ihrem Leben. Wenn mir der Arm einginge, ich
glaube, ich versteckte ihn. Sie aber (ich weiß nicht, wer sie
sonst war), sie erschien jeden Tag vor den Terrassen der
Caféhäuser, und obwohl es sehr schwer war für sie, den
Mantel abzutun und sich aus dem unklaren Zeug und
Unterzeug herauszuziehen, sie scheute der Mühe nicht
und tat ab und zog aus so lange, daß mans kaum mehr
erwarten konnte. Und dann stand sie vor uns,
bescheiden, mit ihrem dürren, verkümmerten Stück, und man
sah, daß es rar war.

Nein, es ist nicht, daß ich mich von ihnen unterscheiden
<<904>>
will; aber ich überhübe mich, wollte ich ihnen gleich
sein. Ich bin es nicht. Ich hätte weder ihre Stärke noch
ihr Maß. Ich ernähre mich, und so bin ich von Mahlzeit
zu Mahlzeit, völlig geheimnislos; sie aber erhalten sich
fast wie Ewige. Sie stehen an ihren täglichen Ecken,
auch im November, und schreien nicht vor Winter.
Der Nebel kommt und macht sie undeutlich und
ungewiß: sie sind gleichwohl. Ich war verreist, ich war
krank, vieles ist mir vergangen: sie aber sind nicht
gestorben.
<amRand> (Ich weiß ja nicht einmal, wie es möglich ist, daß die
Schulkinder aufstehn in den Kammern voll
grauriechender Kälte; wer sie bestärkt, die überstürzten
Skelettchen, daß sie hinauslaufen in die erwachsene Stadt, in
die trübe Neige der Nacht, in den ewigen Schultag,
immer noch klein, immer voll Vorgefühl, immer
verspätet. Ich habe keine Vorstellung von der Menge
Beistand, die fortwährend verbraucht wird.) </amRand>

Diese Stadt ist voll von solchen, die langsam zu ihnen
hinabgleiten. Die meisten sträuben sich erst; aber dann
giebt es diese verblichenen, alternden Mädchen, die sich
fortwährend ohne Widerstand hinüberlassen, starke,
im Innersten ungebrauchte, die nie geliebt worden
sind.

Vielleicht meinst du, mein Gott, daß ich alles lassen soll
und sie lieben. Oder warum wird es mir so schwer,
ihnen nicht nachzugehen, wenn sie mich überholen?
Warum erfind ich auf einmal die süßesten,
nächtlichsten Worte, und meine Stimme steht sanft in mir
zwi<<905>>
schen Kehle und Herz. Warum stell ich mir vor, wie ich
sie unsäglich vorsichtig an meinen Atem halten würde,
diese Puppen, mit denen das Leben gespielt hat, ihnen
Frühling um Frühling für nichts und wieder nichts die
Arme auseinanderschlagend bis sie locker wurden in
den Schultern. Sie sind nie sehr hoch von einer
Hoffnung gefallen, so sind sie nicht zerbrochen; aber
abgeschlagen sind sie und schon dem Leben zu schlecht.
Nur verlorene Katzen kommen abends zu ihnen in die
Kammer und zerkratzen sie heimlich und schlafen auf
ihnen. Manchmal folge ich einer zwei Gassen weit. Sie
gehen an den Häusern hin, fortwährend kommen
Menschen, die sie verdecken, sie schwinden hinter ihnen
weiter wie nichts.

Und doch, ich weiß, wenn einer nun versuchte, sie
liebzuhaben, so wären sie schwer an ihm wie
Zuweitgegangene, die aufhören zu gehn. Ich glaube, nur Jesus
ertrüge sie, der noch das Auferstehen in allen Gliedern
hat; aber ihm liegt nichts an ihnen. Nur die Liebenden
verführen ihn, nicht die, die warten mit einem kleinen
Talent zur Geliebten wie mit einer kalten Lampe.

Ich weiß, wenn ich zum Äußersten bestimmt bin, so
wird es mir nichts helfen, daß ich mich verstelle in
meinen besseren Kleidern. Glitt er nicht mitten im
Königtum unter die Letzten? Er, der statt aufzusteigen
hinabsank bis auf den Grund. Es ist wahr, ich habe
zuzeiten an die anderen Könige geglaubt, obwohl die Parke
nichts mehr beweisen. Aber es ist Nacht, es ist Winter,
ich friere, ich glaube an ihn. Denn die Herrlichkeit ist
<<906>>
nur ein Augenblick, und wir haben nie etwas Längeres
gesehen als das Elend. Der König aber soll dauern.

Ist nicht dieser der Einzige, der sich erhielt unter
seinem Wahnsinn wie Wachsblumen unter einem
Glassturz? Für die anderen beteten sie in den Kirchen um
langes Leben, von ihm aber verlangte der Kanzler Jean
Charlier Gerson, daß er ewig sei, und das war damals,
als er schon der Dürftigste war, schlecht und von
schierer Armut trotz seiner Krone.

Das war damals, als von Zeit zu Zeit Männer
fremdlings, mit geschwärztem Gesicht, ihn in seinem Bette
überfielen, um ihm das in die Schwären hineingefaulte
Hemde abzureißen, das er schon längst für sich selber
hielt. Es war verdunkelt im Zimmer, und sie zerrten
unter seinen steifen Armen die mürben Fetzen weg,
wie sie sie griffen. Dann leuchtete einer vor, und da
erst entdeckten sie die jäsige Wunde auf seiner Brust,
in die das eiserne Amulett eingesunken war, weil er es
jede Nacht an sich preßte mit aller Kraft seiner Inbrunst;
nun stand es tief in ihm, fürchterlich kostbar, in einem
Perlensaum von Eiter wie ein wundertuender Rest in
der Mulde eines Reliquärs. Man hatte harte
Handlanger ausgesucht, aber sie waren nicht ekelfest, wenn die
Würmer, gestört, nach ihnen herüberstanden aus dem
flandrischen Barchent und, aus den Falten abgefallen,
sich irgendwo an ihren Ärmeln aufzogen. Es war ohne
Zweifel schlimmer geworden mit ihm seit den Tagen der
parva regina; denn sie hatte doch noch bei ihm liegen
mögen, jung und klar wie sie war. Dann war sie
gestorben. Und nun hatte keiner mehr gewagt, eine
Beischlä<<907>>
ferin an dieses Aas anzubetten. Sie hatte die Worte und
Zärtlichkeiten nicht hinterlassen, mit denen der König
zu mildern war. So drang niemand mehr durch dieses
Geistes Verwilderung; niemand half ihm aus den
Schluchten seiner Seele; niemand begriff es, wenn er
selbst plötzlich heraustrat mit dem runden Blick eines
Tiers, das auf die Weide geht. Wenn er dann das
beschäftigte Gesicht Juvenals erkannte, so fiel ihm das
Reich ein, wie es zuletzt gewesen war. Und er wollte
nachholen, was er versäumt hatte.

Aber es lag an den Ereignissen jener Zeitläufte, daß sie
nicht schonend beizubringen waren. Wo etwas geschah,
da geschah es mit seiner ganzen Schwere, und war wie
aus einem Stück, wenn man es sagte. Oder was war
davon abzuziehen, daß sein Bruder ermordet war, daß
gestern Valentina Visconti, die er immer seine liebe
Schwester nannte, vor ihm gekniet hatte, lauter
Witwenschwarz weghebend von des entstellten Antlitzes
Klage und Anklage? Und heute stand stundenlang ein
zäher, rediger Anwalt da und bewies das Recht des
fürstlichen Mordgebers, solange bis das Verbrechen
durchscheinend wurde und als wollte es licht in den Himmel
fahren. Und gerecht sein hieß, allen recht geben; denn
Valentina von Orléans starb Kummers, obwohl man ihr
Rache versprach. Und was half es, dem burgundischen
Herzog zu verzeihen und wieder zu verzeihen; über den
war die finstere Brunst der Verzweiflung gekommen,
so daß er schon seit Wochen tief im Walde von Argilly
wohnte in einem Zelt und behauptete, nachts die Hirsche
schreien hören zu müssen zu seiner Erleichterung.
<<908>>
Wenn man dann das alles bedacht hatte, immer wieder
bis ans Ende, kurz wie es war, so begehrte das Volk
einen zu sehen, und es sah einen: ratlos. Aber das Volk
freute sich des Anblicks; es begriff, daß dies der König
sei: dieser Stille, dieser Geduldige, der nur da war, um
es zuzulassen, daß Gott über ihn weg handelte in seiner
späten Ungeduld. In diesen aufgeklärten Augenblicken
auf dem Balkon seines Hotels von Saint-Pol ahnte der
König vielleicht seinen heimlichen Fortschritt; der Tag
von Roosbecke fiel ihm ein, als sein Oheim von Berry
ihn an der Hand genommen hatte, um ihn
hinzuführen vor seinen ersten fertigen Sieg; da überschaute er
in dem merkwürdig langhellen Novembertag die
Massen der Genter, so wie sie sich erwürgt hatten mit ihrer
eigenen Enge, da man gegen sie angeritten war von
allen Seiten. Ineinandergewunden wie ein ungeheueres
Gehirn, lagen sie da in den Haufen, zu denen sie sich
selber zusammengebunden hatten, um dicht zu sein.
Die Luft ging einem weg, wenn man da und dort ihre
erstickten Gesichter sah; man konnte es nicht lassen,
sich vorzustellen, daß sie weit über diesen vor Gedränge
noch stehenden Leichen verdrängt worden sei durch den
plötzlichen Austritt so vieler verzweifelter Seelen.

Dies hatte man ihm eingeprägt als den Anfang seines
Ruhms. Und er hatte es behalten. Aber, wenn das
damals der Triumph des Todes war, so war dieses, daß er
hier stand auf seinen schwachen Knieen, aufrecht in
allen diesen Augen: das Mysterium der Liebe. An den
anderen hatte er gesehen, daß man jenes Schlachtfeld
begreifen konnte, so ungeheuer es war. Dies hier wollte
<<909>>
nicht begriffen sein; es war genau so wunderbar wie
einst der Hirsch mit dem goldenen Halsband im Wald
von Senlis. Nur daß er jetzt selber die Erscheinung war,
und andere waren versunken in Anschauen. Und er
zweifelte nicht, daß sie atemlos waren und von
derselben weiten Erwartung, wie sie einmal ihn an jenem
jünglinglichen Jagdtag überfiel, als das stille Gesicht,
äugend, aus den Zweigen trat. Das Geheimnis seiner
Sichtbarkeit verbreitete sich über seine sanfte Gestalt;
er rührte sich nicht, aus Scheu, zu vergehen, das dünne
Lächeln auf seinem breiten, einfachen Gesicht nahm
eine natürliche Dauer an wie bei steinernen Heiligen
und bemühte ihn nicht. So hielt er sich hin, und es war
einer jener Augenblicke, die die Ewigkeit sind, in
Verkürzung gesehen. Die Menge ertrug es kaum. Gestärkt,
von unerschöpflich vermehrter Tröstung gespeist,
durchbrach sie die Stille mit dem Aufschrei der Freude. Aber
oben auf dem Balkon war nur noch Juvenal des Ursins,
und er rief in die nächste Beruhigung hinein, daß der
König rue Saint-Denis kommen würde zu der
Passionsbrüderschaft, die Mysterien sehen.

Zu solchen Tagen war der König voll milden
Bewußtseins. Hätte ein Maler jener Zeit einen Anhalt gesucht
für das Dasein im Paradiese, er hätte kein
vollkommeres Vorbild finden können als des Königs gestillte
Figur, wie sie in einem der hohen Fenster des Louvre
stand unter dem Sturz ihrer Schultern. Er blätterte in
dem kleinen Buch der Christine de Pisan, das »Der
Weg des langen Lernens« heißt und das ihm gewidmet
war. Er las nicht die gelehrten Streitreden jenes
allego<<910>>
rischen Parlaments, das sich vorgesetzt hatte, den
Fürsten ausfindig zu machen, der würdig sei, über die Welt
zu herrschen. Das Buch schlug sich ihm immer an den
einfachsten Stellen auf: wo von dem Herzen die Rede
war, das dreizehn Jahre lang wie ein Kolben über dem
Schmerzfeuer nur dazu gedient hatte, das Wasser der
Bitternis für die Augen zu destillieren; er begriff, daß
die wahre Konsolation erst begann, wenn das Glück
vergangen genug und für immer vorüber war. Nichts
war ihm näher, als dieser Trost. Und während sein
Blick scheinbar die Brücke drüben umfaßte, liebte er
es, durch dieses von der starken Cumäa zu großen
Wegen ergriffene Herz die Welt zu sehen, die damalige:
die gewagten Meere, fremdtürmige Städte,
zugehalten vom Andruck der Weiten; der gesammelten
Gebirge ekstatische Einsamkeit und die in fürchtigem
Zweifel erforschten Himmel, die sich erst schlossen wie
eines Saugkindes Hirnschale.

Aber wenn jemand eintrat, so erschrak er, und
langsam beschlug sich sein Geist. Er gab zu, daß man ihn
vom Fenster fortführte und ihn beschäftigte. Sie
hatten ihm die Gewohnheit beigebracht, stundenlang über
Abbildungen zu verweilen, und er war es zufrieden, nur
kränkte es ihn, daß man im Blättern niemals mehrere
Bilder vor sich behielt und daß sie in den Folianten
festsaßen, so daß man sie nicht untereinander bewegen
konnte. Da hatte sich jemand eines Spiels Karten
erinnert, das völlig in Vergessenheit geraten war, und der
König nahm den in Gunst, der es ihm brachte; so sehr
waren diese Kartons nach seinem Herzen, die bunt
wa<<911>>
ren und einzeln beweglich und voller Figur. Und
wähdas Kartenspielen unter den Hofleuten in Mode
kam, saß der König in seiner Bibliothek und spielte
allein. Genau wie er nun zwei Könige nebeneinander
aufschlug, so hatte Gott neulich ihn und den Kaiser
Wenzel zusammengetan; manchmal starb eine Königin,
dann legte er ein Herz-Aß auf sie, das war wie ein
Grabstein. Es wunderte ihn nicht, daß es in diesem Spiel
mehrere Päpste gab; er richtete Rom ein drüben am
Rande des Tisches, und hier, unter seiner Rechten, war
Avignon. Rom war ihm gleichgültig, er stellte es sich
aus irgendeinem Grunde rund vor und bestand nicht
weiter darauf. Aber Avignon kannte er. Und kaum
dachte er es, so wiederholte seine Erinnerung den
hohen hermetischen Palast und überanstrengte sich. Er
schloß die Augen und mußte tief Atem holen. Er
fürchtete bös zu träumen nächste Nacht.

Im ganzen aber war es wirklich eine beruhigende
Beschäftigung, und sie hatten recht, ihn immer wieder
darauf zu bringen. Solche Stunden befestigten ihn in der
Ansicht, daß er der König sei, König Karl der Sechste.
Das will nicht sagen, daß er sich übertrieb; weit von
ihm war die Meinung, mehr zu sein als so ein Blatt,
aber die Gewißheit bestärkte sich in ihm, daß auch er
eine bestimmte Karte sei, vielleicht eine schlechte, eine
zornig ausgespielte, die immer verlor: aber immer die
gleiche: aber nie eine andere. Und doch, wenn eine
Woche so hingegangen war in gleichmäßiger
Selbstbestätigung, so wurde ihm enge in ihm. Die Haut spannte
ihn um die Stirn und im Nacken, als empfände er auf
<<912>>
einmal seinen zu deutlichen Kontur. Niemand wußte,
welcher Versuchung er nachgab, wenn er dann nach den
Mysterien fragte und nicht erwarten konnte, daß sie
begännen. Und war es einmal so weit, so wohnte er mehr
rue Saint-Denis als in seinem Hôtel von Saint-Pol.

Es war das Verhängnisvolle dieser dargestellten
Gedichte, daß sie sich immerfort ergänzten und
erweiterten und zu Zehntausenden von Versen anwuchsen, so
daß die Zeit in ihnen schließlich die wirkliche war;
etwa so, als machte man einen Globus im Maßstab der
Erde. Die hohle Estrade, unter der die Hölle war und
über der, an einen Pfeiler angebaut, das geländerlose
Gerüst eines Balkons das Niveau des Paradieses
bedeutete, trug nur noch dazu bei, die Täuschung zu
verringern. Denn dieses Jahrhundert hatte in der Tat
Himmel und Hölle irdisch gemacht: es lebte aus den Kräften
beider, um sich zu überstehen.

Es waren die Tage jener avignonesischen Christenheit,
die sich vor einem Menschenalter um Johann den
Zweiundzwanzigsten zusammengezogen hatte, mit so viel
unwillkürlicher Zuflucht, daß an dem Platze seines
Pontifikats, gleich nach ihm, die Masse dieses Palastes
entstanden war, verschlossen und schwer wie ein
äußerster Notleib für die wohnlose Seele aller. Er selbst aber,
der kleine, leichte, geistige Greis, wohnte noch im
Offenen. Während er, kaum angekommen, ohne Aufschub,
nach allen Seiten hin rasch und knapp zu handeln
begann, standen die Schüsseln mit Gift gewürzt auf seiner
Tafel; der erste Becher mußte immer weggeschüttet
werden, denn das Stück Einhorn war mißfarbig, wenn
<<913>>
es der Mundkämmerer daraus zurückzog. Ratlos, nicht
wissend, wo er sie verbergen sollte, trug der
Siebzigjährige die Wachsbildnisse herum, die man von ihm
gemacht hatte, um ihn darin zu verderben; und er ritzte
sich an den langen Nadeln, mit denen sie durchstochen
waren. Man konnte sie einschmelzen. Doch so hatte er
sich schon an diesen heimlichen Simulakern entsetzt,
daß er, gegen seinen starken Willen, mehrmals den
Gedanken formte, er könnte sich selbst damit tödlich sein
und hinschwinden wie das Wachs am Feuer. Sein
verminderter Körper wurde nur noch trockener vom
Grausen und dauerhafter. Aber nun wagte man sich an den
Körper seines Reichs; von Granada aus waren die Juden
angestiftet worden, alle Christlichen zu vertilgen, und
diesmal hatten sie sich furchtbarere Vollzieher erkauft.
Niemand zweifelte, gleich auf die ersten Gerüchte hin,
an dem Anschlag der Leprosen; schon hatten einzelne
gesehen, wie sie Bündel ihrer schrecklichen Zersetzung
in die Brunnen warfen. Es war nicht Leichtgläubigkeit,
daß man dies sofort für möglich hielt; der Glaube, im
Gegenteil, war so schwer geworden, daß er den
Zitternden entsank und bis auf den Grund der Brunnen fiel.
Und wieder hatte der eifrige Greis Gift abzuhalten vom
Blute. Zur Zeit seiner abergläubischen Anwandlungen
hatte er sich und seiner Umgebung das Angelus
verschrieben gegen die Dämonen der Dämmerung; und
nun läutete man auf der ganzen erregten Welt jeden
Abend dieses kalmierende Gebet. Sonst aber glichen alle
Bullen und Briefe, die von ihm ausgingen, mehr einem
Gewürzwein als einer Tisane. Das Kaisertum hatte sich
<<914>>
nicht in seine Behandlung gestellt, aber er ermüdete
nicht, es mit Beweisen seines Krankseins zu überhäufen;
und schon wandte man sich aus dem fernsten Osten an
diesen herrischen Arzt.

Aber da geschah das Unglaubliche. Am
Allerheiligentag hatte er gepredigt, länger, wärmer als sonst; in
einem plötzlichen Bedürfnis, wie um ihn selbst
wiederzusehen, hatte er seinen Glauben gezeigt; aus dem
fünfundachtzigjährigen Tabernakel hatte er ihn mit aller
Kraft langsam herausgehoben und auf der Kanzel
ausgestellt: und da schrieen sie ihn an. Ganz Europa schrie:
dieser Glaube war schlecht.

Damals verschwand der Papst. Tagelang ging keine
Aktion von ihm aus, er lag in seinem Betzimmer auf den
Knieen und erforschte das Geheimnis der Handelnden,
die Schaden nehmen an ihrer Seele. Endlich erschien er,
erschöpft von der schweren Einkehr, und widerrief. Er
widerrief einmal über das andere. Es wurde die senile
Leidenschaft seines Geistes, zu widerrufen. Es konnte
geschehen, daß er nachts die Kardinäle wecken ließ, um mit
ihnen von seiner Reue zu reden. Und vielleicht war das,
was sein Leben über die Maßen hinhielt, schließlich nur
die Hoffnung, sich auch noch vor Napoleon Orsini zu
demütigen, der ihn haßte und der nicht kommen wollte .

Jakob von Cahors hatte widerrufen. Und man könnte
meinen, Gott selber hätte seine Irrung erweisen wollen,
da er so bald hernach jenen Sohn des Grafen von Ligny
aufkommen ließ, der seine Mündigkeit auf Erden nur
abzuwarten schien, um des Himmels seelische
Sinnlichkeiten mannbar anzutreten. Es lebten viele, die sich
die<<915>>
ses klaren Knaben in seinem Kardinalat erinnerten,
und wie er am Eingang seiner Jünglingschaft Bischof
geworden und mit kaum achtzehn Jahren in einer
Ekstase seiner Vollendung gestorben war. Man begegnete
Totgewesenen: denn die Luft an seinem Grabe, in der,
frei geworden, pures Leben lag, wirkte lange noch auf
die Leichname. Aber war nicht etwas Verzweifeltes
selbst in dieser frühreifen Heiligkeit? War es nicht ein
Unrecht an allen, daß das reine Gewebe dieser Seele
nur eben durchgezogen worden war, als handelte es
sich nur darum, es in der garen Scharlachküpe der Zeit
leuchtend zu färben? Empfand man nicht etwas wie
einen Gegenstoß, da dieser junge Prinz von der Erde
absprang in seine leidenschaftliche Himmelfahrt?
Warum verweilten die Leuchtenden nicht unter den
mühsamen Lichtziehern? War es nicht diese Finsternis, die
Johann den Zweiundzwanzigsten dahin gebracht hatte,
zu behaupten, daß es vor dem jüngsten Gericht keine
ganze Seligkeit gäbe, nirgends, auch unter den Seligen
nicht? Und in der Tat, wieviel rechthaberische
Verbissenheit gehörte dazu, sich vorzustellen, daß, während
hier so dichte Wirrsal geschah, irgendwo Gesichter schon
im Scheine Gottes lagen, an Engel zurückgelehnt und
gestillt durch die unausschöpfliche Aussicht auf ihn.

Da sitze ich in der kalten Nacht und schreibe und weiß
das alles. Ich weiß es vielleicht, weil mir jener Mann
begegnet ist, damals als ich klein war. Er war sehr groß,
ich glaube sogar, daß er auffallen mußte durch seine
Größe.
<<916>>
So unwahrscheinlich es ist, es war mir irgendwie
gelungen, gegen Abend allein aus dem Haus zu kommen;
ich lief, ich bog um eine Ecke, und in demselben
Augenblick stieß ich gegen ihn. Ich begreife nicht, wie das,
was jetzt geschah, sich in etwa fünf Sekunden abspielen
konnte. So dicht man es auch erzählt, es dauert viel
länger. Ich hatte mir weh getan im Anlauf an ihn; ich war
klein, es schien mir schon viel, daß ich nicht weinte,
auch erwartete ich unwillkürlich, getröstet zu sein. Da
er das nicht tat, hielt ich ihn für verlegen; es fiel ihm,
vermutete ich, der richtige Scherz nicht ein, in dem
diese Sache aufzulösen war. Ich war schon vergnügt
genug, ihm dabei zu helfen, aber dazu war es nötig, ihm
ins Gesicht zu sehen. Ich habe gesagt, daß er groß war.
Nun hatte er sich nicht, wie es doch natürlich gewesen
wäre, über mich gebeugt, so daß er sich in einer Höhe
befand, auf die ich nicht vorbereitet war. Immer noch
war vor mir nichts als der Geruch und die
eigentümliche Härte seines Anzugs, die ich gefühlt hatte. Plötzlich
kam sein Gesicht. Wie es war? Ich weiß es nicht, ich will
es nicht wissen. Es war das Gesicht eines Feindes. Und
neben diesem Gesicht, dicht nebenan, in der Höhe der
schrecklichen Augen, stand, wie ein zweiter Kopf, seine
Faust. Ehe ich noch Zeit hatte, mein Gesicht
wegzusenken, lief ich schon; ich wich links an ihm vorbei und
lief geradeaus eine leere, furchtbare Gasse hinunter, die
Gasse einer fremden Stadt, einer Stadt, in der nichts
vergeben wird.

Damals erlebte ich, was ich jetzt begreife: jene schwere,
massive, verzweifelte Zeit. Die Zeit, in der der Kuß
<<917>>
zweier, die sich versöhnten, nur das Zeichen für die
Mörder war, die herumstanden. Sie tranken aus
demselben Becher, sie bestiegen vor aller Augen das gleiche
Reitpferd, und es wurde verbreitet, daß sie die Nacht in
einem Bette schlafen würden: und über allen diesen
Berührungen wurde ihr Widerwillen aneinander so
dringend, daß, sooft einer die schlagenden Adern des
andern sah, ein krankhafter Ekel ihn bäumte, wie beim
Anblick einer Kröte. Die Zeit, in der ein Bruder den
Bruder um dessen größeren Erbteils willen überfiel und
gefangenhielt; zwar trat der König für den
Mißhandelten ein und erreichte ihm Freiheit und Eigentum; in
anderen fernen Schicksalen beschäftigt, gestand ihm
der Ältere Ruhe zu und bereute in Briefen sein
Unrecht. Aber über alledem kam der Befreite nicht mehr
zur Fassung. Das Jahrhundert zeigt ihn im Pilgerkleid
von Kirche zu Kirche ziehen, immer wunderlichere
Gelübde erfindend. Mit Amuletten behangen, flüstert er
den Mönchen von Saint-Denis seine Befürchtungen zu,
und in ihren Registern stand lange die
hundertpfündige Wachskerze verzeichnet, die er für gut hielt, dem
heiligen Ludwig zu weihen. Zu seinem eigenen Leben
kam es nicht; bis an sein Ende fühlte er seines Bruders
Neid und Zorn in verzerrter Konstellation über seinem
Herzen. Und jener Graf von Foix, Gaston Phöbus, der
in aller Bewunderung war, hatte er nicht seinen Vetter
Ernault, des englischen Königs Hauptmann zu Lourdes,
offen getötet? Und was war dieser deutliche Mord gegen
den grauenvollen Zufall, daß er das kleine scharfe
Nagelmesser nicht fortgelegt hatte, als er mit seiner
<<918>>
berühmt schönen Hand in zuckendem Vorwurf den
bloßen Hals seines liegenden Sohnes streifte? Die Stube
war dunkel, man mußte leuchten, um das Blut zu
sehen, das so weit herkam und nun für immer ein
köstliches Geschlecht verließ, da es heimlich aus der
winzigen Wunde dieses erschöpften Knaben austrat.

Wer konnte stark sein und sich des Mordes enthalten?
Wer in dieser Zeit wußte nicht, daß das Äußerste
unvermeidlich war? Da und dort über einen, dessen Blick
untertags dem kostenden Blick seines Mörders begegnet
war, kam ein seltsames Vorgefühl. Er zog sich zurück,
er schloß sich ein, er schrieb das Ende seines Willens
und verordnete zum Schluß die Trage aus
Weidengeflecht, die Cölestinerkutte und Aschenstreu. Fremde
Minstrel erschienen vor seinem Schloß, und er
beschenkte sie fürstlich für ihre Stimme, die mit seinen
vagen Ahnungen einig war. Im Aufblick der Hunde
war Zweifel, und sie wurden weniger sicher in ihrer
Aufwartung. Aus der Devise, die das ganze Leben lang
gegolten hatte, trat leise ein neuer, offener Nebensinn.
Manche lange Gewohnheit kam einem veraltet vor,
aber es war, als bildete sich kein Ersatz mehr für sie.
Stellten sich Pläne ein, so ging man im großen mit
ihnen um, ohne wirklich an sie zu glauben; dagegen
griffen gewisse Erinnerungen zu einer unerwarteten
Endgültigkeit. Abends, am Feuerplatz, meinte man sich
ihnen zu überlassen. Aber die Nacht draußen, die man
nicht mehr kannte, wurde auf einmal ganz stark im
Gehör. Das an so vielen freien oder gefahrlichen Nächten
erfahrene Ohr unterschied einzelne Stücke der Stille.
<<919>>
Und doch war es anders diesmal. Nicht die Nacht
zwischen gestern und heute: eine Nacht. Nacht. Beau
Sire Dieu, und dann die Auferstehung. Kaum daß in
solche Stunden die Berühmung um eine Geliebte
hineinreichte: sie waren alle verstellt in Tagliedern und
Diengedichten; unbegreiflich geworden unter langen
nachschleppenden Prunknamen. Höchstens, im Dunkel,
wie das volle, frauige Aufschaun eines Bastardsohns.

Und dann, vor dem späten Nachtessen diese
Nachdenklichkeit über die Hände in dem silbernen Waschbecken.
Die eigenen Hände. Ob ein Zusammenhang in das Ihre
zu bringen war? eine Folge, eine Fortsetzung im
Greifen und Lassen? Nein. Alle versuchten das Teil und das
Gegenteil. Alle hoben sich auf, Handlung war keine.

Es gab keine Handlung, außer bei den Missionsbrüdern.
Der König, so wie er sie hatte sich gebärden sehn, erfand
selbst den Freibrief für sie. Er redete sie seine lieben
Brüder an; nie war ihm jemand so nahegegangen. Es
wurde ihnen wörtlich bewilligt, in ihrer Bedeutung
unter den Zeitlichen herumzugehen; denn der König
wünschte nichts mehr, als daß sie viele anstecken
sollten und hineinreißen in ihre starke Aktion, in der
Ordnung war. Was ihn selbst betrifft, so sehnte er sich, von
ihnen zu lernen. Trug er nicht, ganz wie sie, die
Zeichen und Kleider eines Sinnes an sich? Wenn er ihnen
zusah, so konnte er glauben, dies müßte sich erlernen
lassen: zu kommen und zu gehen, auszusagen und sich
abzubiegen, so daß kein Zweifel war. Ungeheuere
Hoffnungen überzogen sein Herz. In diesem unruhig
beleuchteten, merkwürdig unbestimmten Saal des
Drei<<920>>
faltigkeitshospitals saß er täglich an seinem besten Platz
und stand auf vor Erregung und nahm sich zusamm
wie ein Schüler. Andere weinten; er aber war innen
voll glänzender Tränen und preßte nur die kalten Hände
ineinander, um es zu ertragen. Manchmal im
Äußersten, wenn ein abgesprochener Spieler plötzlich
wegtrat aus seinem großen Blick, hob er das Gesicht und
erschrak: seit wie lange schon war Er da: Monseigneur
Sankt Michaël, oben, vorgetreten an den Rand des
Gerüsts in seiner spiegelnden silbernen Rüstung.

In solchen Momenten richtete er sich auf. Er sah um
sich wie vor einer Entscheidung. Er war ganz nahe
daran, das Gegenstück zu dieser Handlung hier
einzusehen: die große, bange, profane Passion, in der er spielte.
Aber auf einmal war es vorbei. Alle bewegten sich
ohne Sinn. Offene Fackeln kamen auf ihn zu, und in
die Wölbung hinauf warfen sich formlose Schatten.
Menschen, die er nicht kannte, zerrten an ihm. Er
wollte spielen: aber aus seinem Mund kam nichts, seine
Bewegungen ergaben keine Gebärde. Sie drängten sich
so eigentümlich um ihn, es kam ihm die Idee, daß er
das Kreuz tragen sollte. Und er wollte warten, daß sie
es brächten. Aber sie waren stärker, und sie schoben
ihn langsam hinaus.

Aussen ist vieles anders geworden. Ich weiß nicht wie.
Aber innen und vor Dir, mein Gott, innen vor Dir,
Zuschauer: sind wir nicht ohne Handlung? Wir
entdecken wohl, daß wir die Rolle nicht wissen, wir suchen
einen Spiegel, wir möchten abschminken und das
Fal<<921>>
sche abnehmen und wirklich sein. Aber irgendwo haftet
uns noch ein Stück Verkleidung an, das wir
vergessen. Eine Spur Übertreibung bleibt in unseren
Augenbrauen, wir merken nicht, daß unsere Mundwinkel
verbogen sind. Und so gehen wir herum, ein Gespött
und eine Hälfte: weder Seiende, noch Schauspieler.

Das war im Theater zu Orange. Ohne recht
aufzusehen, nur im Bewußtsein des rustiken Bruchs, der jetzt
seine Fassade ausmacht, war ich durch die kleine
Glastür des Wächters eingetreten. Ich befand mich
zwischen liegenden Säulenkörpern und kleinen
Althaeabäumen, aber sie verdeckten mir nur einen Augenblick
die offene Muschel des Zuschauerhangs, die dalag,
geteilt von den Schatten des Nachmittags, wie eine riesige
konkave Sonnenuhr. Ich ging rasch auf sie zu. Ich fühlte,
zwischen den Sitzreihen aufsteigend, wie ich abnahm in
dieser Umgebung. Oben, etwas höher, standen, schlecht
verteilt, ein paar Fremde herum in müßiger Neugier;
ihre Anzüge waren unangenehm deutlich, aber ihr
Maßstab war nicht der Rede wert. Eine Weile faßten sie
mich ins Auge und wunderten sich über meine
Kleinheit. Das machte, daß ich mich umdrehte.

Oh, ich war völlig unvorbereitet. Es wurde gespielt. Ein
immenses, ein übermenschliches Drama war im Gange,
das Drama dieser gewaltigen Szenenwand, deren
senkrechte Gliederung dreifach auftrat, dröhnend vor Größe,
fast vernichtend und plötzlich maßvoll im Übermaß.

Ich ließ mich hin vor glücklicher Bestürzung. Dieses
Ragende da mit der antlitzhaften Ordnung seiner
Schat<<922>>
ten, mit dem gesammelten Dunkel im Mund seiner
Mitte, begrenzt, oben, von des Kranzgesimses
gleichlockiger Haartracht: dies war die starke, alles verstellende
antikische Maske, hinter der die Welt zum Gesicht
zusammenschoß. Hier, in diesem großen, eingebogenen
Sitzkreis herrschte ein wartendes, leeres, saugendes
Dasein: alles Geschehen war drüben: Götter und
Schicksal. Und von drüben kam (wenn man hoch aufsah) leicht,
über den Wandgrat: der ewige Einzug der Himmel.

Diese Stunde, das begreife ich jetzt, schloß mich für
immer aus von unseren Theatern. Was soll ich dort?
Was soll ich vor einer Szene, in der diese Wand (die
Ikonwand der russischen Kirchen) abgetragen wurde,
weil man nicht mehr die Kraft hat, durch ihre Härte
die Handlung durchzupressen, die gasförmige, die in
vollen schweren Öltropfen austritt. Nun fallen die Stücke
in Brocken durch das lochige Grobsieb der Bühnen und
häufen sich an und werden weggeräumt, wenn es genug
ist. Es ist dieselbe ungare Wirklichkeit, die auf den
Straßen liegt und in den Häusern, nur daß mehr davon
dort zusammenkommt, als sonst in einen Abend geht.
<amRand> (Laßt uns doch aufrichtig sein, wir haben kein Theater,
so wenig wir einen Gott haben: dazu gehört
Gemeinsamkeit. Jeder hat seine besonderen Einfälle und
Befürchtungen, und er läßt den andern so viel davon sehen, als ihm
nützt und paßt. Wir verdünnen fortwährend unser
Verstehen, damit es reichen soll, statt zu schreien nach der
Wand einer gemeinsamen Not, hinter der das
Unbegreifliche Zeit hat, sich zu sammeln und anzuspannen.) </amRand>
<<923>>
Hätten wir ein Theater, stündest du dann, du Tragische,
immer wieder so schmal, so bar, so ohne
Gestaltvorwand vor denen, die an deinem ausgestellten Schmerz
ihre eilige Neugier vergnügen? Du sahst, unsäglich
Rührende, das Wirklichsein deines Leidens voraus, in
Verona damals, als du, fast noch ein Kind,
theaterspielend, lauter Rosen vor dich hieltst wie eine maskige
Vorderansicht, die dich gesteigert verbergen sollte.

Es ist wahr, du warst ein Schauspielerkind, und wenn
die Deinen spielten, so wollten sie gesehen sein; aber du
schlugst aus der Art. Dir sollte dieser Beruf werden,
was für Marianna Alcoforado, ohne daß sie es ahnte, die
Nonnenschaft war, eine Verkleidung, dicht und
dauernd genug, um hinter ihr rückhaltlos elend zu sein,
mit der Inständigkeit, mit der unsichtbare Selige selig
sind. In allen Städten, wohin du kamst, beschrieben sie
deine Gebärde; aber sie begriffen nicht, wie du,
aussichtsloser von Tag zu Tag, immer wieder eine
Dichtung vor dich hobst, ob sie dich berge. Du hieltest dein
Haar, deine Hände, irgendein dichtes Ding vor die
durchscheinenden Stellen. Du hauchtest die an, die
durchsichtig waren; du machtest dich klein; du
verstecktest dich, wie Kinder sich verstecken, und dann
hattest du jenen kurzen, glücklichen Auflaut, und
höchstens ein Engel hätte dich suchen dürfen. Aber,
schautest du dann vorsichtig auf, so war kein Zweifel, daß sie
dich die ganze Zeit gesehen hatten, alle in dem
häßlichen, hohlen, äugigen Raum: dich, dich, dich und nichts
anderes.

Und es kam dich an, ihnen den Arm verkürzt
entge<<924>>
genzustrecken mit dem Fingerzeichen gegen den bösen
Blick. Es kam dich an, ihnen dein Gesicht zu entreißen,
an dem sie zehrten. Es kam dich an, du selber zu sein.
Deinen Mitspielern fiel der Mut; als hätte man sie mit
einem Pantherweibchen zusammengesperrt, krochen sie
an den Kulissen entlang und sprachen was fällig war,
nur um dich nicht zu reizen. Du aber zogst sie hervor
und stelltest sie hin und gingst mit ihnen um wie mit
Wirklichen. Die schlappen Türen, die hingetäuschten
Vorhänge, die Gegenstände ohne Hinterseite drängten
dich zum Widerspruch. Du fühltest, wie dein Herz sich
unaufhaltsam steigerte zu einer immensen
Wirklichkeit und, erschrocken, versuchtest du noch einmal die
Blicke von dir abzunehmen wie lange Fäden
Altweibersommers --: Aber da brachen sie schon in Beifall aus in
ihrer Angst vor dem Äußersten: wie um im letzten
Moment etwas von sich abzuwenden, was sie zwingen
würde, ihr Leben zu ändern.

Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, daß sie
sich überstünden und Liebende würden. Um die
Liebenden ist lauter Sicherheit. Niemand verdächtigt sie mehr,
und sie selbst sind nicht imstande, sich zu verraten. In
ihnen ist das Geheimnis heil geworden, sie schreien es
im Ganzen aus wie Nachtigallen, es hat keine Teile. Sie
klagen um einen; aber die ganze Natur stimmt in sie
ein: es ist die Klage um einen Ewigen. Sie stürzen sich
dem Verlorenen nach, aber schon mit den ersten
Schritten überholen sie ihn, und vor ihnen ist nur noch Gott.
Ihre Legende ist die der Byblis, die den Kaunos verfolgt
<<925>>
bis nach Lykien hin. Ihres Herzens Andrang jagte sie
durch die Länder auf seiner Spur, und schließlich war
sie am Ende der Kraft; aber so stark war ihres Wesens
Bewegtheit, daß sie, hinsinkend, jenseits vom Tod als
Quelle wiedererschien, eilend, als eilende Quelle.

Was ist anderes der Portugiesin geschehen: als daß sie
innen zur Quelle ward? Was dir, Heloïse? was euch,
Liebenden, deren Klagen auf uns gekommen sind:
Gaspara Stampa; Gräfin von Die und Clara d'Anduze;
Louise Labbé, Marceline Desbordes, Elisa Mercoeur? [Merc<oelig>ur?]
Aber du, arme flüchtige Aïssé, du zögertest schon und
gabst nach. Müde Julie Lespinasse. Trostlose Sage des
glücklichen Parks: Marie-Anne de Clermont.

Ich weiß noch genau, einmal, vorzeiten, zuhaus, fand
ich ein Schmucketui; es war zwei Hände groß,
fächerförmig mit einem eingepreßten Blumenrand im
dunkelgrünen Saffian. Ich schlug es auf: es war leer. Das kann
ich nun sagen nach so langer Zeit. Aber damals, da ich
es geöffnet hatte, sah ich nur, woraus diese Leere
bestand: aus Samt, aus einem kleinen Hügel lichten, nicht
mehr frischen Samtes; aus der Schmuckrille, die, um
eine Spur Wehmut heller, leer, darin verlief. Einen
Augenblick war das auszuhalten. Aber vor denen, die
als Geliebte zurückbleiben, ist es vielleicht immer so.

Blättert zurück in euren Tagebüchern. War da nicht
immer um die Frühlinge eine Zeit, da das ausbrechende
Jahr euch wie ein Vorwurf betraf? Es war Lust zum
Frohsein in euch, und doch, wenn ihr hinaustratet in
das geräumige Freie, so entstand draußen eine
Befrem<<926>>
dung in der Luft, und ihr wurdet unsicher im
Weitergehen wie auf einem Schiffe. Der Garten fing an; ihr
aber (das war es), ihr schlepptet Winter herein und
voriges Jahr; für euch war es bestenfalls eine Fortsetzung.
Während ihr wartetet, daß eure Seele teilnähme,
empfandet ihr plötzlich eurer Glieder Gewicht, und etwas
wie die Möglichkeit, krank zu werden, drang in euer
offenes Vorgefühl. Ihr schobt es auf euer zu leichtes
Kleid, ihr spanntet den Schal um die Schultern, ihr
lieft die Allee bis zum Schluß: und dann standet ihr,
herzklopfend, in dem weiten Rondell, entschlossen mit
alledem einig zu sein. Aber ein Vogel klang und war
allein und verleugnete euch. Ach, hättet ihr müssen
gestorben sein?

Vielleicht. Vielleicht ist das neu, daß wir das
überstehen: das Jahr und die Liebe. Blüten und Früchte sind
reif, wenn sie fallen; die Tiere fühlen sich und finden
sich zueinander und sind es zufrieden. Wir aber, die wir
uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig
werden. Wir rücken unsere Natur hinaus, wir brauchen
noch Zeit. Was ist uns ein Jahr? Was sind alle? Noch eh
wir Gott angefangen haben, beten wir schon zu ihm:
laß uns die Nacht überstehen. Und dann das Kranksein.
Und dann die Liebe.

Daß Clémence de Bourges hat sterben müssen in ihrem
Aufgang. Sie, die ohne gleichen war; unter den
Instrumenten, die sie wie keine zu spielen verstand, das
schönste, selber im mindesten Klang ihrer Stimme
unvergeßlich gespielt. Ihr Mädchentum war von so hoher
Entschlossenheit, daß eine flutende Liebende diesem
auf<<927>>
kommenden Herzen das Buch Sonette zueignen
konnte, darin jeder Vers ungestillt war. Louise Labbé
fürchtete nicht, dieses Kind zu erschrecken mit der
Leidenslänge der Liebe. Sie zeigte ihr das nächtliche Steigen
der Sehnsucht; sie versprach ihr den Schmerz wie einen
größeren Weltraum; und sie ahnte, daß sie mit ihrem
erfahrenen Weh hinter dem dunkel erwarteten
zurückblieb, von dem diese Jünglingin schön war.

Mädchen in meiner Heimat. Daß die schönste von euch
im Sommer an einem Nachmittag in der verdunkelten
Bibliothek sich das kleine Buch fände, das Jan des Tournes
1556 gedruckt hat. Daß sie den kühlenden, glatten Band
mitnähme hinaus in den summenden Obstgarten oder
hinüber zum Phlox, in dessen übersüßtem Duft ein
Bodensatz schierer Süßigkeit steht. Daß sie es früh
fände. In den Tagen, da ihre Augen anfangen, auf sich
zu halten, während der jüngere Mund noch imstande
ist, viel zu große Stücke von einem Apfel abzubeißen
und voll zu sein.

Und wenn dann die Zeit der bewegteren
Freundschaften kommt, Mädchen, daß es euer Geheimnis wäre,
einander Dika zu rufen und Anaktoria, Gyrinno und Atthis.
Daß einer, ein Nachbar vielleicht, ein älterer Mann, der
in seiner Jugend gereist ist und längst als Sonderling
gilt, euch diese Namen verriete. Daß er euch manchmal
zu sich einlüde, um seiner berühmten Pfirsiche willen
oder wegen der Ridingerstiche zur Equitation oben im
weißen Gang, von denen so viel gesprochen wird, daß
man sie müßte gesehen haben.
<<928>>
Vielleicht überredet ihr ihn zu erzählen. Vielleicht ist
die unter euch, die ihn erbitten kann, die alten
Reisetagebücher hervorzuholen, wer kann es wissen?
Dieselbe, die es ihm eines Tags zu entlocken versteht, daß
einzelne Gedichtstellen der Sappho auf uns gekommen
sind, und die nicht ruht bis sie weiß, was fast ein
Geheimnis ist: daß dieser zurückgezogene Mann es liebte,
zuzeiten seine Muße an die Übertragung dieser
Versstücke zu wenden. Er muß zugeben, daß er lange nicht
mehr daran gedacht hat, und was da ist, versichert er,
sei nicht der Rede wert. Aber nun freut es ihn doch, vor
diesen arglosen Freundinnen, wenn sie sehr drängen,
eine Strophe zu sagen. Er entdeckt sogar den
griechischen Wortlaut in seinem Gedächtnis, er spricht ihn vor,
weil die Übersetzung nichts giebt, seiner Meinung nach,
und um dieser Jugend den schönen, echten Bruch der
massiven Schmucksprache zu zeigen, die in so starken
Flammen gebogen ward.

Über dem allen erwärmt er sich wieder für seine Arbeit.
Es kommen schöne, fast jugendliche Abende für ihn,
Herbstabende zum Beispiel, die sehr viel stille Nacht
vor sich haben. In seinem Kabinett ist dann lange Licht.
Er bleibt nicht immer über die Blätter gebeugt, er lehnt
sich oft zurück, er schließt die Augen über einer
wiedergelesenen Zeile, und ihr Sinn verteilt sich in seinem
Blut. Nie war er der Antike so gewiß. Fast möchte er
der Generationen lächeln, die sie beweint haben wie
ein verlorenes Schauspiel, in dem sie gerne aufgetreten
wären. Nun begreift er momentan die dynamische
Bedeutung jener frühen Welteinheit, die etwas wie ein
<<929>>
neues, gleichzeitiges Aufnehmen aller menschlichen
Arbeit war. Es beirrt ihn nicht, daß jene konsequente
Kultur mit ihren gewissermaßen vollzähligen
Versichtbarungen für viele spätere Blicke ein Ganzes zu bilden
schien und ein im Ganzen Vergangenes. Zwar ward dort
wirklich des Lebens himmlische Hälfte an die halbrunde
Schale des Daseins gepaßt, wie zwei volle Hemisphären
zu einer heilen, goldenen Kugel zusammengehen. Doch
dies war kaum geschehen, so empfanden die in ihr
eingeschlossenen Geister diese restlose Verwirklichung nur
noch als Gleichnis; das massive Gestirn verlor an
Gewicht und stieg auf in den Raum, und in seiner
goldenen Rundung spiegelte sich zurückhaltend die
Traurigkeit dessen, was noch nicht zu bewältigen war.

Wie er dies denkt, der Einsame in seiner Nacht, denkt
und einsieht, bemerkt er einen Teller mit Früchten auf
der Fensterbank. Unwillkürlich greift er einen Apfel
heraus und legt ihn vor sich auf den Tisch. Wie steht
mein Leben herum um diese Frucht, denkt er. Um alles
Fertige steigt das Ungetane und steigert sich.

Und da, über dem Ungetanen, ersteht ihm, fast zu
schnell, die kleine, ins Unendliche hinaus gespannte
Gestalt, die (nach Galiens Zeugnis) alle meinten, wenn sie
sagten: die Dichterin. Denn wie hinter den Werken
des Herakles Abbruch und Umbau der Welt
verlangend aufstand, so drängten sich, gelebt zu werden, aus
den Vorräten des Seins an die Taten ihres Herzens die
Seligkeiten und Verzweiflungen heran, mit denen die
Zeiten auskommen müssen.

Er kennt auf einmal dieses entschlossene Herz, das
be<<930>>
reit war, die ganze Liebe zu leisten bis ans Ende. Es
wundert ihn nicht, daß man es verkannte; daß man in
dieser überaus künftigen Liebenden nur das Übermaß
sah, nicht die neue Maßeinheit von Liebe und Herzleid.
Daß man die Inschrift ihres Daseins auslegte wie sie
damals gerade glaubhaft war, daß man ihr endlich den
Tod derjenigen zuschrieb, die der Gott einzeln anreizt,
aus sich hinauszulieben ohne Erwiderung. Vielleicht
waren selbst unter den von ihr gebildeten Freundinnen
solche, die es nicht begriffen: daß sie auf der Höhe ihres
Handelns nicht um einen klagte, der ihre Umarmung
offen ließ, sondern um den nicht mehr Möglichen, der
ihrer Liebe gewachsen war.

Hier steht der Sinnende auf und tritt an sein Fenster,
sein hohes Zimmer ist ihm zu nah, er möchte Sterne
sehen, wenn es möglich ist. Er täuscht sich nicht über
sich selbst. Er weiß, daß diese Bewegung ihn erfüllt,
weil unter den jungen Mädchen aus der Nachbarschaft
die eine ist, die ihn angeht. Er hat Wünsche (nicht für
sich, nein, aber für sie); für sie versteht er in einer
nächtlichen Stunde, die vorübergeht, den Anspruch der Liebe.
Er verspricht sich, ihr nichts davon zu sagen. Es
scheint ihm das Äußerste, allein zu sein und wach und
um ihretwillen zu denken, wie sehr im Recht jene
Liebende war: wenn sie wußte, daß mit der Vereinigung
nichts gemeint sein kann, als ein Zuwachs an
Einsamkeit; wenn sie den zeitlichen Zweck des Geschlechtes
durchbrach mit seiner unendlichen Absicht. Wenn sie im
Dunkel der Umarmungen nicht nach Stillung grub,
sondern nach Sehnsucht. Wenn sie es verachtete, daß von
<<931>>
Zweien einer der Liebende sei und einer Geliebter, und
die schwachen Geliebten, die sie sich zum Lager trug, an
sich zu Liebenden glühte, die sie verließen. An solchen
hohen Abschieden wurde ihr Herz zur Natur. Über dem
Schicksal sang sie den firnen Lieblinginnen ihr
Brautlied; erhöhte ihnen die Hochzeit; übertrieb ihnen den
nahen Gemahl, damit sie sich zusammennähmen für ihn
wie für einen Gott und auch noch seine Herrlichkeit
überstünden.

Einmal noch, Abelone, in den letzten Jahren fühlte ich
dich und sah dich ein, unerwartet, nachdem ich lange
nicht an dich gedacht hatte.

Das war in Venedig, im Herbst, in einem jener Salons,
in denen Fremde sich vorübergehend um die Dame des
Hauses versammeln, die fremd ist wie sie. Diese Leute
stehen herum mit ihrer Tasse Tee und sind entzückt,
sooft ein kundiger Nachbar sie kurz und verkappt nach
der Tür dreht, um ihnen einen Namen zuzuflüstern, der
venezianisch klingt. Sie sind auf die äußersten Namen
gefaßt, nichts kann sie überraschen; denn so sparsam
sie sonst auch im Erleben sein mögen, in dieser Stadt
geben sie sich nonchalant den übertriebensten
Möglichkeiten hin. In ihrem gewöhnlichen Dasein verwechseln
sie beständig das Außerordentliche mit dem
Verbotenen, so daß die Erwartung des Wunderbaren, die sie
sich nun gestatten, als ein grober, ausschweifender
Ausdruck in ihre Gesichter tritt. Was ihnen zu Hause
nur momentan in Konzerten passiert oder wenn sie
mit einem Roman allein sind, das tragen sie unter
die<<932>>
sen schmeichelnden Verhältnissen als berechtigten
Zustand zur Schau. Wie sie, ganz unvorbereitet, keine
Gefahr begreifend, von den fast tödlichen
Geständnissen der Musik sich anreizen lassen wie von körperlichen
Indiskretionen, so überliefern sie sich, ohne die
Existenz Venedigs im geringsten zu bewältigen, der
lohnenden Ohnmacht der Gondeln. Nicht mehr neue
Eheleute, die während der ganzen Reise nur gehässige
Repliken für einander hatten, versinken in
schweigsame Verträglichkeit; über den Mann kommt die
angenehme Müdigkeit seiner Ideale, während sie sich
jung fühlt und den trägen Einheimischen aufmunternd
zunickt mit einem Lächeln, als hätte sie Zähne aus
Zucker, die sich beständig auflösen. Und hört man hin,
so ergiebt es sich, daß sie morgen reisen oder
übermorgen oder Ende der Woche.

Da stand ich nun zwischen ihnen und freute mich, daß
ich nicht reiste. In kurzem würde es kalt sein. Das
weiche, opiatische Venedig ihrer Vorurteile und
Bedürfnisse verschwindet mit diesen somnolenten
Ausländern, und eines Morgens ist das andere da, das
wirkliche, wache, bis zum Zerspringen spröde,
durchaus nicht erträumte: das mitten im Nichts auf
versenkten Wäldern gewollte, erzwungene und endlich so
durch und durch vorhandene Venedig. Der
abgehärtete, auf das Nötigste beschränkte Körper, durch den
das nachtwache Arsenal das Blut seiner Arbeit trieb,
und dieses Körpers penetranter, sich fortwahrend
erweiternder Geist, der stärker war als der Duft
aromatischer Länder. Der suggestive Staat, der das Salz und
<<933>>
Glas seiner Armut austauschte gegen die Schätze der
Völker. Das schöne Gegengewicht der Welt, das bis in
seine Zierate hinein voll latenter Energien steht, die
sich immer feiner vernervten --: dieses Venedig.

Das Bewußtsein, daß ich es kannte, überkam mich
unter allen diesen sich täuschenden Leuten mit so viel
Widerspruch, daß ich aufsah, um mich irgendwie
mitzuteilen. War es denkbar, daß in diesen Sälen nicht
einer war, der unwillkürlich darauf wartete, über das
Wesen dieser Umgebung aufgeklärt zu sein? Ein
junger Mensch, der es sofort begriff, daß hier nicht ein
Genuß aufgeschlagen war, sondern ein Beispiel des
Willens, wie es nirgends anfordernder und strenger sich
finden ließ? Ich ging umher, meine Wahrheit
beunruhigte mich. Da sie mich hier unter so vielen
ergriffen hatte, brachte sie den Wunsch mit, ausgesprochen,
verteidigt, bewiesen zu sein. Die groteske Vorstellung
entstand in mir, wie ich im nächsten Augenblick in die
Hände klatschen würde aus Haß gegen das von allen
zerredete Mißverständnis.

In dieser lächerlichen Stimmung bemerkte ich sie. Sie
stand allein vor einem strahlenden Fenster und
betrachtete mich; nicht eigentlich mit den Augen, die
ernst und nachdenklich waren, sondern geradezu mit
dem Mund, der dem offenbar bösen Ausdruck meines
Gesichtes ironisch nachahmte. Ich fühlte sofort die
ungeduldige Spannung in meinen Zügen und nahm ein
gelassenes Gesicht an, worauf ihr Mund natürlich wurde
und hochmütig. Dann, nach kurzem Bedenken,
lächelten wir einander gleichzeitig zu.
<<934>>
Sie erinnerte, wenn man will, an ein gewisses
Jugendbildnis der schönen Benedicte von Qualen, die in
Baggesens Leben eine Rolle spielt. Man konnte die dunkle
Stille ihrer Augen nicht sehen ohne die klare
Dunkelheit ihrer Stimme zu vermuten. Übrigens war die
Flechtung ihres Haars und der Halsausschnitt ihres
hellen Kleides so kopenhagisch, daß ich entschlossen
war, sie dänisch anzureden.

Ich war aber noch nicht nahe genug, da schob sich
von der andern Seite eine Strömung zu ihr hin; unsere
gästeglückliche Gräfin selbst, in ihrer warmen,
begeisterten Zerstreutheit, stürzte sich mit einer Menge
Beistand über sie, um sie auf der Stelle zum Singen
abzuführen. Ich war sicher, daß das junge Mädchen sich
damit entschuldigen würde, daß niemand in der
Gesellschaft Interesse haben könne, dänisch singen zu hören.
Dies tat sie auch, sowie sie zu Worte kam. Das Gedränge
um die lichte Gestalt herum wurde eifriger; jemand
wußte, daß sie auch deutsch singe. »Und italienisch«,
ergänzte eine lachende Stimme mit boshafter
Überzeugung. Ich wußte keine Ausrede, die ich ihr hätte
wünschen können, aber ich zweifelte nicht, daß sie
widerstehen würde. Schon breitete sich eine trockene
Gekränktheit über die vom langen Lächeln
abgespannten Gesichter der Überredenden aus, schon trat die
gute Gräfin, um sich nichts zu vergeben, mitleidig und
würdig einen Schritt ab, da, als es durchaus nicht mehr
nötig war, gab sie nach. Ich fühlte, wie ich blaß wurde
vor Enttäuschung; mein Blick füllte sich mit Vorwurf,
aber ich wandte mich weg, es lohnte nicht, sie das sehn
<<935>>
zu lassen. Sie aber machte sich von den andern los und
war auf einmal neben mir. Ihr Kleid schien mich an,
der blumige Geruch ihrer Wärme stand um mich.

»Ich will wirklich singen«, sagte sie auf dänisch meine
Wange entlang, »nicht weil sie's verlangen, nicht zum
Schein: weil ich jetzt singen muß.«

Aus ihren Worten brach dieselbe böse Unduldsamkeit,
von welcher sie mich eben befreit hatte.

Ich folgte langsam der Gruppe, mit der sie sich entfernte.
Aber an einer hohen Tür blieb ich zurück und ließ die
Menschen sich verschieben und ordnen. Ich lehnte mich
an das schwarzspiegelnde Türinnere und wartete.
Jemand fragte mich, was sich vorbereite, ob man singen
werde. Ich gab vor, es nicht zu wissen. Während ich
log, sang sie schon.

Ich konnte sie nicht sehen. Es wurde allmählich Raum
um eines jener italienischen Lieder, die die Fremden
für sehr echt halten, weil sie von so deutlicher
Übereinkunft sind. Sie, die es sang, glaubte nicht daran. Sie
hob es mit Mühe hinauf, sie nahm es viel zu schwer.
An dem Beifall vorne konnte man merken, wann es zu
Ende war. Ich war traurig und beschämt. Es entstand
einige Bewegung, und ich nahm mir vor, sowie jemand
gehen würde, mich anzuschließen.

Aber da wurde es mit einemmal still. Eine Stille ergab
sich, die eben noch niemand für möglich gehalten
hätte; sie dauerte an, sie spannte sich, und jetzt erhob
sich in ihr die Stimme. (Abelone, dachte ich. Abelone.)
Diesmal war sie stark, voll und doch nicht schwer; aus
einem Stück, ohne Bruch, ohne Naht. Es war ein
unbe<<936>>
kanntes deutsches Lied. Sie sang es merkwürdig
einfach, wie etwas Notwendiges. Sie sang:

»Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht
weinend liege,
deren Wesen mich müde macht
wie eine Wiege.
Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht
meinetwillen:
wie, wenn wir diese Pracht
ohne zu stillen
in uns ertrügen?
(kurze Pause und zögernd):
Sieh dir die Liebenden an,
wenn erst das Bekennen begann,
wie bald sie lügen.«

Wieder die Stille. Gottweiß, wer sie machte. Dann
rührten sich die Leute, stießen aneinander, entschuldigten
sich, hüstelten. Schon wollten sie in ein allgemeines
verwischendes Geräusch übergehen, da brach plötzlich die
Stimme aus, entschlossen, breit und gedrängt:

»Du machst mich allein. Dich einzig kann ich vertauschen.
Eine Weile bist dus, dann wieder ist es das Rauschen,
oder es ist ein Duft ohne Rest.
Ach, in den Armen hab ich sie alle verloren,
du nur, du wirst immer wieder geboren:
weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest.«

Niemand hatte es erwartet. Alle standen gleichsam
geduckt unter dieser Stimme. Und zum Schluß war eine
solche Sicherheit in ihr, als ob sie seit Jahren gewußt hätte,
daß sie in diesem Augenblick würde einzusetzen haben.
<<937>>
Manchmal früher fragte ich mich, warum Abelone
die Kalorien ihres großartigen Gefühls nicht an Gott
wandte. Ich weiß, sie sehnte sich, ihrer Liebe alles
Transitive zu nehmen, aber konnte ihr wahrhaftiges
Herz sich darüber täuschen, daß Gott nur eine
Richtung der Liebe ist, kein Liebesgegenstand? Wußte sie
nicht, daß keine Gegenliebe von ihm zu fürchten war?
Kannte sie nicht die Zurückhaltung dieses überlegenen
Geliebten, der die Lust ruhig hinausschiebt, um uns,
Langsame, unser ganzes Herz leisten zu lassen? Oder --
wollte sie Christus vermeiden? Fürchtete sie, halben Wegs
von ihm aufgehalten, an ihm zur Geliebten zu werden?
Dachte sie deshalb ungern an Julie Reventlow?

Fast glaube ich es, wenn ich bedenke, wie an dieser
Erleichrung Gottes eine so einfältige Liebende wie Mechthild,
eine so hinreißende wie Therese von Avila, eine so wunde
wie die Selige Rose von Lima, hinsinken konnte,
nachgiebig, doch geliebt. Ach, der für die Schwachen ein
Helfer war, ist diesen Starken ein Unrecht; wo sie schon nichts
mehr erwarteten, als den unendlichen Weg, da tritt sie
noch einmal im spannenden Vorhimmel ein Gestalteter
an und verwöhnt sie mit Unterkunft und verwirrt sie mit
Mannheit. Seines starkbrechenden Herzens Linse nimmt
noch einmal ihre schon parallelen Herzstrahlen zusamm,
und sie, die die Engel schon ganz für Gott zu erhalten
hofften, flammen auf in der Dürre ihrer Sehnsucht.
<amRand> (Geliebtsein heißt aufbrennen. Lieben ist: Leuchten
mit unerschöpflichem Öle. Geliebtwerden ist vergehen,
Lieben ist dauern.) </amRand>
<<938>>
Es ist gleichwohl möglich, daß Abelone in späteren
Jahren versucht hat, mit dem Herzen zu denken, um
unauffällig und unmittelbar mit Gott in Beziehung zu
kommen. Ich könnte mir vorstellen, daß es Briefe von
ihr giebt, die an die aufmerksame innere Beschauung
der Fürstin Amalie Galitzin erinnern; aber wenn diese
Briefe an jemanden gerichtet waren, dem sie seit
Jahren nahestand, wie mag der gelitten haben unter ihrer
Veränderung. Und sie selbst: ich vermute, sie fürchtete
nichts als jenes gespenstische Anderswerden, das man
nicht merkt, weil man beständig alle Beweise dafür,
wie das Fremdeste, aus den Händen läßt.

Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die
Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende
dessen ist, der nicht geliebt werden wollte. Da er ein Kind
war, liebten ihn alle im Hause. Er wuchs heran, er
wußte es nicht anders und gewöhnte sich in ihre
Herzweiche, da er ein Kind war.

Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen.
Er hätte es nicht sagen können, aber wenn er draußen
herumstrich den ganzen Tag und nicht einmal mehr
die Hunde mithaben wollte, so wars, weil auch sie ihn
liebten; weil in ihren Blicken Beobachtung war und
Teilnahme, Erwartung und Besorgtheit; weil man
auch vor ihnen nichts tun konnte, ohne zu freuen oder
zu kränken. Was er aber damals meinte, das war die
innige Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal
früh in den Feldern mit solcher Reinheit ergriff, daß er
zu laufen begann, um nicht Zeit und Atem zu haben,
<<939>>
mehr zu sein als ein leichter Moment, in dem der
Morgen zum Bewußtsein kommt.

Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens
breitete sich vor ihm aus. Unwillkürlich verließ er den
Fußpfad und lief weiter feldein, die Arme ausgestreckt,
als könnte er in dieser Breite mehrere Richtungen auf
einmal bewältigen. Und dann warf er sich irgendwo
hinter eine Hecke, und niemand legte Wert auf ihn.
Er schälte sich eine Flöte, er schleuderte einen Stein
nach einem kleinen Raubtier, er neigte sich vor und
zwang einen Käfer umzukehren: dies alles wurde kein
Schicksal, und die Himmel gingen wie über Natur.

Schließlich kam der Nachmittag mit lauter Einfällen;
man war ein Bucanier auf der Insel Tortuga, und es
lag keine Verpflichtung darin, es zu sein; man
belagerte Campêche, man eroberte Vera-Cruz; es war möglich,
das ganze Heer zu sein oder ein Anführer zu Pferd oder
ein Schiff auf dem Meer: je nachdem man sich fühlte.
Fiel es einem aber ein, hinzuknien, so war man rasch
Deodat von Gozon und hatte den Drachen erlegt und
vernahm, ganz heiß, daß dieses Heldentum hoffährtig
war, ohne Gehorsam. Denn man ersparte sich nichts,
was zur Sache gehörte. Soviel Einbildungen sich aber
auch einstellten, zwischendurch war immer noch Zeit,
nichts als ein Vogel zu sein, ungewiß welcher. Nur daß
der Heimweg dann kam.

Mein Gott, was war da alles abzulegen und zu
vergessen; denn richtig vergessen, das war nötig; sonst
verriet man sich, wenn sie drängten. Wie sehr man
auch zögerte und sich umsah, schließlich kam doch der
<<940>>
Giebel herauf. Das erste Fenster oben faßte einen ins
Auge, es mochte wohl jemand dort stehen. Die Hunde,
in denen die Erwartung den ganzen Tag angewachsen
war, preschten durch die Büsche und trieben einen
zusammen zu dem, den sie meinten. Und den Rest tat
das Haus. Man mußte nur eintreten in seinen vollen
Geruch, schon war das Meiste entschieden.
Kleinigkeiten konnten sich noch ändern; im ganzen war man
schon der, für den sie einen hier hielten; der, dem sie
aus seiner kleinen Vergangenheit und ihren eigenen
Wünschen längst ein Leben gemacht hatten; das
gemeinsame Wesen, das Tag und Nacht unter der
Suggestion ihrer Liebe stand, zwischen ihrer Hoffnung und
ihrem Argwohn, vor ihrem Tadel oder Beifall.

So einem nützt es nichts, mit unsäglicher Vorsicht die
Treppen zu steigen. Alle werden im Wohnzimmer
sein, und die Türe muß nur gehn, so sehen sie hin. Er
bleibt im Dunkel, er will ihre Fragen abwarten. Aber
dann kommt das Ärgste. Sie nehmen ihn bei den
Händen, sie ziehen ihn an den Tisch, und alle, soviel ihrer da
sind, strecken sich neugierig vor die Lampe. Sie haben
es gut, sie halten sich dunkel, und auf ihn allein fällt,
mit dem Licht, alle Schande, ein Gesicht zu haben.

Wird er bleiben und das ungefähre Leben nachlügen, das
sie ihm zuschreiben, und ihnen allen mit dem ganzen
Gesicht ähnlich werden? Wird er sich teilen zwischen der
zarten Wahrhaftigkeit seines Willens und dem plumpen
Betrug, der sie ihm selber verdirbt? Wird er es aufgeben,
das zu werden, was denen aus seiner Familie, die nur
noch ein schwaches Herz haben, schaden könnte?
<<941>>
Nein, er wird fortgehen. Zum Beispiel während sie alle
beschäftigt sind, ihm den Geburtstagstisch zu bestellen
mit den schlecht erratenen Gegenständen, die wieder
einmal alles ausgleichen sollen. Fortgehen für immer.
Viel später erst wird ihm klar werden, wie sehr er sich
damals vornahm, niemals zu lieben, um keinen in die
entsetzliche Lage zu bringen, geliebt zu sein. Jahre
hernach fällt es ihm ein und, wie andere Vorsätze, so ist
auch dieser unmöglich gewesen. Denn er hat geliebt und
wieder geliebt in seiner Einsamkeit; jedesmal mit
Verschwendung seiner ganzen Natur und unter unsäglicher
Angst um die Freiheit des andern. Langsam hat er
gelernt, den geliebten Gegenstand mit den Strahlen seines
Gefühls zu durchscheinen, statt ihn darin zu verzehren.
Und er war verwöhnt von dem Entzücken, durch die
immer transparentere Gestalt der Geliebten die Weiten
zu erkennen, die sie seinem unendlichen Besitzenwollen
auftat.

Wie konnte er dann nächtelang weinen vor Sehnsucht,
selbst so durchleuchtet zu sein. Aber eine Geliebte, die
nachgiebt, ist noch lang keine Liebende. O, trostlose
Nächte, da er seine flutenden Gaben in Stücken
wiederempfing, schwer von Vergänglichkeit. Wie gedachte er
dann der Troubadours, die nichts mehr fürchteten als
erhört zu sein. Alles erworbene und vermehrte Geld gab
er dafür hin, dies nicht noch zu erfahren. Er kränkte sie
mit seiner groben Bezahlung, von Tag zu Tag bang, sie
könnten versuchen, auf seine Liebe einzugehen. Denn
er hatte die Hoffnung nicht mehr, die Liebende zu
erleben, die ihn durchbrach.
<<942>>
Selbst in der Zeit, da die Armut ihn täglich mit neuen
Härten erschreckte, da sein Kopf das Lieblingsding des
Elends war und ganz abgegriffen, da sich überall an
seinem Leibe Geschwüre aufschlugen wie Notaugen gegen
die Schwärze der Heimsuchung, da ihm graute vor dem
Unrat, auf dem man ihn verlassen hatte, weil er
seinesgleichen war: selbst da noch, wenn er sich besann, war
es sein größestes Entsetzen, erwidert worden zu sein.
Was waren alle Finsternisse seither gegen die dichte
Traurigkeit jener Umarmungen, in denen sich alles
verlor. Wachte man nicht auf mit dem Gefühl, ohne
Zukunft zu sein? Ging man nicht sinnlos umher ohne
Anrecht auf alle Gefahr? Hatte man nicht hundertmal
versprechen müssen, nicht zu sterben? Vielleicht war es
der Eigensinn dieser argen Erinnerung, die sich von
Wiederkunft zu Wiederkunft eine Stelle erhalten wollte, was
sein Leben unter den Abfällen währen ließ. Schließlich
fand man ihn wieder. Und erst dann, erst in den
Hirtenjahren, beruhigte sich seine viele Vergangenheit.

Wer beschreibt, was ihm damals geschah? Welcher
Dichter hat die Überredung, seiner damaligen Tage
Länge zu vertragen mit der Kürze des Lebens? Welche
Kunst ist weit genug, zugleich seine schmale,
vermantelte Gestalt hervorzurufen und den ganzen Überraum
seiner riesigen Nächte.

Das war die Zeit, die damit begann, daß er sich
allgemein und anonym fühlte wie ein zögernd Genesender.
Er liebte nicht, es sei denn, daß er es liebte, zu sein. Die
niedrige Liebe seiner Schafe lag ihm nicht an; wie Licht,
das durch Wolken fällt, zerstreute sie sich um ihn her
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und schimmerte sanft über den Wiesen. Auf der
schuldlosen Spur ihres Hungers schritt er schweigend über die
Weiden der Welt. Fremde sahen ihn auf der Akropolis,
und vielleicht war er lange einer der Hirten in den Baux
und sah die versteinerte Zeit das hohe Geschlecht
überstehen, das mit allem Erringen von Sieben und Drei die
sechzehn Strahlen seines Sterns nicht zu bezwingen
vermochte. Oder soll ich ihn denken zu Orange, an das
ländliche Triumphtor geruht? Soll ich ihn sehen im
seelengewohnten Schatten der Allyscamps, wie sein Blick
zwischen den Gräbern, die offen sind wie die Gräber
Auferstandener, eine Libelle verfolgt?

Gleichviel. Ich seh mehr als ihn, ich sehe sein Dasein,
das damals die lange Liebe zu Gott begann, die stille,
ziellose Arbeit. Denn über ihn, der sich für immer hatte
erhalten wollen, kam noch einmal das anwachsende
Nichtanderskönnen seines Herzens. Und diesmal hoffte
er auf Erhörung. Sein ganzes, im langen Alleinsein
ahnend und unbeirrbar gewordenes Wesen versprach ihm,
daß jener, den er jetzt meinte, zu lieben verstünde mit
durchdringender, strahlender Liebe. Aber während er
sich sehnte, endlich so meisterhaft geliebt zu sein,
begriff sein an Fernen gewohntes Gefühl Gottes äußersten
Abstand. Nächte kamen, da er meinte, sich auf ihn
zuzuwerfen in den Raum; Stunden voller Entdeckung, in
denen er sich stark genug fühlte, nach der Erde zu
tauchen, um sie hinaufzureißen auf der Sturmflut seines
Herzens. Er war wie einer, der eine herrliche Sprache
hört und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. Noch
stand ihm die Bestürzung bevor, zu erfahren, wie schwer
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diese Sprache sei; er wollte es nicht glauben zuerst, daß
ein langes Leben darüber hingehen könne, die ersten,
kurzen Scheinsätze zu bilden, die ohne Sinn sind. Er
stürzte sich ins Erlernen wie ein Läufer in die Wette;
aber die Dichte dessen, was zu überwinden war,
verlangsamte ihn. Es war nichts auszudenken, was
demütigender sein konnte als diese Anfängerschaft. Er hatte
den Stein der Weisen gefunden, und nun zwang man
ihn, das rasch gemachte Gold seines Glücks
unaufhörlich zu verwandeln in das klumpige Blei der Geduld. Er,
der sich dem Raum angepaßt hatte, zog wie ein Wurm
krumme Gänge ohne Ausgang und Richtung. Nun, da
er so mühsam und kummervoll lieben lernte, wurde ihm
gezeigt, wie nachlässig und gering bisher alle Liebe
gewesen war, die er zu leisten vermeinte. Wie aus keiner
etwas hatte werden können, weil er nicht begonnen
hatte, an ihr Arbeit zu tun und sie zu verwirklichen.

In diesen Jahren gingen in ihm die großen
Veränderungen vor. Er vergaß Gott beinah über der harten
Arbeit, sich ihm zu nähern, und alles, was er mit der Zeit
vielleicht bei ihm zu erreichen hoffte, war »sa patience
de supporter une ame«. Die Zufälle des Schicksals, auf
die die Menschen halten, waren schon längst von ihm
abgefallen, aber nun verlor, selbst was an Lust und
Schmerz notwendig war, den gewürzhaften
Beigeschmack und wurde rein und nahrhaft für ihn. Aus den
Wurzeln seines Seins entwickelte sich die feste,
überwinternde Pflanze einer fruchtbaren Freudigkeit. Er
ging ganz darin auf, zu bewältigen, was sein
Binnenleben ausmachte, er wollte nichts überspringen, denn er
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zweifelte nicht, daß in alledem seine Liebe war und
zunahm. Ja, seine innere Fassung ging so weit, daß er
beschloß, das Wichtigste von dem, was er früher nicht
hatte leisten können, was einfach nur durchwartet
worden war, nachzuholen. Er dachte vor allem an die
Kindheit, sie kam ihm, je ruhiger er sich besann, desto
ungetaner vor; alle ihre Erinnerungen hatten das Vage von
Ahnungen an sich, und daß sie als vergangen galten,
machte sie nahezu zukünftig. Dies alles noch einmal
und nun wirklich auf sich zu nehmen, war der Grund,
weshalb der Entfremdete heimkehrte. Wir wissen nicht,
ob er blieb; wir wissen nur, daß er wiederkam.

Die die Geschichte erzählt haben, versuchen es an
dieser Stelle, uns an das Haus zu erinnern, wie es war;
denn dort ist nur wenig Zeit vergangen, ein wenig
gezählter Zeit, alle im Haus können sagen, wieviel. Die
Hunde sind alt geworden, aber sie leben noch. Es wird
berichtet, daß einer aufheulte. Eine Unterbrechung
geht durch das ganze Tagwerk. Gesichter erscheinen an
den Fenstern, gealterte und erwachsene Gesichter von
rührender Ähnlichkeit. Und in einem ganz alten schlägt
plötzlich blaß das Erkennen durch. Das Erkennen?
Wirklich nur das Erkennen? -- Das Verzeihen. Das
Verzeihen wovon? -- Die Liebe. Mein Gott: die Liebe.

Er, der Erkannte, er hatte daran nicht mehr gedacht,
beschäftigt wie er war: daß sie noch sein könne. Es ist
begreiflich, daß von allem, was nun geschah, nur noch
dies überliefert ward: seine Gebärde, die unerhörte
Gebärde, die man nie vorher gesehen hatte; die Gebärde
des Flehens, mit der er sich an ihre Füße warf, sie
be<<946>>
schwörend, daß sie nicht liebten. Erschrocken und
schwankend hoben sie ihn zu sich herauf. Sie legten sein
Ungestüm nach ihrer Weise aus, indem sie verziehen.
Es muß für ihn unbeschreiblich befreiend gewesen sein,
daß ihn alle mißverstanden, trotz der verzweifelten
Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte
er bleiben. Denn er erkannte von Tag zu Tag mehr,
daß die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so eitel waren
und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast
mußte er lächeln, wenn sie sich anstrengten, und es
wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten.

Was wußten sie, wer er war. Er war jetzt furchtbar
schwer zu lieben, und er fühlte, daß nur Einer dazu
imstande sei. Der aber wollte noch nicht.
Ende der Aufzeichnungen

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tg, 12-06-2006