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Projektvorstellung

Projektvorstellung

Das durch die DFG geförderte Projekt untersucht Problematisierungen von gesellschaftlichem Wissen über die Geldwirtschaft und den Bereich des Monetären im Frankreich des langen 19. Jahrhunderts. Es geht um die Art und Weise, in der Literatur und Soziologie die Möglichkeiten und Grenzen von Wissen und die Handlungsfähigkeit in monetär vermittelten Verhältnissen reflektieren und darüber Probleme individueller Ethiken wie gesellschaftlicher Ordnungen verhandeln. Gefragt wird nach Zweifeln an der Begründbarkeit, Beobacht- und Mitteilbarkeit sowie Reproduktivität monetären Wissens, die in Literatur und Soziologie artikuliert werden.

Ausgehend von dem Befund, dass sich die Ökonomie, insbesondere die sich im 19. Jahrhundert popularisierende und an politischer Bedeutung gewinnende Geldwirtschaft – explizit die Kredit- und Finanzwirtschaft –, zu einem zentralen Bereich gesellschaftlicher Verhältnisse entwickelt, tritt diese für die Zeitgenoss:innen zunehmend auch als epistemisches Problem zutage. Als Problematik der Gesellschaft wird das Monetäre in erster Linie von der Romanliteratur und der entstehenden Soziologie thematisiert. Beide Diskurse raffinieren die Problematik als Kernkomponente des gesellschaftlichen Imaginären. Das Projekt erforscht dabei insbesondere, wie das Monetäre als epistemisches Objekt der Gesellschaft problematisiert wurde, d.h. in welcher Weise monetäres Wissen, sein Wissenswert, die Relevanz und die Grenzen monetären Wissens in Literatur und Soziologie als gesellschaftliches Problem thematisch und reflexiv wurden. Das Projekt unternimmt eine interdisziplinäre Rekonstruktion dessen, was wir als ‚ökonomischen Agnostizismus‘ bezeichnen: Die Frage lautet, durch welche literarischen und soziologischen Darstellungsformen die (Geld-)Wirtschaft als ein Bereich, über den Wissen nur begrenzt oder gar nicht möglich ist, für gesellschaftlich relevant gesetzt wird.

Die Forschung anleitend sind die drei Konzepte (1) Imagination, (2) Spekulation und (3) Szene.

1. Imagination:

Die miteinander verwandten Konzepte des Imaginären und der Imagination sind in der Literaturtheorie und -geschichte aufgegriffen worden, um einen sozialtheoretischen Punkt zu unterbreiten: nämlich, dass die Entdeckung des Eigenlebens der Gesellschaft und ihrer Differenz vom politischen Körper des Herrschers neue Formen der Imagination ermöglichte. Dieser Herangehensweise zufolge äußert sich das ‚gesellschaftliche Imaginäre‘ nicht allein durch politisch-performative Handlungen (Revolutionen, allgemeine Wahlen etc.), sondern wird in bestimmten ästhetischen Praktiken unterschiedlicher Genres, nicht zuletzt der (Roman-)Literatur, kultiviert.

2. Spekulation:

Eine besonders ausgeprägte gesellschaftliche Verve verlieh solchen das Imaginäre anrufenden Darstellungsverfahren eine bestimmte Problematisierung von Kredit-, Geld- und Finanzwirtschaft als Spekulation. Mit ist die Tätigkeit eines imaginierenden Geistes, insbesondere die Fähigkeit, in der Vorstellung Zukunftsszenarien auszubilden und damit auch den Handlungsspielraum in der Gegenwart zu vergrößern, benannt. Auf diese Weise verdichten sich Praktiken des Spekulierens und Konsums, soziologische Rationalisierungen von Kreditgeschäft als Vergrößerung ökonomischen Handlungsspielraums und literarische Reflexionen auf Spekulation als Faszinosum zu einem das gesellschaftliche Imaginäre befeuernden, moralisch aufgeladenen Konzept der Spekulation.

3. Szene:

Was in der historisch-imaginären Konstellation des 19. Jahrhunderts Literatur und Soziologie vereint, ist die Identifikation gesellschaftlicher Schauplätze oder Szenen, an denen sich das gesellschaftliche Imaginäre in Gestalt finanzieller Dynamiken exemplarisch zu erkennen gibt. Tendenziell anders als in der klassischen politischen Ökonomie und der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft werden bei der Konstruktion dieser Szenen nicht abstraktifizierte Modellkonstruktionen (wie etwa eine Robinsonsche Inselökonomie, ein Markt mit zwei Waren etc.), sondern konkrete gesellschaftliche ‚Bühnen‘ entworfen. Zugleich dienen diese Szenen einem ähnlichen Zweck wie jene Modellkonstruktionen, indem sie einen Darstellungsanspruch auf einen bestimmten Sachverhalt erheben.

Aufgefächert ist das Projekt auf die Untersuchungsbereiche von Literatur und Soziologie, die durch die Teilprojekte in einzelnen Arbeitsvorhaben untersucht werden.

Romanistisches Teilprojekt

Das romanistische Teilprojekt widmet sich der Rolle der Ökonomie in der französischen Literatur des langen 19. Jahrhunderts, insbesondere im sich neu formierenden Medium des Romans. Im Fokus der Untersuchungen stehen vielfältige Möglichkeitsformen und Grenzen ökonomischen Wissens in literarischen Texten sowie dessen literarische (Nicht-)Darstellbarkeit.

Mit der Französischen Revolution vollzog sich die Transformation der Institutionen des gesellschaftlichen Lebens in Frankreich sehr viel radikaler als etwa in England. Vor allem die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Belle Époque sind von wichtigen wirtschaftlichen Entwicklungen geprägt, die in die Literatur der Zeit Eingang finden. So wird der französische Roman zu einem privilegierten Ort der Auseinandersetzung mit drängenden sozialen Fragen.

Das Arbeitsvorhaben setzt sich zum Ziel, Formen der Reflexion, des Zweifel(n)s und der Spekulation in Bezug auf ökonomisches Wissen in der französischen Literatur des langen 19. Jahrhunderts zu untersuchen, d. h. zu analysieren, wie diese angesichts wachsender Handlungsautonomie im Kontext liberaler Marktgesetze in verschiedenen Szenarien verhandelt und ausgehandelt werden, wobei Genderperspektiven und soziale Fragestellungen besonderes Gewicht erhalten.

Untersucht werden (1) die Frage nach der Perspektivierung ökonomischen Wissens am Beispiel ausgewählter Szenarien im Kontext der Formexperimente von Roman und Novelle des 19. Jahrhunderts und (2) die Vermittlung eines spezifisch weiblich kodierten ökonomischen Agnostizismus in Texten weiblicher Autorinnen und die Suche nach neuen Formen der Adressierung von Frauen als ökonomische Akteurinnen sowie die Perspektivierung von französischen Autorinnen der Epoche als Ökonominnen.

Soziologisches Teilprojekt

Der am Institut für Soziologie durchgeführte Projektteil widmet sich der französischen Soziologie, die sich mit der Bedeutung der durch die Industrialisierung ausgelösten gesellschaftlichen Umbrüche befasste und insofern ein gesteigertes Interesse an makroökonomischen Prozessen und ihren Folgen aufwies.

Hierzu werden Untersuchungen (1) im Umfeld von Frédéric Le Plays ‚économie sociale‘, die sich mit empirischen Untersuchungen der Arbeiterklasse und ihren budgetären und haushalterischen Praktiken befasste, durchgeführt. Weiterhin wird (2) der Kreis um Èmile Durkheim, dessen Angehörige, allen voran François Simiand, bei der Formierung eines allgemeinen soziologischen Paradigmas auch auf ökonomische Sachverhalte Bezug nahmen und in diesen einen Schlüssel zum soziologischen Verständnis der Gegenwartsgesellschaft sahen, untersucht.

Während sich die beiden Ansätze hinsichtlich ihrer politischen Stoßrichtung und dem Ort, den sie jeweils der Sozialforschung zudachten, stark unterscheiden, weisen sie für das Projekt wichtige Gemeinsamkeiten und Komplementaritäten auf. Sowohl Le Plays als auch Durkheims Kreis wirkten in Kooperation mit staatlichen Stellen und formulierten den Anspruch, sozialwissenschaftliches Wissen zu sammeln, zu erweitern und zu vertiefen.

Beide taten sich bei der Einrichtung von Publikationsorganen hervor, die der Etablierung des je eigenen, sozialwissenschaftlichen Standpunktes und seiner Methodologie dienen sollten. So gab Le Play seit der Gründung der Société d’economie sociale (1856) die Buchreihe Les ouvriers de deux mondes heraus, die nicht nur vergleichende Untersuchungen zur Arbeiterklasse in Europa und den USA präsentierte, sondern auch die von Le Play begründete ‚monografische Methode‘popularisieren sollte. Der Durkheim-Kreis lancierte mit der ersten Folge der Année sociologique (Jahrgänge 1896-1912) und Notes critiques – sciences sociales (1900–1906) Periodika, welche den positivistischen soziologischen Ansatz durch Rezensionen, soziologische Lektüren und Kritiken vertreten sollte.