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Bericht: Filmaufnahmen als Zeitmaschine?

Filmaufnahmen als Zeitmaschine?

Rückblick auf die Summerschool der Fachjournalistik Geschichte

Schützengräben des Ersten Weltkriegs, das Winterpalais im Oktober 1917, das Warschauer Ghetto, der Nürnberger Gerichtssaal, ein DDR-Schlafzimmer: historische Filmaufnahmen entführen uns in vergangene Welten. Sie suggerieren Augenzeugenschaft und entfalten Wirkung, und dies selbst wenn die Betrachterin weiß, dass das Geschehen gestellt und die dokumentarische Anmutung des Materials künstlich erzeugt wurde. Was also können Historikerinnen und Historiker mit solchen bewegten Bildern anfangen? Wie kön­nen sie im Hinblick auf ihren Entstehungsprozess, ihre Machart, ihre Wirkung dekonstruriert und zu­gleich als historische Quellen für vergangene Gesellschaften genutzt werden? Um diese Frage kreiste die Summer­school Historische Filmaufnahmen als Zeitmaschine?, die vom 28. 8. bis zum 1. 9. 2017 an der Justus-Liebig-Universität Gießen stattfand. Eingeladen hatten der Arbeitsbereich Fachjournalistik Geschichte am Histori­schen Institut und das Zentrum für Medien und Interaktivität (ZMI).

Foto: Ulrike Weckel, Christina Benninghaus, Thomas Lindenberger (v.l.n.r.)
Den Masterstudierenden und DoktorandInnen aus Gießen, Berlin, Jena und Wien bot sich ein Programm, das ganz unterschiedliche Ansätze der historischen Forschung zu und mit Filmen präsentierte. Nachdem Ulrike Weckel und Christina Benninghaus die TeilnehmerInnen begrüßt und das Konzept der Summerschool vorgestellt hatten, nutzte Thomas Lindenberger seinen Eröffnungsvortrag für einen konzisen Überblick über Potentiale der historischen Arbeit mit Filmen. Lindenberger unterschied dabei gesellschaftsgeschichtliche, archivwissenschaftliche und geschichtskulturelle Fragen, drei Dimen­sionen, die für die weitere Summerschool eine wichtige Rolle spielten. Wie Lindenberger darstellte, ver­danken sich die Anfänge des Films und die Entwicklung des Kinos der technischen Innovationskraft und der sozio-kulturellen Situation des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Frühe Filmvorführungen waren Teil einer kommerziellen Unterhaltungskultur, die immer auch von den Interessen des Publikums geformt wurde. An zeitgenössicher Kritik mangelte es nicht. Die insbesondere von kirchlicher Seite initiier­ten Informationsdienste sowie staatliche Zensurmaßnahmen produzierten Materialien, die heute wichtige historische Quellen für den frühen Film und seine damalige Wahrnehmung darstellen. Mit Verweis auf Siegfried Kracauer hielt Lindenberger an der Grundüberlegung fest, dass die Analyse von Spielfilmen, ihrer Entstehung und Rezeption Einblicke in die Befindlichkeit der jeweiligen Gesellschaft ermöglichen, dass sich gerade im kommerziell erfolgreichen Film bestehende Ängste und Wünsche und geteilte, zeitgenössisch selbstverständliche Vorstellungen zeigen. Aus gesellschaftshistorischer Sicht stellen Filme und ihre Rezep­tion damit eine für das 20. Jahrhundert geradezu unverzichtbare Quelle dar. Dies gilt in besonderem Maße für Dokumentarfilmaufnahmen, in denen – jenseits der Konstruktionsabsichten und Perspektiven der Filmemacher – eine außerfilmische Realität Spuren hinterlassen hat.

Dass Filme auch ein wichtiges Medium der Geschichtsdarstellung sind, wurde an dem von Thomas Linden­berger im Rahmen eines Workshops näher vorgestellten Film Oktjabr (Oktober) von Sergei Eisenstein deutlich. Bei Eisensteins Film handelt es sich um ein mittlerweile in rekonstruierter Fassung vorliegendes Meisterwerk der Stummfilmzeit. Obwohl der zum 10. Jahrestag des Sturzes der Provisorischen Regierung gedrehte Film ganz offensichtlich mit aufwändigen filmischen Mitteln arbeitet und eine kunstvoll kompo­nier­te Erzählung anbietet, werden Teile der Filmaufnahmen bis in die Gegenwart als dokumentarische Aufnahmen missverstanden. Dies ist insofern verständlich, als Eisenstein manche historische Ereignisse – etwa die Schüsse auf die Aufständischen auf dem Petrograder Newski-Prospekt im Juli 1917 – im Rückgriff auf Fotografien sorgfältig reinszenierte. Zugleich aber stiftete er, so Lindenberger, mit der im Zentrum

Foto: Thomas Lindenberger
des Films stehenden Erstürmung des Winterpalais einen bis heute wirkungsvollen Mythos. In Anlehnung an John Reeds dramatische Schilderung Ten days that shook the world schuf Eisenstein eine bildgewaltige Darstellung der Erstürmung des Winterpalais, die es in dieser Form nicht gegeben hat, handelte es sich bei der Ablösung der Provisorischen Regierung durch die Bolschewiki im Oktober 1917 doch eher um einen wenig spektakulären Staatsstreich, bei dem die Revolutionäre, statt Barrikaden zu überwinden, durch offene Hintertüren in das Winterpalais eindringen konnten.

Von Eisenstein benutzte Formen der Authentifizierung – das Drehen an Orginalschauplätzen, die Arbeit mit Schauspielern, die den historischen Protagonisten ähnlich sehen, das Nachstellen von historischen Foto­grafien – sind bis heute wichtige Elemente des historischen Spielfilms, wie sich aktuell z.B. in Dunkirk oder Der Stern von Indien beobachten lässt. Wie Lindenberger herausstellte, wenden sich solche Filme immer an das Publikum ihrer Entstehungszeit und werden notwendigerweise im Lichte der jeweils gegenwärtigen Problemkonstellationen gesehen. HistorikerInnen seien dabei, so Lindenberger, zwar als Experten gefragt, wenn es um die historische Korrektheit des Films gehe, wichtiger sei aber ihre Expertise in Sachen Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Da Filme das Geschichtsbewusstsein oft stark beeinflus­sen, muss die Geschichtsdeutung, die sie anbieten, kritisch diskutiert werden. Nicht die Korrektheit im Detail, sondern die Quintessenz, die der Film anbietet, seine Interpretation des damaligen Geschehens und die dabei gewählte Perspektive sollten im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. Spielfilme wollen und müssen ihr Publikum erreichen. Ihnen die Verdichtung historischer Abläufe, die Erfindung fiktiver Charak­tere oder auch die Erzeugung von Spannung oder Melodramatik vorzuwerfen, führt nicht weit. Gefragt wer­den kann aber, wessen Geschichte aus welcher Perspektive erzählt wird, inwieweit dabei auch ver­steckte Deutungen angeboten werden und wem eigentlich die Macht zugeschrieben wird, Geschichte zu machen und die Wirklichkeit zu verändern.

Foto: Ulrike Weckel, Anja Horstmann, Teilnehmerinnen der Summerschool (v.l.n.r.)
Die Frage nach ideologischen Zielen und ihrer Umsetzung in filmischen Narrativen stellt sich in besonderem Maße für Propagandafilme. Anja Horstmann widmet sich in ihrer Dissertation dem Filmfragment Ghetto aus dem Frühjahr 1942. Im Filmmaterial wird eine bestimmte Sicht auf das Leben im Warschauer Ghetto konstruiert und dabei mit einer Mischung aus inszenierten und vorgefundenen Situationen gearbeitet. Bestimmte Aspekte – etwa die auf zeitgenössischen Fotografien ins Bild gesetzte Arbeit in den Ghetto-Werkstätten – blieben dabei ausgeklammert. Die Aufnahmen wurden, wie Horstmann zeigte, offensichtlich zu propagandistischen Zwecken gedreht und montiert. Der Film sollte belegen, dass die im Ghetto zusam­men­gepferchten Juden eines solidarischen Umgangs miteinander unfähig seien und statt dessen eine unmenschliche Klassengesellschaft errichtet hätten, in der wohlhabende Juden ein angenehmes Leben führten, während auf den Straßen des Ghettos Menschen verhungerten.

Über die Entstehung der Filmaufnahmen ist durch die Tagebuchaufzeichnungen des "Judenältesten" Adam Czerniakow einiges bekannt. Unklar ist jedoch, warum der Film nicht fertiggestellt wurde. Dafür können Zufälle bzw. mangelnde Ressourcen verantwortlich gewesen sein. Vielleicht – so Horstmann – wurde er auch nicht mehr gebraucht, weil die Deportationen aus dem Reich bereits abgeschlossen waren und das Regime kursierenden Gerüchten über das Schicksal der Deportierten nicht weitere Nahrung geben wollte. Vielleicht gab es aber auch Zweifel an der Überzeugungskraft des Films. Als Propagandafilm konnte er nur funktionieren, wenn es gelang, beim Publikum jegliches Mitleid mit verhungernden Juden auszuschalten. Andere nationalsozialistische Filme wie Opfer der Vergangenheit forderten dazu auf, Menschen mit geisti­gen und physischen Behinderungen mit Ekel zu betrachten. Wäre dies – unterstützt durch Montage, Text und Musik – auch für den Blick in die Augen der dem Hungertod nahen Menschen gelungen? Ein von Horstmann angeregter Vergleich mit 1941 in der Berliner Illustrierten Zeitung veröffentlichten Fotografien zeigt, dass das Narrativ der zu Mitmenschlichkeit unfähigen reichen Jüdinnen und Juden auch dort bedient wurde. Die Verstörung, die der Film bei der heutigen Betrachterin auslöst, der die Gesichter der Sterbenden im Gedächtnis haften bleiben, findet keine Entsprechung in den kleinformatigen Bildern aus der BIZ. Der Film, so könnte man im Rückgriff auf den von Lindenberger zitierten Marc Ferro argumentieren, eröffnet hier Sichtweisen und Einblicke, die sich von den Filmemachern nur bedingt kontrollieren ließen. Vielleicht war auch dies ein Grund, warum der Film nicht fertiggestellt wurde.

Foto: Michaela Scharf (l.)
Filme werden für ein Publikum gedreht. Bei den ambitionierten Amateurfilmen, die Michaela Scharf vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft in Wien für ihr Dissertationsprojekt analysiert, bestand dieses Publikum aus dem Familien- und Freundeskreis und eventuell auch aus Mitgliedern eines Filmclubs. Die soziale Praxis des Freizeitfilmens war komplex. Sie entwickelte sich auf der Grundlage von veränderten technischen Möglichkeiten – dem sich wandelnden Angebot an (erschwinglichen) Schmalfilmkameras –, im Rückgriff auf Anleitungen und im Kontext von Diskursen und Sehgewohnheiten, die ihrerseits vermutlich vom kommerziellen Film und professionellen Dokumentarfilm beeinflusst wurden. Unter ambitionierten Amateurfilmen versteht Scharf dabei solche Filme, die nachbe­arbeitet wurden, also durch Schnitt, Ton, Texttafeln, Trickfilmelemente u. ä. und somit zeigen, dass hier ein vorzeigbares Endprodukt erzeugt werden sollte. Thematisch widmen sich solche Filme der eigenen Familie, dem Wohnviertel oder dem Betrieb, sie zeigen Reisen und tagesaktuelle Ereignisse. Es finden sich aber auch Amateurspielfilme mit fiktiven Charakteren und Handlungen. In ihrer dokumentarischen Qualität laden die Filme zu einer doppelten historischen Lesart ein. Einerseits zeigen sie Bilder einer uneinholbar vergangenen materiellen Realität. Andererseits müssen sie als Kompositionen gesehen werden, in denen – beeinflusst durch zeitgenössische Diskurse und Anleitungen – ganz bestimmte Ausschnitte dieser Realität in bestimmter Perspektive auf Filmmaterial festgehalten wurden. Aus Sicht des Filmamateurs bzw. der Film­amateurin eröffnete die Praxis des Filmens damit seit den 1920er Jahren neue Möglichkeiten der Selbst­darstellung: als nüchterner Chronist, als Flaneur, Naturbeobachter, Liebender, Erziehender etc. Die Art der Selbstinszenierung konnte dabei auch dezidiert politische Formen annehmen, wie etwa in dem von Scharf vorgestellten Film Urlaub 1938, in dem sich ein bürgerliches österreichisches Paar als überzeugte National­sozialisten präsentiert: Fasziniert von der Grandezza von Reichsautobahn und Brücken, die ausführlich abgefilmt werden, und zu Besuch in Berchtesgarden, das Auto geschmückt mit kleiner Hakenkreuzfahne.

Mit der Produktion von Filmen gehen Kommunikationsabsichten einher. Sie können informieren, indoktri­nie­ren, unterhalten, verstören, berühren, die Fantasie beflügeln. Ob sie intendierte Wirkungen erreichen, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Ulrike Weckel interessiert sich seit vielen Jahren dafür, wie das Publikum in medienhistorischen Arbeiten untersucht werden kann. In ihrem Workshop ging es um Filme, die Aufnahmen aus befreiten Konzentrationslagern zeigten und von den Alliierte in der unmittelbaren Nachkriegszeit eingesetzt wurden, um Deutsche mit den Greueltaten der NS-Zeit zu konfrontieren. Als der Film Die Todesmühlen Anfang 1946 für eine Woche in den 52 Kinos des amerikanischen Sektors von Berlin gezeigt wurde, sorgte das scheinbar geringe Interesse der Einwohner für Empörung. Nur eine Minderheit der Berliner sah sich den Film freiwillig an. In einem von der amerikanischen Militärregierung lancierten Artikel im Tagesspiegel wurden die einer Schätzung zufolge rund 75% der erwachsenen Berliner Bevölke­rung, die sich den Film nicht angesehen hatten, beschuldigt, nach wie vor dem Nationalsozialismus anzu­hängen und "Angst vor der Wahrheit" zu haben. Leserbriefe zeigten, dass die Motivlagen jedoch vielfältig waren und es unterschiedliche Gründe gab, weshalb sich Menschen den Film nicht ansehen wollten. Ebenso wie zeitgenössische Filmbesprechungen in der Presse erweisen sich diese Leserbriefe als weitaus aufschlussreicher als die ebenfalls vorliegenden Befragungen des Kinopublikums, die von amerikanischer Seite mithilfe von Fragebögen durchgeführt wurden. Letztere zeigen vor allem, wie groß die Hoffnung der Amerikaner war, dass die Filmaufnahmen zu einem Umdenken führen würden. Historische Rezeptionsfor­schung, so könnte man Weckels Fallbeispiel vielleicht verallgemeinern, findet immer in einem Spannungs­verhältnis statt. Auch scheinbar neutrale Erhebungsinstrumente spiegeln die Erwartungen der Meinungs­forscher wider, deren Vorurteile den Mediennutzerinnen und -nutzern vermutlich nicht verborgen blieben. Und auch der Blick der Historikerin auf das historische Material ist von ihrem Wissen um die spätere Ent­wicklung und ihren eigenen Sehgewohnheiten beeinflusst.

Dieses Spannungsverhältnis wurde auch im Workshop von Anja Laukötter deutlich, der sich dem Film Mann und Frau intim von 1984 widmete. Teil eines großen Quellenkorpus zur Sexualaufklärung im Film des 20. Jahrhunderts, ist dieser Film insofern außergewöhnlich, als er in der Spätphase der DDR mit erheblichem Aufwand produziert und breit rezipiert und diskutiert wurde. Zeitgenössischen Umfrageergebnissen zufolge wurde der Film vom Publikum überwiegend als gelungen eingestuft, auch wenn die befragten Zuschauerin­nen und Zuschauer keineswegs das Gefühl hatten, der Aufklärung in sexuellen Dingen zu bedürfen, und obwohl viele eine noch freizügigere Darstellung der Sexualbeziehung bevorzugt hätten. Die filmische The­ma­tisierung möglicher Probleme in einer modernen Paarbeziehung griff eher bereits vertraute, milieu­spezifische Überzeugungen auf, nämlich dass befriedigende Sexualität des offenen Gesprächs zwischen den Partnern bedürfe. Hier ließe sich gut an allgemeinere Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Medien­nutzung und Wertewandel anknüpfen. Ähnlich wie Weckel, arbeitet auch Laukötter mit zeitgenössischen Meinungsumfragen, die allerdings höchstens indirekt Rückschlüsse darauf zulassen, welche Wirkung der Film tatsächlich entfaltete. Sie zeigen aber zumindest die in den Film gesetzen Erwartungen und das Bestreben, eine spezifisch sozialistische Form der erfüllten Paarbeziehung von westlichen Verhältnissen abzugrenzen.

Auf eine heutige Betrachterin wirkt Frau und Mann intim befremdlich und antiquiert, was aber die gedank­liche Beschäftigung mit den im Film aufgeworfenen Fragen ebenso wenig ausschließt, wie ein Berührt­werden durch die erotischen Passagen am Filmende. In der Diskussion wurde rasch deutlich, dass die spon­tane Rezeption des Films stark von individuellen Erwartungen, vielleicht auch Sehgewohnheiten abhängig ist, die bei der historischen Analyse mitreflektiert werden müssen. Kontextualisierung über zeit­genössische Materialien zur Entstehung des Films und zu Zuschauerreaktionen einerseits, Vergleich mit anderen zeitge­nössischen Aufklärungsfilmen andererseits, erwiesen sich als notwendige und effektive historische Arbeits­schritte, um zu einer intersubjektiven Deutung des Films und seiner Wirkung zu gelan­gen.

Foto: Jan Peter, Ulrike Weckel (v.l.n.r.)
Anders als Texte, die in publizierter Form zwar auch auf der Arbeit von VerlegerInnen und LektorInnen ba­sieren, aber in ihren großen Mehrheit doch deutlich einem Autor bzw. einer Autorin zugeschrieben werden können, sind Filme in hohem Maße Gemeinschaftsprodukte. Sie entstehen unter Kostenzwängen und Zeit­druck und machen Kompromisse notwendig. Filme profitieren von der Kreativität und Intelligenz einer Grup­pe von Filmschaffenden und reflektieren dabei notwendig stattfindende Aushandlungsprozesse. Faszinierende Einblicke in die professionelle Praxis bei heutigen Fernsehproduktionen bot der Workshop mit Jan Peter, dessen Miniserie 14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs sicher zum Besten zu zählen ist, was Geschichtsfernsehen derzeit anzubieten hat. Die Serie, deren Fortsetzung für die Zwischenkriegszeit in Vor­bereitung ist, stellt den Ersten Weltkrieg aus erfahrungshistorischer Perspektive dar. Dabei stehen die Le­benswege einer international, generationell und sozial gemischten Gruppe von Tagebuchschreiberinnen und Tagebuchschreibern im Mittelpunkt. In einer Mischung aus kunstvoll collagierten historischen Film­aufnahmen und Reenactment wird gezeigt, wie sich der Erste Weltkrieg in das Leben von Menschen ein­schrieb. Deren Schicksale, ihre Handlungen, Interpretationen und Erfahrungen stehen im Zentrum der Darstellung. Ausgewählt wurden dabei Persönlichkeiten, die auch unter den Bedingungen des Krieges die Fähigkeit behielten, sich als als erkennendes, oft auch handelndes Subjekt zu entwerfen.

In einer beeindruckenden Mischung aus Reflexivität, Selbstbewusstsein und Offenheit, dabei frei von jeder Selbstverliebtheit, gewährte Jan Peter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Summerschool Einblicke in die konzeptionellen Überlegungen, die Arbeitsprozesse und Entscheidungen, die der Entstehung von 14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs zugrunde liegen. Zwei Vergleiche erwiesen sich als überaus fruchtbar, um besser zu verstehen, wie die Serie Geschichte erzählt und mit dem historischen Material – den Egodoku­menten und dem historischen Filmmaterial aus Spiel- und Dokumentarfilmen – umgeht: So arbeiten die deutsche und die englische Fassung der Serie mit unterschiedlichen Erzählformen. Während die deutschen Zuschauer über kurze Zusammenschnitte historischen Materials von einem Erzähler in die jeweilige histo­rische Situation eingeführt werden, kommt die BBC-Fassung ganz ohne solche Erklärungen aus. Beim zwei­ten Hinsehen zeigt sich jedoch, dass auch hier nicht nur direkt aus historischen Selbstzeugnissen zitiert wird, sondern dass den Tagebuchschreiberinnen und -schreibern Erklärungen in den Mund gelegt werden, die für ein heutiges Publikum notwendig erscheinen.

Ein zweiter Vergleich, nämlich zwischen Passagen aus den Kriegstagebüchern Ernst Jüngers, der literari­sierten Darstellung seiner Erlebnisse in In Stahlgewittern und der entsprechenden Filmszene zeigte, wie die Filmemacher Selbstdarstellung und Erinnerung in Spielfilmszenen überführt und dabei mehrere Passagen in einer Szene verdichtet haben. Dabei entstanden ist ein Portrait, das, so authentisch es auf den Zuschauer auch wirkt, eben genau dieses ist: ein mit filmischen Mitteln gestaltetes Portrait, das die Handschrift des Porträtierenden trägt und – so durchdacht es auch sei mag – eine immer auch hinterfragbare Deutung der historischen Figur anbietet.

Historisches Arbeiten mit und über Filme ist auf Quellen angewiesen. Deren Erhalt ist alles andere als selbstverständlich. Wie Ines Bayer vom Deutschen Filminstitut Frankfurt erklärte, entstanden die ersten Filmarchive, als am Ende der 1920er Jahre von Stumm- auf Tonfilm umgestellt wurde und Stummfilme damit kommerziell wertlos wurden. Gegenwärtig ist eine ähnliche Entwicklung zu beobachten, insofern analog gedrehte Filme in vielen Kinos nicht mehr vorgeführt werden können. Die Digitalisierung des Film­erbes des 20. Jahrhunderts lässt jedoch auf sich warten. Wie bei einer Führung im Filmarchiv in Wiesbaden deutlich wurde,  gibt es Unmengen von Filmen, die teils als Negativ, teils in (mehreren, in Qualität und Schnitt unter Umständen voneinander abweichenden) Kopien vorliegen. Wie viele der älteren Filme tat­sächlich noch vorhanden sind, ist gerade für den deutschsprachigen Raum schwer festzustellen, da es kein zentrales Filmarchiv gibt. Während Filme in der DDR systematisch gesammelt und aufgehoben wurden, gibt es in der Bundesrepublik keine Pflichthinterlegung, wie diese für Bücher seit 1913 besteht. Wichtige Be­stän­de lagern im Bundesarchiv, in der Deutschen Kinemathek und im Deutschen Filminstitut (DIF). Dessen Film- und Nachlassarchiv war Ziel einer Exkursion, die die Summerschool abschloss. In Gesprächen mit Michael Schurig und Isabelle Bastian wurde deutlich, unter welchen Bedingungen diese Archive arbeiten. Ziel des DIF ist dabei einerseits die Bewahrung des Filmerbes. Aufgehoben werden nicht nur Spielfilme, sondern auch dokumentarisches Filmmaterial, Amateurfilme und Gebrauchsfilme, wie z.B. Werbefilme. Das Filmarchiv sammelt darüber hinaus für die Forschung zur Filmgeschichte zentrale Materialien, die die Ent­stehung, die Vermarktung und den Konsum von Filmen betreffen. Dazu gehören die Nachlässe von Schau­spielerInnen und RegisseurInnen, die Unterlagen von Produktionsfirmen, Kinoplakate und Werbehefte, Filmzeitschriften und Starpostkarten ebenso wie Kostüme, Modelle und andere dreidimensionale Objekte. Beim Gespräch mit den Archivarinnen und Archivaren wurde rasch deutlich, dass hier noch viele Schätze zu heben sind. Schon während der Diskussion entstanden erste Ideen für Screenings unbekannter Filme und für Forschungsprojekte.

Die Summerschool schloss mit einem Besuch des Filmmuseums in Frankfurt, wo die Kuratorin Stefanie Plappert in die Konzeption der Dauerausstellung einführte. Filmvermittlung – durch die Filmvorführung im hauseigenen Kino, durch Filmverleih und Festivals, und durch eine faszinierende Dauerausstellung – gehört zu den Kernaufgaben des DIF. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Summerschool zeigten sich von der Ausstellung zum filmischen Erzählen begeistert.

Die Summerschool bot, dies lässt sich abschließend feststellen, ein facettenreiches Bild des Arbeitens mit und über Film. Alle Referentinnen und Referenten ließen sich darauf ein, Einblicke in ihre eigene wissen­schaftliche Praxis zu gewähren und dabei auch Schwierigkeiten im Umgang mit dem historischen Quellen­material zu diskutieren. Den Studierenden wurden neben interessanten Filmbeispielen auch archivalische Quellen zugänglich gemacht, die für das jeweilige Forschungsprojekt von Bedeutung waren.

Die Digitalisierung macht es heute möglich, Filme nicht nur als historisches Material im Archiv zu analysie­ren, sondern sie auch im Rahmen von Vorträgen und Publikationen über Filmstills oder Ausschnitte zu präsentieren. Damit ist es heute auch deutlich einfacher, über Filme zu arbeiten, die unbekannt und dem Publikum deshalb nicht präsent sind. Eine vollständige Rekonstruktion vergangener visueller Universen ist nicht möglich, aber gerade über Kontextualisierung und Vergleich lassen sich die Sehgewohnheiten der Vergangenheit heute sehr viel besser rekonstruieren als noch vor wenigen Jahren. In der historischen Forschung wird es damit möglich, den Menschen des 20. Jahrhunderts deutlicher denn je als Augentier zu verstehen: informiert, unterhalten, schockiert, gelangweilt und bewegt, manchmal wohl auch geprägt oder zumindest beeinflusst von bewegten Bildern.

(Christina Benninghaus)