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Fakultät im Nationalsozialismus

Matthias Meusch Die Medizinische Fakultät Gießen im Nationalsozialismus (1933-1945) Wie an anderen Universitäten und Fakultäten auch, begann die Zeit des "Dritten Reiches" in Gießen mit der Säuberung des Lehrkörpers von rassisch und politisch unerwünschten Personen.

Aus der Medizinischen Fakultät wurden nach Erlaß des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1933 die Professoren Egon Pribram (Gynäkologe) und Franz Soetbeer (Internist) sowie der Privatdozent Alfred Storch (Psychiater) entlassen. 

Pribram war nach seiner Entlassung in Prag, Schanghai und schließlich nach dem Krieg in den USA tätig, Soetbeer blieb in Gießen, nahm sich 1943 in Gestapo-Haft das Leben, Storch wanderte in die Schweiz aus und wurde von der Gießener Medizinischen Fakultät 1958 zum Honorarprofessor ernannt. Entlassen wurden außerdem Assistenten, Laboranten, Angestellte und Arbeiter der Kliniken und Institute. Dem bereits emeritierten Pharmakologen Julius Geppert wurde als "Halbjuden" die Lehrbefugnis entzogen. Auch jüdische oder wegen ihrer politischen Auffassungen unerwünschte Studenten wurden in der Folgezeit mit Hilfe von Verordnungen und Gesetzen, wie dem Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Hochschulen vom 25.4.1933 von der Universität verdrängt bzw. ferngehalten.

Die Medizinische Fakultät wurde im "Dritten Reich" zur tonangebenden Instanz an der Universität Gießen. Ab dem WS 1938/39 fungierten mit den Professoren Adolf Seiser (Hygiene; schon 1920, dann wieder 1933 in die NSDAP eingetreten), Heinrich-Wilhelm Kranz (Erb- und Rassenpflege) und Alfred Brüggemann (HNO) ausschließlich Mediziner als Rektoren. Auch die Leiter des NS-Dozentenbundes wurden ab dem WS 1936/37 von der Medizinischen Fakultät gestellt (nacheinander der Dermatologe Walther Schultze, der Anatom Enno Freerksen, der Rassenkundler H.-W. Kranz, der Ophthalmologe Wolfgang Riehm und der Hygieniker Erhard Haag; bereits 1935 war der Chirurg Otfried Timpe, NSDAP-Mitglied seit 1929, stellvertretender Dozentenbundsführer gewesen). 

Noch 1933 oder bald danach traten alle Fakultätsmitglieder in die Partei, eine ihrer Gliederungen oder angeschlossenen Verbände ein. Insgesamt gehörten 56,3% aller Professoren der Fakultät der NSDAP an, von den nach 1933 nach Gießen Berufenen sogar 69,4%. Die Mehrzahl der Ärzte der Medizinischen Fakultät war Mitglied der SA, mindestens sechzehn waren in der SS. In Partei, SA und SS waren die Angehörigen der Medizinischen Fakultät - gemessen an ihrem Anteil am Gesamtlehrkörper der Universität - deutlich überrepräsentiert.

Zur Zeit der "Machtergreifung" 1933 gab es nur einen

Brief Adolf Hitlers an einen Giessener Professor
Professor an der Medizinischen Fakultät, der schon vor 1933 der NSDAP beigetreten war, den Direktor des Hygienischen Instituts, Philalethes Kuhn. Kuhn (1870-1937), seit 1905 Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene und seit 1926 Professor in Gießen, wurde 1935 vom Rektor der Gießener Universität, Gerhard Pfahler, als "Vorkämpfer des Nationalsozialismus an unserer Universität" bezeichnet. Auf Antrag der Universitätsführung schickte Adolf Hitler Kuhn zu dessen Emeritierung ein persönliches Dankschreiben. Der Dekan der Medizinischen Fakultät, der Chirurg Albert W. Fischer, schrieb in einem Brief an den Rektor der Universität im Februar 1935, die Fakultät verehre "in Professor Kuhn einen der ältesten Vorkämpfer für das dritte Reich an der hiesigen Hochschule".

Kuhn und seine Mitarbeiter, wie zum Beispiel der Gynäkologe

Giessener Dissertationen zum Thema Rassenhygiene
Arthur Wießmann (1907-1952), bereiteten die rassenhygienischen Maßnahmen der Nationalsozialisten vor. So verfaßte Wießmann, Kreisamtsleiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP für den Kreis Wetterau, später auch für Gießen, seit 1932 Mitglied der NSDAP und Brigadearzt und Hauptsturmführer der SA, bereits 1932 bei Kuhn seine Dissertation Über die Sterilisierung Minderwertiger in Deutschland. Später half er als Dozent und Oberarzt der Frauenklinik bei der Verwirklichung seiner Überlegungen durch die Zwangssterilisation von Frauen auf der Grundlage des am 1.1.1934 in Kraft getretenen Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses selbst mit (für die Zwangssterilisation von Männern war die Chirurgische Klinik zuständig). Zwischen 1934 und 1939/40 wurden in Gießen mindestens 1224 Personen (634 Frauen und 590 Männer) zwangssterilisiert.

Kuhn war es auch, der dem Gießener Augenarzt Heinrich Wilhelm Kranz (1897-1945) in seinem Institut eine erste Arbeitsmöglichkeit an der Universität bot, aus der 1936 auf Antrag der Fakultät das Institut für Erb- und Rassenpflege hervorging, das 1938 Bestandteil der Universität wurde. Untergebracht war es im heute noch erhaltenen ehemaligen Isolierhaus der Kinderklinik in der Friedrichstraße in unmittelbarer Nachbarschaft der Augenklinik, das der damalige Direktor der Kinderklinik und SS-Mann, Johann Duken, bereitwillig zur Verfügung gestellt hatte. Kranz, ebenfalls schon vor 1933 Mitglied der NSDAP, außerdem Beisitzer am Darmstädter Erbgesundheitsobergericht und Leiter des Rassenpolitischen Amtes des Gaues Hessen-Nassau, wurde 1937 zum außerordentlichen Professor und 1940 zum Ordinarius ernannt. Von 1940 bis zu seinem Wechsel nach Frankfurt Ende 1942 war Kranz, einer der fanatischsten "Rassenkundler" des "Dritten Reichs", Rektor der Universität Gießen.  
Sein Institut hatte nach eigenen Angaben drei Aufgaben: rassen- und bevölkerungspolitische Schulung und Propaganda, rassenhygienische Beratung und Gutachtertätigkeit und wissenschaftliche Erb- und Rassenforschung. Neben Vorträgen über das Soldatentum auf rassischer Grundlage oder der Betreuung von Dissertationen über Rasse und Verbrechen und anderes gehörte dazu vor allem auch die "erbbiologische Bestandsaufnahme" der Bevölkerung. Bereits 1940 hatte man 18.000 "Sippen" und über 500.000 Personen erfaßt. Schon 1933 sprach Kranz vom "Millionenheer der minderwertigen und asozialen Elemente". Zusammen mit dem Medizinstatistiker Siegfried Koller (geb. 1908) verfaßte er das dreiteilige Werk Die Gemeinschaftsunfähigen, mit dem er die Vererbbarkeit von "Asozialität" in sogenannten "Psychopathensippen" beweisen zu können glaubte. Durch einen ebenfalls in dem Werk enthaltenen Vorschlag zu einem Gesetz über die Aberkennung der völkischen Ehrenrechte zum Schutze der Volksgemeinschaft gedachte er zur "Lösung des Asozialenproblems" beizutragen.

Neben diesen rassenhygienischen Auswüchsen arrangierten sich die Fakultätsmitglieder größtenteils mit den geänderten Bedingungen, organisierten Semesterappelle, leisteten ihre Dienste für Partei, SA oder einen der anderen zahlreichen Verbände ab, versuchten mit den besonders im Krieg immer knapper werdenden Ressourcen an Geld, Sachmitteln und Personal auszukommen und hielten Vorlesungen über Wehrchemie, Wehrpathologie oder Wehrchirurgie. Auch Zeichen von Widerstand und Resistenz waren erkennbar, wenn beispielsweise Mediziner sich an ihre ärztliche Pflicht erinnerten und "Fremdvölkischen" und "Nichtariern" die gleiche Behandlung zukommen ließen wie Deutschen und "Ariern".

Ein Mann verdient hervorgehoben zu werden: der Direktor des Anatomischen Instituts, Ferdinand Wagenseil (1887-1967), eines der sehr wenigen Mitglieder der Fakultät, das nicht der NSDAP angehörte. Ein Gießener Arzt, der als Halbjude den Verfolgungsmaßnahmen der Nazis ausgesetzt gewesen war, bezeichnete Wagenseil als "Antinazi wie mir kein zweiter in all den Jahren begegnet ist". Auch zahlreiche andere Personen attestierten Wagenseil "einen stillen und hartnäckigen Widerstand gegen den Nationalsozialismus, der einfach von dem Wesen eines aufrechten Mannes ausströmte". So übte er in seinen Vorlesungen offen Kritik am Regime und half zahlreichen rassisch und politisch Verfolgten. Trotz der Aufforderung durch den Führer des Gießener Dozentenbundes, in die Partei einzutreten, weigerte sich Wagenseil beharrlich, diesen Schritt zu tun. Durch die Gießener Spruchkammer zunächst als "Mitläufer" eingestuft, galt er nach einem neuen Verfahren aufgrund des von ihm geleisteten Widerstands als "Entlasteter". Nach Kriegsende war er maßgeblich am Wiederaufbau der Kliniken und Institute, der Fakultät und der Universität beteiligt.

In den alliierten Bombenangriffen seit Ende 1944 wurde der Großteil der Kliniken und Institute so zerstört, daß sie in andere Gebäude innerhalb und außerhalb Gießen, nach Lich, Kloster Arnsburg, Hungen, Laubach, Bad Nauheim, Gedern, Obbornhofen, Elgershausen und auf den Schiffenberg ausgelagert werden mußten. Viele Mitglieder der Fakultät wurden nach der Besetzung durch die Amerikaner wegen ihrer Mitgliedschaft in der Partei und anderen nationalsozialistischen Organisationen entlassen. Den meisten gelang es jedoch, mit Lizenzen der Militärregierung, des Hessischen Innenministeriums oder der Ärztekammer zunächst weiterzuarbeiten und schließlich wieder fest angestellt zu werden. Nur wenige, in erheblichem Maße Belastete wurden nicht mehr in die Gießener Fakultät aufgenommen. Im August 1948 lehnte die Fakultät beispielsweise die Wiedereinstellung des ehemaligen Ordinarius für Pädiatrie, der seit 1933 Mitglied der SS gewesen war, mit der Begründung ab, man sei bereits als "Nazi-Fakultät" verschrieen, so daß die Aufnahme weiterer "Mitläufer" in den Lehrkörper nicht in Frage komme. Diese Entwicklung jedoch war beinahe zwangsläufig, da in den Entnazifizierungsverfahren der weitaus größte Teil der Gießener Fakultätsmitglieder, auch ehemalige Angehörige der SS, in die Gruppen IV (Mitläufer) und V (Entlastete) eingestuft wurde.

Nachdem die Universität von der Militärregierung geschlossen worden war, erlebte die Medizinische Fakultät ihre Wiederbelebung in der 1950 gegründeten Akademie für medizinische Forschung und Fortbildung innerhalb der gleichzeitig eröffneten Justus-Liebig Hochschule, die in der seit 1946 bestehenden Hochschule für Bodenkultur und Veterinärmedizin ihren Vorläufer hatte. 1957 wurde dann zum 350-jährigen Jubiläum der ehemaligen Ludwigs-Universität aus der Justus-Liebig Hochschule die Justus-Liebig Universität.

Dr. Matthias Meusch, früher Institut für Geschichte der Medizin, JLU Gießen

Bildquelle: Universitätsarchiv

Anmerkung: Das Institut für Geschichte der Medizin hat Mitte der 1990er Jahre mit Unterstützung des Fachbereichsrats begonnen, die Fakultätsgeschichte in der NS-Zeit zu erforschen. Dazu wurde eine besondere Stelle eingerichtet. Dieser Artikel stellt eine Kurzfassung bisheriger Ergebnisse dar, die damals speziell für die Darstellung des Fachbereichs im Internet verfaßt wurde und seither publiziert ist.

Weiteres siehe Publikationsliste des Inst. f. Geschichte der Medizin.