Inhaltspezifische Aktionen

„Kleiner Mann – was nun?“ – Wie ein Roman um 100 Seiten länger wird

Originalfassung des Weltbestsellers von Hans Fallada ist jetzt mit einem Nachwort von Prof. Carsten Gansel, Institut für Germanistik der Universität Gießen, erschienen

Nr. 110 • 17. Juni 2016

Buchcover – Foto: Aufbau Verlag
Hans Fallada – Foto: Archiv Aufbau Verlag


Der kleine Angestellte Johannes Warmherzig und seine Frau „Lämmchen“ haben über Jahrzehnte hinweg Leser und Leserinnen angerührt. Sie haben sich mit ihnen gefreut über ihr kleines Glück, etwa als Söhnchen „Murkel“ auf die Welt kommt, und haben sie mitgelitten, als Warmherzig seine Arbeitsstelle verliert und der soziale Abstieg besiegelt scheint. Der Alltag in der Weltwirtschaftskrise und unter den dunklen Vorzeichen der Machtergreifung der Nationalsozialisten ist wahrlich nicht leicht, den Hans Fallada in seinem berühmten Roman „Kleiner Mann – was nun?“ beschreibt. Mehr als acht Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung des Weltbeststellers im Jahr 1932 steht fest: Die Geschichte, die Lesergenerationen kennen, ist deutlich verkürzt wiedergegeben worden und das Zeitkolorit deutlich reduziert. Jetzt liegt erstmals die Originalausgabe vor. Prof. Dr. Carsten Gansel, Literaturwissenschaftler an der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU), der an der Entdeckung des Originalmanuskripts maßgeblichen Anteil hat und ein ausführliches Nachwort geschrieben hat, versichert: „Der Text ist deutlich reicher.“ Es werde von Fallada in der Ur-Fassung ein „viel authentischeres Bild der End-20er“ gezeichnet.

„Die Botschaft des Romans hat sich insgesamt nicht verändert“, betont Prof. Gansel. Über die Protagonisten, ihre Anschauungen und Beweggründe werden die Leserinnen und Leser ab sofort jedoch deutlich mehr erfahren als in der bisher bekannten Version. Spannend ist – um nur ein Beispiel zu nennen –  die Haltung von Emma alias „Lämmchen“, die „politischer“ ist als angenommen und offenkundiger mit den Kommunisten sympathisiert. Immerhin 100 Seiten mehr – und damit fast ein Viertel mehr Text – umfasst die Neuausgabe, die am 17. Juni im Aufbau Verlag, Berlin, erschienen ist.

Bei den Streichungen der vorherigen Ausgaben, so berichtet Prof. Gansel, handelt es sich aus heutiger Sicht keineswegs um Straffungen, die dem Buch zugutekommen, sondern um Tilgungen, die an die Substanz des Romans gehen: „Die Streichungen aus dem handschriftlichen Original betreffen das Lokalkolorit der auslaufenden zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre in der Metropole Berlin und das dortige Nachtleben. Beschreibungen von einzelnen für die Roaring Twenties kennzeichnenden subkulturellen Milieus sind ebenso getilgt worden wie erotische Anspielungen. Verlorengegangen sind darüber hinaus differenzierte politische Positionen der Figuren.“ Einzelne Passagen führt Gansel detailliert auf, in denen Inhalte so gekürzt wiedergegeben wurden, dass ihre politische Botschaft verfälscht oder gar ins Gegenteil verkehrt wurde. Dies geht bis zur vermeintlich antisemitischen Äußerung von Johannes Pinneberg. Seinen Zusatz „Feine Kerls sind das, kann ich dir nur sagen, richtige anständige Kerls“ hatte der Rowohlt Verlag einfach gestrichen.

Ein wichtiger Schauplatz der Geschichte hinter der Geschichte ist – neben dem Haus des Aufbau Verlags in Berlin – die Universität Gießen. Gansel berichtet in seinem Nachwort von einem Seminar an der JLU. Mit Studierenden diskutierten er, der Aufbau Verleger René Strien und die Fallada-Lektorin Nele Holdack im Sommersemester 2013 zum Thema „Autor – Lektor – Verlag. Zur Theorie und Praxis des Buchmachens am Beispiel des Aufbau Verlages Berlin“. Zwei Jahre zuvor hatte der Aufbau Verlag die ungekürzte Urfassung von Falladas „Jeder stirbt für sich allein“ präsentiert.  Angeregt durch den Fund des Originalmanuskripts stellten sich die Germanisten und Verlagsleute über das Seminar hinaus die Frage nach der Ur-Fassung des Romans „Kleiner Mann – was nun?“.  Glücklicherweise fand sich im Fallada-Archiv das  handschriftliche Original von „Kleiner Mann – was nun?“, so dass sich Gansels Mitarbeiter Mike Porath und die Lektorin Nele Holdack an den Vergleich mit der 1932 publizierten Buchfassung machten. Es begann eine besonders aufwändige Archivarbeit – die, so Gansel, „eine Königsdisziplin für alle jene ist, die mit Literatur zu tun haben: Verleger, Lektoren, Literaturwissenschaftler und Journalisten“. Die Aufgabe erwies sich vor allem deshalb als so kompliziert, weil Falladas Sütterlin-Handschrift kaum leserlich ist und in Teilen stenographisch anmutet.

Prof. Gansel beweist mit seinem Team damit erneut einen besonderen literarischen Spürsinn. Erst kürzlich hat der Gießener Literaturwissenschaftler mit dem von ihm herausgegebenen Band „Durchbruch bei Stalingrad“ für Furore gesorgt. Es war ihm gelungen, die 1949 vom russischen Geheimdienst konfiszierte Urfassung des großen Antikriegsromans von Heinrich Gerlach in russischen Archiven wiederzufinden.

  • Weitere Informationen

Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun?, ungekürzte Neuausgabe mit einem Nachwort von Carsten Gansel, Texterfassung Mike Porath und Nele Holdack, Aufbau Verlag GmbH & Co.KG, 1. Auflage 2016, ISBN 978-3-351-03641-6

www.aufbau-verlag.de
www.uni-giessen.de/fbz/fb05/germanistik/abliteratur/glm/uber-uns/wimi/carsten-gansel


  • Kontakt



Institut für Germanistik der JLU Gießen
Otto-Behaghel-Straße 10 B, 35394 Gießen
Telefon:  0641 99-29145; Fax: 0641 99-29129

Pressestelle der Justus-Liebig-Universität Gießen, Telefon: 0641 99-12041