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Molekulare Faltungen im Zellkern regulieren Entzündungsreaktionen

Erkenntnisse aus der funktionellen Genomik ermöglichen neue Therapiekonzepte für chronisch entzündliche Erkrankungen – Untersuchungen im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereichs Transregio 81

Pressemitteilung des Forschungscampus Mittelhessen

28. April 2020

Entzündungsreaktionen spielen nicht nur eine wichtige Rolle bei der normalen Immunantwort, sondern auch bei häufigen Erkrankungen, wie der rheumatoiden Arthritis, der Schuppenflechte, der Gicht oder bei bösartigen Tumoren. Das Zusammenspiel der verschiedenen, an einer Entzündung beteiligten Zellen wird über körpereigene Botenstoffe, die Zytokine, gesteuert. Interleukin-1 (IL-1) ist ein solcher Botenstoff, dessen pharmakologische Blockade beim Menschen bereits erfolgreich zur Behandlung einiger seltener Fiebererkrankungen eingesetzt wird. Doch wie funktioniert die Stimulierung von Zellen durch diesen Botenstoff? In einer engen Zusammenarbeit haben Forscherinnen und Forscher der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU), der Sequenzierungs-Einheit der Philips-Universität Marburg und der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) wichtige Erkenntnisse zu den dabei ablaufenden schnellen Strukturänderungen des Zellkerns gewonnen. Ihre Ergebnisse zeigen neue Therapiekonzepte für die Behandlung von chronisch entzündlichen Erkrankungen auf – mit dem Zellkern als Zielstruktur. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift „The Embo Journal“ veröffentlicht.  


Wenn Zellen in Kontakt mit dem Botenstoff IL-1 kommen, aktivieren sie sehr schnell und sehr stark einige hundert Gene, die zusammen den Entzündungsprozess steuern. Hierzu müssen die von IL-1 ausgelösten Signale vom Zelläußeren in das Zellinnere gelangen und dann im Zellkern höchst koordiniert verarbeitet werden. „Dieser Prozess ist bisher nur sehr unvollständig verstanden“, so der Gießener Pharmakologe Prof. Dr. Michael Kracht. „Insbesondere ist unklar, wie der zwei Meter lange DNA-Faden, der im zehn Mikrometer großen Zellkern sehr kompakt gefaltet ist, sich so in seiner Struktur verändert, dass eine schnelle Aktivierung von IL-1-Zielgenen im gesamten Genom zustande kommt.“ Die Forscherinnen und Forscher untersuchten daher mit verschiedenen hochauflösenden DNA-Sequenzierungstechniken und der CRISPR/Cas9-Technologie die Funktionen und die Mechanismen der Öffnungs- und Faltungsvorgänge des DNA-Fadens in IL-1-regulierten DNA-Bereichen.


Sie konnten zeigen, dass die Zugabe von IL-1 dazu führt, dass zehntausende von Abschnitten des Genoms ihre Zugänglichkeit für aktivierende Transkriptionsfaktoren ändern. „Interessanterweise finden sich in diesen sogenannten Enhancer-Bereichen bei einer Reihe entzündlicher Erkrankungen häufiger Mutationen“, sagt der Genetiker und Systembiologe Argryris Papantonis vom Institut für Pathologie der Universitätsmedizin Göttingen, der an dem Projekt maßgeblich beteiligt war. Um diesen Zusammenhang zu belegen, haben die Forscherinnen und Forscher mit der Genschere CRISPR/Cas9 zwei Enhancer in einem Ort des Genoms entfernt, der die gleichzeitige Expression von vier Chemokin-Genen reguliert. Chemokine werden bei jeder Entzündung in den Entzündungsherden gebildet und regulieren den Eintritt von weißen Blutzellen in das betroffene Gewebe. Diese gezielte Mutation der Chemokin-Enhancer hemmte nicht nur die Ausschüttung der Chemokine, sie veränderte auch die DNA-Faltungsvorgänge deutlich. „Diese sich rasch verändernden dreidimensionalen DNA-Strukturen stellen einen neuen hochinteressanten Regulationsmechanismus der Entzündung dar“, so Papantonis.


Ein weiterer Befund aus dieser Studie ist, dass die Chemokin-Enhancer die zelluläre IL-1-Antwort global regulieren. Die Daten zeigen, dass bestimmte Regionen im Zellkern besonders bedeutsam für Entzündungsvorgänge sind und als molekulare Hotspots fungieren. „Bisher spielt der Zellkern als Zielstruktur für neue anti-inflammatorische Therapieprinzipien nur eine untergeordnete Rolle, doch mit dieser Studie könnte sich das jetzt ändern“, sagt Prof. Kracht. „Nach wie vor besteht ein großer Bedarf an neuen Medikamenten, die dauerhaft, nebenwirkungsarm und sehr gezielt die immer wieder aufkommenden Schübe der wichtigsten chronisch entzündlichen Erkrankungen durchbrechen.“ Die Ergebnisse zeigten neue Wege auf, wie es zukünftig möglich sein könnte, pathologisch veränderte Genantworten während einer Entzündungsreaktion auf der Ebene des Zellkerns zu hemmen.


Die neuen Daten bauen auf einer früheren Studie der Gruppe auf, in der erstmals eine umfassende Kartierung der IL-1-regulierten Genomabschnitte erfolgte. „Nur die langjährige Einbindung dieser Forschungsarbeiten in den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten internationalen Sonderforschungsbereich Transregio 81 (SFB/TRR81) ‚Chromatin-Veränderungen in Differenzierung und Malignität‘ an der Universität Gießen hat es ermöglicht, die Expertise der beteiligten Gruppen zu bündeln und die umfangreichen bioinformatischen Verfahren zu entwickeln, um die riesigen Datensätze auszuwerten“, betont der Genetiker Dr. Marek Bartkuhn vom Institut für Genetik der JLU. Er leitet das zentrale Bioinformatikprojekt des Sonderforschungsbereichs.


Die Durchführung solcher experimentellen funktionellen Studien des Genoms und die molekulare Untersuchung von kernständigen Signal- und Chromatinprozessen ist eine Schlüsselexpertise der beteiligten Institute. „Diese Art von Grundlagenwissenschaft ist auch an einem medizinischen Standort bedeutsam, da sie zur Entwicklung neuer pathophysiologischer und therapeutischer Konzepte beiträgt“, sagt Prof. Lienhard Schmitz, Biochemiker an der JLU, der seit Langem mit Prof. Kracht zusammenarbeitet. Der SFB/TRR81, der von Gießener, Marburger und Rotterdamer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegründet und bereits zweimal – in den Jahren 2014 und 2018 – erfolgreich verlängert wurde, sei daher extrem wichtig, um dieses vielversprechende Forschungsfeld weiterzuentwickeln.

 

  • Publikationen

Weiterer, S.S., Meier-Soelch, J., Georgomanolis, T., Mizi, A., Beyerlein, A., Weiser, H., Brant, L., Mayr-Buro, C., Jurida, L., Beuerlein, K., Müller, H., Weber, A., Tenekeci, U., Dittrich-Breiholz, O., Bartkuhn, M., Nist, A., Stiewe, T., van IJcken, W.F., Riedlinger, T., Schmitz, M.L., Papantonis, A., Kracht, M. (2020). Distinct IL-1alpha-responsive enhancers promote acute and coordinated changes in chromatin topology in a hierarchical manner. EMBO J, 39(1):e101533, online veröffentlicht am 7. November 2019, DOI: 10.15252/embj.2019101533
https://doi.org/10.15252/embj.2019101533


Jurida, L., Soelch, J., Bartkuhn, M., Handschick, K., Muller, H., Newel, D., Weber, A., Dittrich-Breiholz, O., Schneider, H., Bhuju, S., Saul, V.V., Schmitz, M.L., Kracht, M. (2015). The Activation of IL-1-Induced Enhancers Depends on TAK1 Kinase Activity and NF-kappaB p65. Cell Rep 10, 726-739. DOI: 10.1016/j.celrep.2015.01.001
https://doi.org/10.1016/j.celrep.2015.01.001

  • Kontakt


Justus-Liebig-Universität Gießen
Biomedizinisches Forschungszentrum Seltersberg (BFS)
Rudolf-Buchheim-Institut für Pharmakologie
Schubertstraße 81, 35392 Gießen
Telefon: 0641 99-47600 oder -39740

 

  • Weitere Informationen:

Der Forschungscampus Mittelhessen (FCMH) ist eine hochschulübergreifende Einrichtung nach §47 des Hessischen Hochschulgesetzes der Justus-Liebig-Universität Gießen, der Philipps-Universität Marburg und der Technischen Hochschule Mittelhessen zur Stärkung der regionalen Verbundbildung in der Forschung, Nachwuchsförderung und Forschungsinfrastruktur.
Im Campus-Schwerpunkt „Infektions- und Entzündungsforschung“ sowie dem Profilbereich „Tumorforschung und Immunologie“ wird interdisziplinär und mit einer großen Bandbreite an Ansätzen aus der Grundlagen- und klinischen Forschung versucht, neue innovative Therapieansätze für eine Reihe von häufigen und chronischen Erkrankungen des Menschen zu entwickeln.  
Webseiten:
https://www.fcmh.de/tumor
https://www.fcmh.de/infekt

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