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„Von Open Access zum Heidelberger Appell“

von Fabian Pingel

Kurzüberblick
Hinter dem Stichwort „Open Access“ steht die Idee, wissenschaftliche Texte für Interessierte frei zugänglich zu machen. Sie geht bis in die frühen Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts zurück. Im Jahr 2003 unterzeichneten namhafte nationale und internationale Forschungsorganisationen und Universitäten, darunter die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Hochschulrektorenkonferenz, die Max-Planck-Gesellschaft und die Fraunhofer-Gesellschaft die „Berliner Erklärung“, in der sie das Ziel formulierten, möglichst alle wissenschaftlichen Publikationen frei im Internet zugänglich zu machen und so die Möglichkeit einer „umfassenden und interaktiven Repräsentation des menschlichen Wissens, einschließlich des kulturellen Erbes“, zu realisieren. Inzwischen sind verschiedene Hochschulen dazu übergegangen, ihren Professoren und Mitarbeitern die generelle Publikation unter „Open Access“ nahezulegen.
Unter anderem hiergegen richten sich die Unterzeichner des „Heidelberger Appells“. Sie sehen in der Vorgabe der Institutionen, unter Open Access zu publizieren, einen ungerechtfertigten Eingriff in die grundgesetzlich verbürgte Wissenschafts- und Kunstfreiheit. Diesen sehen sie auch in der Verbreitung von Büchern oder anderem urheberrechtlich geschützten Material durch die Plattformen Google Books, Youtube und Co, ohne zwischen den einzelnen Phänomenen stärker zu differenzieren.

Vom „offenen“ Archiv zu „Open Access“
Anfänge der „Open Access“-Bewegung finden sich – wenn auch noch nicht unter diesem Begriff – in den frühen Neunziger Jahren. 1991 ging der Server „ArXiv“ am Los Alamos National Laboratory (LAN-L) an den Start, um Nachdrucke von Physik-Publikationen frei zugänglich zu machen. Der Initiator des Projektes, Paul Ginsparg wird von der deutschen Webseite der „Open Access“-Initiative als Gründer der OA-Bewegung geführt. Weitere Projekte zur Digitalisierung wissenschaftlicher Archive folgten. Um eine Verknüpfung der verschiedenen digitalen Archive und vor allem die serverübergreifende Suche in den Metadaten der Dokumente setzte sich die 1999 gegründete „Open Archive Initiative“ (OIA) (http://www.openarchives.org/) ein. Im Rahmen der „Budapest Open Access Initiative“ schlossen sich im Jahr 2001 internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen mit der Forderung nach freiem unentgeltlichem Zugang zur wissenschaftlichen Fachzeitschriftenliteratur in allen akademischen Feldern. 2003 wurde im Rahmen einer Fachtagung die „Berliner Erklärung über offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen“ von Vertretern namhafter Forschungseinrichtungen und -organisationen unterzeichnet. Seither haben sich dem Aufruf zahlreiche weitere Institutionen angeschlossen.

Argumente für „Open Access“
Mittels Open Access soll – so schreibt es die Berliner Erklärung – die Möglichkeiten des Internets genutzt werden, um eine umfassende und interaktive Repräsentation „des menschlichen Wissens, einschließlich des kulturellen Erbes, bei gleichzeitiger Gewährleistung eines weltweiten Zugangs“ zu ermöglichen. Nach den Wünschen der Unterzeichner sollen möglichst alle wissenschaftlichen Publikationen unter Open Access-Lizenz veröffentlicht und frei im Internet zugänglich gemacht werden.
Die Befürworter von Open Access richten sich nicht zuletzt gegen das Gefühl einer „Enteignung“ von Wissenschaftlern durch Wissenschaftsverlage, vor allem in den so genannten STM-Disziplinen (Science, Technology, Medicine). Die einflussreichen Verlage würden ihre Machtposition als „Gatekeeper“ ausnutzen und den Steuerzahler gleich dreifach zur Kasse bitten, wie Michael Spielkamp und Florian Cramer ausführen: „[E]inmal, indem sie die Wissenschaftler an Universitäten und anderen öffentlichen Forschungseinrichtungen finanzieren, dann noch einmal, wenn sie für die Bibliotheksetats aufkommen, aus denen die Abonnements bezahlt werden müssen. Zum dritten, weil Wissenschaftler die Qualitätskontrolle durch den so genannten Peer Review, also die Begutachtung der Artikel, ebenso übernehmen wie in inzwischen fast allen Fällen das Setzen und Layouten ihrer Artikel.“ In der Regel erhielten weder Autor noch Gutachter eine Vergütung für ihre Arbeit, zugleich seien die Preise für viele Zeitschriftenabos in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen und hätten bereits viele Bibliotheken zum Abbestellen von Zeitschriften gezwungen. Dies bedeutet zum einen eine Verringerung der verfügbaren Quellen für den einzelnen Wissenschaftler und damit eine potentielle Verschlechterung der wissenschaftlichen Arbeit. Zugleich stärkt es die Anbieter der großen, etablierten Zeitschriften.

Kritik an Open Access
Kritiker von Open Access – zu deren prominenten Wortführern zählt der Heidelberger Philologe und Literaturwissenschaftler Roland Reuß – sehen in der Berliner Erklärung und der Forderung zahlreicher Hochschulen und Forschungseinrichtungen an ihre Mitarbeiter, ihre Werke unter Open Access zu publizieren, ihrerseits eine „kollektive Enteignung“ – und zwar des einzelnen Wissenschaftlers durch seinen Arbeitgeber. In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wirft Reuß dem Wissenschaftsrat, der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) und der Kultusministerkonferenz der Länder vor, eine „heimliche technokratische Machtergreifung“ zu betreiben – unter partieller Beteiligung der „unkundigen und hilflosen Opfer, der Wissenschaftler“. Er sieht darin einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit und befürchtet neben dem Niedergang des deutschen Verlagswesens den Weg hin zu einem „staatsmonopolistischen Verwertungskreislauf“ wissenschaftlicher Publikationen. Zugleich argumentiert Reuß, dass Open Access-Publikationen in der Gesamtkalkulation keineswegs günstiger seien als die klassischen Fachzeitschriften und befürchtet eine Verschlechterung der Qualität der Publikationen.

Rundumschlag gegen Open Access, Google Books und Youtube
Unter dem Titel „Für Publikationsfreiheit und die Wahrung der Urheberrechte“ veröffentlichten die Verleger Manfred Meiner, Vittorio Klostermann und KD Wolff gemeinsam mit Reuß im März 2009 den so genannten „Heidelberger Appell“, in welchem sie die politischen Entscheidungsträger auffordern, „das bestehende Urheberrecht, die Publikationsfreiheit und die Freiheit von Forschung und Lehre entschlossen und mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu verteidigen.“ Zu den Unterzeichnern zählen unter anderem zahlreiche Verleger, Schriftsteller und Wissenschaftler, etwa Michael Naumann, Herausgeber der „Zeit“ oder Günter Grass. Innerhalb eines Monats unterzeichneten mehr als 1000 Menschen den Appell.
Dieser richtet sich nicht nur gegen Open Access – der Begriff selbst wird noch nicht einmal verwendet - , sondern thematisiert eine Vielzahl an Bedenken im Zusammenhang mit den neuen Medien. Eingriffe der „Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen“ in die Presse- und Publikationsfreiheit werden ebenso kritisiert wie das Einscannen und Onlinestellen von Werken durch Google Books und die Veröffentlichung urheberrechtlich geschützten Materials auf die Videoplattform Youtube. Die thematische Verknüpfung der zunächst einmal völlig unterschiedlichen Themen Open Access, Google Books und Urheberrechtsverletzungen durch User Uploads auf Youtube und Co findet sich auch an anderen Stellen, so etwa in einem taz-Artikel von Rudolf Walther, der mit dem polemischen Fazit schließt, die „Google-Piraterie“ und der „’Open-acces’-Schwindel“ seien gefährlicher als die Piraterie entlang der somalischen Küste.

Diskussion zwischen Differenzierung und Verallgemeinerung
Die relativ undifferenzierte Kritik an den sehr unterschiedlichen Thematiken Open Access, Google Books und Youtube ruft seit der Veröffentlichung des Aufrufs immer wieder kritische Stimmen auf den Plan. So bemerken Spielkamp und Cramer in der „Frankfurter Rundschau“: „Google Books hat aber mit Open Access etwa so viel zu tun wie eine Buchclub-Drückerkolonne mit einer öffentlichen Bibliothek.“
Google scannt massenhaft Bücher, teilweise komplette Bibliotheken, und macht sie online zugänglich. Bereits vergriffene Bücher bietet das Unternehmen als Nachdruck „On Demand“ an – gegen eine finanzielle Beteiligung der Verlage, in denen das Buch ursprünglich erschienen ist. Problematisch am Vorgehen von Google ist die angewendete „Einspruchslösung“: Google scannt und veröffentlicht die Bücher zunächst ohne Genehmigung des Rechteinhabers, nimmt sie jedoch wieder aus dem Netz, wenn dieser in den USA Einspruch dagegen einlegt. Mit dem deutschen Urheberrecht, das eine Genehmigung vor der eigenmächtigen Online-Veröffentlichung der Bücher vorsieht, ist ein solches Vorgehen nur schwer vereinbar. Youtube als eine Plattform, auf der jedermann ohne vorherige Kontrolle Videomaterial einstellen kann, erscheint nicht minder problematisch.
Dabei sei „die Open-Access-Bewegung in den Wissenschaften aus einer Not heraus entstanden (…) - und einer paradoxen Situation, die nicht im Sinne irgendwelcher Urheber war und ist“, bemerkt Matthias Spielkamp in einem lesenswerten Essay auf perlentaucher.de. So verlangten die meisten großen Wissenschaftsverlage von den publizierenden Wissenschaftlern die exklusiven Nutzungsrechte und schlössen eine Zweitverwertung oftmals aus. Open Access würde den einzelnen Wissenschaftler folglich nicht „enteignen“, sondern ihm die uneingeschränkte Weiternutzung seiner eigenen Werke erst ermöglichen.

Trotz Bedenken gegen Google: Einigung durch die VG Wort
Trotz der schwerwiegenden Bedenken gegen das Vorgehen von Google, durch das massenhafte Scannen von Büchern vollendete Tatsachen zu geschaffen und sich selbst eine uneingeschränkte Monopolstellung als „Buchsuchmaschine“ zu sichern, entschloss sich die Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort) zu einer Einigung mit dem Suchmaschinenanbieter. Diese sieht auf der einen Seite eine Abgeltung der bisher begangenen Urheberrechtsverstöße gegen eine pauschale Zahlung von 60 Dollar pro Buch vor, erlaubt Google jedoch weiterhin das Scannen von Büchern. Was mit den gescannten Büchern geschieht, hängt zunächst von der Frage ab, ob das Buch noch erhältlich ist. Ist dies nicht der Fall, so darf Google das Buch vollständig zugänglich machen, beteiligt die Autoren jedoch mit 63 Prozent an allen Einnahmen. Bei aktuell erhältlichen Werken können die Autoren künftig selbst bestimmen, was zugänglich gemacht wird: Nur das Cover und der Titel, weitergehende Informationen, Textauszüge oder der Volltext. Einen guten Überblick über die Kontroverse um Googe Books bietet der Deutschlandfunk online.

Medialer Diskurs über Open Access und den Heidelberger Appell
Die Kontroverse zwischen den Befürwortern von Open Access und den Unterstützern des Heidelberger Appells setzte sich in den Monaten nach dem Appell medial fort, nicht zuletzt in den Feuilletons, aber auch in Blogs und auf Webseiten. Die „Google Books“-Thematik nimmt hierbei deutlich weniger Raum ein als der Konflikt zwischen den Forderungen des Heidelberger Appells und der Open Access-Bewegung. Mit Blick auf Google Books wird zumeist lediglich darauf hingewiesen, dass eine 63-prozentige Umsatzbeteiligung kaum als „Enteignung“ bezeichnet werden könne. Das Vorgehen des Unternehmens, Bücher ohne vorherige Einwilligung zu scannen und damit „Tatsachen“ zu schaffen, wird im Gegenzug jedoch regelmäßig kritisiert, so etwa von Susanne Gaschke in der ZEIT.
Deutlich kontroverser sind die Positionen im Spannungsfeld zwischen der Wissenschaftsfreiheit, der Autonomie der Wissenschaftler, der Macht (und des Überlebens) der Wissenschaftsverlage und der Idee von Open Access, die Ergebnisse steuerfinanzierter Forschung allgemein zugänglich zu machen. Auf der einen Seite verteidigen Open Access-Befürworter wie Prof. Gerhard Lauer von der Universität Göttingen und Prof. Wolfgang Coy von der Humboldt Universität Berlin regelmäßig diesen Ansatz und wehren sich gegen die Kritik des Heidelberger Appells. Christoph Drösser schreibt in der ZEIT:
„Wenn man den Kampfbegriff der Enteignung schon in den Mund nimmt, dann sollte man ihn eher auf die bisherige Form des wissenschaftlichen Publizierens anwenden. Die lässt den Autoren zwar ihr Urheberrecht – das kann ihnen in unserem Rechtssystem ohnehin niemand nehmen –, aber alle Rechte der Verwertung seines geistigen Eigentums tritt der Autor an einen Verlag ab – und das meistens, ohne dass er am Erlös aus dem Verkauf seiner Texte beteiligt wird. Und just diese Knebelung soll dank Open Access gelockert werden.“ Quelle
Auf der anderen Seite wird das Heidelberger Appell und die Ablehnung einer obligatorischen Publikation unter Open Access regelmäßig mit Blick auf die (deutsche) Verlagslandschaft betrachtet und der damit verbundenen Frage, ob Open Access die Wissenschaftsverlage ihrer Existenzgrundlage beraubt. So prognostiziert der Philosophie-Professor Volker Gerhardt in der FAZ den Niedergang der Schriftkultur, der entscheidend mit dem Niedergang der Verlage verknüpft ist, da diese „keine Möglichkeit mehr sehen, Texte herauszubringen, die ihnen noch nicht einmal mehr die Bibliotheken abkaufen, weil ja ohnehin alles kostenlos im Netz zu haben ist.“