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Ist der Mensch ein „rationales Wesen“?

Rund 12 Millionen Euro für die Erforschung menschlichen Denkens

Nr. 139 • 21. Juni 2010

Ist der Mensch ein „rationales Wesen“? Was ist rational? Und was (angeblich) irrational? Wie treffen Menschen Entscheidungen? Wie können Denkfehler vermieden werden? Wo liegen die Grenzen unseres Denkvermögens? Wie können wir unsere Fähigkeit verbessern, Probleme effektiv zu lösen und vernünftige Entscheidungen zu treffen? Diese und weitere Fragen sind Gegenstand des neuen DFG-Schwerpunktprogramms „New Frameworks of Rationality“ (SPP 1516), das von Prof. Dr. Markus Knauff, Allgemeine Psychologie und Kognitionsforschung am Fachbereich 06 der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU), geleitet wird.  

Prof. Knauff (zurzeit Gastprofessor an der Universität Kalifornien in Santa Barbara, USA) hatte die Einrichtung des Schwerpunktprogramms „New Frameworks of Rationality“ gemeinsam mit zwei Psychologen (Prof. Dr. Ralph Hertwig, Basel und Prof. Dr. Michael Waldmann, Göttingen) und zwei Philosophen (Prof. Dr. Wolfgang Spohn, Konstanz und Prof. Dr. Gerhard Schurz, Düsseldorf) beantragt. Das nun beginnende Schwerpunktprogramm 1516 ist eines von 13 Themen, das vom Senat der DFG aus insgesamt 64 eingereichten Anträgen ausgewählt wurde.

Das Schwerpunktprogramm „New Frameworks of Rationality“ soll ab 2011 seine Arbeit aufnehmen und das in Deutschland und darüber hinaus vorhandene wissenschaftliche Know-how im Bereich der Erforschung menschlicher Rationalität vernetzen. Auf diese Weise werden möglichst viele Experten zusammengebracht, die an unterschiedlichen Forschungsstandorten tätig sind. Für das SPP 1516 stellt die DFG insgesamt rund 12 Millionen Euro zur Verfügung. Das Programm wird in den kommenden Monaten von der DFG ausgeschrieben, die eingehenden Förderanträge werden in einem strengen Begutachtungsverfahren auf ihre wissenschaftliche Qualität und ihren Beitrag zum Oberthema geprüft. Die Schwerpunktprogramme der DFG arbeiten in der Regel sechs Jahre.

Wissenschaftliche Fragestellungen

Das Bild des Menschen als „rationales Wesen“ ist in den letzten Jahren gründlich ins Wanken geraten. Es ist zwar nicht so, dass Menschen regelmäßig scheitern, wenn sie mit komplexen Problemen konfrontiert sind. Im Gegenteil: Die Fähigkeiten von Menschen, die kompliziertesten Probleme zu lösen und über die komplexesten Sachverhalte nachzudenken, ist überwältigend – die Menschheit wäre sonst nicht da, wo sie heute ist. Allerdings ist in den letzten Jahren immer deutlicher geworden, dass Menschen vielfach von dem abweichen, was man als „rational“ bezeichnen würde. Sie halten sich nur selten an das, was die Normen der Logik, der Wahrscheinlichkeitsrechnung oder der mathematischen Entscheidungstheorie vorgeben. Beispielsweise nehmen die meisten Menschen (und Organisationen) für einen potenziell hohen Gewinn viel mehr Verluste in Kauf, als es gerechtfertigt wäre, würden sie sich an die Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie halten (man denken an die aktuelle Finanzmarktkrise). Oder sie ziehen Schlüsse aus gegebenen Informationen, die mit den Regeln der formalen Logik wenig zu tun haben. Nehmen Personen zum Beispiel an, dass die Regel „Wenn es regnet, ist die Straße nass“ stimmt, dann schließen sie meistens daraus, dass die Straße nass ist, dass es geregnet haben muss. Das ist aber — logisch gesehen — falsch: vielleicht fuhr nur gerade ein Wagen der Straßenreinigung vorbei.

In der Psychologie sind – grob betrachtet –  zwei Grundauffassungen vertreten, wie solche Abweichungen von den normativen Vorgaben der Logik bewertet werden sollen. Eine wissenschaftliche Strömung interessiert sich dafür, wie die Abweichungen von den normativen Modellen erklärt werden können. Hierbei werden die Limitationen des menschlichen kognitiven Systems für die Abweichungen verantwortlich gemacht. Die andere psychologische Strömung kritisiert daran, dass die Abweichungen überhaupt als „Fehler“ betrachtet werden. Die Abweichungen haben aus dieser Sichtweise einen hohen Wert, weil diese an die Informationsstruktur einer Umgebung angepasst sind. Sie haben sich wahrscheinlich in der Evolution entwickelt, weil sie das Überleben besser sichern konnten als beispielsweise die Vorgaben der formalen Logik.

Ein Themengebiet im geplanten SPP wird sein, wie die Kompetenz von Menschen zu erklären ist, Schlüsse zu ziehen, die mit den Normen der Logik und Wahrscheinlichkeit übereinstimmen, und warum Menschen in anderen Fällen oft von diesen Regeln abweichen. Im SPP wird dabei eine große Rolle spielen, dass möglicherweise zwischen verschiedenen Typen von „Rationalität“ unterschieden werden kann. Das Verhalten von Personen kann „rational“ sein, wenn es am ehesten zur Erreichung eines Zieles beiträgt. Es kann aber auch „rational“ sein, weil es mit den Normen der Logik und Wahrscheinlichkeit übereinstimmt. Zu erklären, in welcher Beziehung diese verschiedenen Konzepte von Rationalität zueinander stehen, ist die große Herausforderung, die sich das Schwerpunktprogramm zur Aufgabe gestellt hat.

      

 

Kontakt:

Dr. Kai Hamburger

 

Allgemeine Psychologie und Kognitionsforschung

Fachbereich 06 der Justus-Liebig-Universität Gießen

Otto-Behaghel-Straße 10F

35394 Gießen

 

Herausgegeben von der Pressestelle der Universität Gießen, Telefon: 0641 99-12041