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Auf dieser Seite entstehen in unregelmäßigen Abständen Beiträge zu unterschiedlichen Themen und Facetten von Medialität, Digitalisierung und daraus erwachsenen Entwicklungen und Veränderungen. Diskutieren Sie mit! Wir freuen uns auf Ihre Kommentare und Ideen.
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Wissenschaft goes Barcamp?! Von Praktiker*innen lernen
(8.7.2022, Dinah Leschzyk)
Wie kommunizieren staatliche Einrichtungen, Medien und andere Akteur*innen im Internet über Risiken? Welche Darstellungsformen können hierzu sinnvoll eingesetzt werden? Wie werden behördliche Social-Media-Inhalte von Influencer*innen bearbeitet und weiterverwendet? – Mit Analysen zu diesen und weiteren Fragen nahm Dr. habil. Dinah Leschzyk am Barcamp Politoscope zur politischen Online-Kommunikation teil, welches am 19. Mai 2022 in der Landesvertretung Baden-Württemberg in Berlin stattfand. In ihrem Blogbeitrag erzählt sie von der Spannung vor ihrem Pitch und nennt den Austausch unter den „Teilgeber*innen“ eine „Gelegenheit par excellence zur Kommunikation von Wissenschaft und zur Vernetzung von Wissenschaft und Praxis“.
Warmlaufen der Männer statt Siegerehrung der Frauen - Klare Positionierung der ARD im DFB-Pokalfinale 2020
(08.07.2020, Sophie Engelen und Dinah Leschzyk)
Am 4. Juli 2020 hat die ARD das Finale im DFB-Pokal der Frauen zwischen dem VfL Wolfsburg und der SGS Essen ausgestrahlt, das mit 7:5 für den VfL Wolfsburg ausging. Doch statt die Siegerehrung zu zeigen, wechselte die Übertragung zur Vorberichterstattung der Männer, weil es keinen Spielraum mehr dafür gab, so die ARD. Noch immer werden Frauen im Sport diskriminiert - besonders im Fußball.
Homeoffice - Ein zweifelhaftes Glück
(14.04.2020, Dorothée de Nève )
Es herrscht gerade kein Mangel an gutgemeinten Tipps zum Thema Homeoffice. Dabei geht es vor allem um Fragen der Einrichtung des heimischen Arbeitsplatzes, um rechtliche Belange und um gute Strategien im Umgang mit potenziellen Ablenkungen. Das Thema steht jetzt in der Corona-Krise urplötzlich ganz oben auf der Agenda. Selbst Arbeitgeber*innen, die vorher tausend Gründe fanden, individuelle Ansuchen auf Arbeit im Homeoffice aus grundsätzlichen Erwägungen abzulehnen, erwarten nun von ihren Mitarbeiter*innen, dass sie sich über Nacht im eigenen Zuhause einen Arbeitsplatz einrichten und loslegen. Bisher schien die Arbeit am heimischen Schreibtisch oft mit fast unüberwindbaren bürokratischen, sicherheitstechnischen und organisatorischen Hürden verbunden, die nun in Zeiten der Krise scheinbar leichtfüßig überwunden werden.
Europa vor der Wahl - Zur Relevanz der Europawahlen am 26. Mai 2019
(07.05.2019, Verena Schäfer-Nerlich)
Mit der Wahl des Europäischen Parlaments am 26. Mai 2019 steht die EU und damit auch Europa vor einem Scheideweg. In diesem Beitrag diskutiere ich die Relevanz und Tragweite der Europawahlen in Hinblick auf aktuelle politische Entwicklungen. Die anstehende Wahl ist nicht nur ein Bekenntnis für oder gegen Europa und die damit verbundenen Werte, sondern bestimmt auch maßgeblich, wie sich Europa in der Zukunft verändern wird und inwiefern die EU eine geeignete politische Handlungsebene für transnationale und globale Herausforderungen ist.
Politische Akteur*innen in den Medien – Die solidarische Gesellschaft sichtbar machen
(23.01.2019, Johannes Diesing)
Welche Rolle spielt das Verhalten von Politiker*innen und Bürger*innen in Bezug auf Konfliktsituationen wie beispielsweise die Ereignisse in Chemnitz im verganenen Sommer? In meinem Beitrag betrachte ich diese Vorkommnisse mithilfe der Begriffe Framing , Certification und Decertification aus Sicht der Bewegungsforschung. Dabei hebe ich die wichtige Aufgabe der Politiker*innen hervor, auf ihre eigene Sprache zu achten und Bürger*innen zu unterstützen, die sich für die solidarische Gesellschaft und deren Sichtbarkeit einsetzen.
Digitalisierung - Verheißung und Ernüchterung
(22.11.2018, Katrin Lehnen/Dorothée de Nève)
Digitalisierung ist in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Handlungsbereichen geworden. Mit unserem Beitrag wollen wir unterschiedliche Facetten dieses schillernden Begriffs beleuchten, unterschiedliche Dimensionen der Digitalisierung und potenzielle Folgen der Digitalisierung skizzieren.
de Nève, Vogelsberg, April 2020
Foto: Sophie Engelen.
Screenshot eines Tweets zur Kritik an der ARD Übertragung. Foto: privat.
Tweet zur ARD Übertragung. Foto: Sophie Engelen.
Dinah Leschzyk eröffnet die Session mit einem Input zum laufenden Verbundprojekt MIRKKOMM, das auf die Optimierung der Risiko- und Krisenkommunikation von Regierungen, Behörden und Organisationen der Gesundheitssicherung zielt. Im Bild ist eine PowerPoint-Folie zu sehen, die die verschiedenen Phasen der Corona-Pandemie in Deutschland anhand eines Zeitstrahls zeigt. Foto: Steffen Kugler
Auf dieser Seite entstehen in unregelmäßigen Abständen Beiträge zu unterschiedlichen Themen und Facetten von Medialität, Digitalisierung und daraus erwachsenen Entwicklungen und Veränderungen. Diskutieren Sie mit! Wir freuen uns auf Ihre Kommentare und Ideen.
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Wissenschaft goes Barcamp?! Von Praktiker*innen lernen(8.7.2022, Dinah Leschzyk)
Wie kommunizieren staatliche Einrichtungen, Medien und andere Akteur*innen im Internet über Risiken? Welche Darstellungsformen können hierzu sinnvoll eingesetzt werden? Wie werden behördliche Social-Media-Inhalte von Influencer*innen bearbeitet und weiterverwendet? – Mit Analysen zu diesen und weiteren Fragen nahm Dr. habil. Dinah Leschzyk am Barcamp Politoscope zur politischen Online-Kommunikation teil, welches am 19. Mai 2022 in der Landesvertretung Baden-Württemberg in Berlin stattfand. In ihrem Blogbeitrag erzählt sie von der Spannung vor ihrem Pitch und nennt den Austausch unter den „Teilgeber*innen“ eine „Gelegenheit par excellence zur Kommunikation von Wissenschaft und zur Vernetzung von Wissenschaft und Praxis“.
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Warmlaufen der Männer statt Siegerehrung der Frauen - Klare Positionierung der ARD im DFB-Pokalfinale 2020(08.07.2020, Sophie Engelen und Dinah Leschzyk)
Am 4. Juli 2020 hat die ARD das Finale im DFB-Pokal der Frauen zwischen dem VfL Wolfsburg und der SGS Essen ausgestrahlt, das mit 7:5 für den VfL Wolfsburg ausging. Doch statt die Siegerehrung zu zeigen, wechselte die Übertragung zur Vorberichterstattung der Männer, weil es keinen Spielraum mehr dafür gab, so die ARD. Noch immer werden Frauen im Sport diskriminiert - besonders im Fußball.
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Homeoffice - Ein zweifelhaftes Glück
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Europa vor der Wahl - Zur Relevanz der Europawahlen am 26. Mai 2019
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Politische Akteur*innen in den Medien – Die solidarische Gesellschaft sichtbar machen(23.01.2019, Johannes Diesing)
Welche Rolle spielt das Verhalten von Politiker*innen und Bürger*innen in Bezug auf Konfliktsituationen wie beispielsweise die Ereignisse in Chemnitz im verganenen Sommer? In meinem Beitrag betrachte ich diese Vorkommnisse mithilfe der Begriffe Framing , Certification und Decertification aus Sicht der Bewegungsforschung. Dabei hebe ich die wichtige Aufgabe der Politiker*innen hervor, auf ihre eigene Sprache zu achten und Bürger*innen zu unterstützen, die sich für die solidarische Gesellschaft und deren Sichtbarkeit einsetzen. |
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Digitalisierung - Verheißung und Ernüchterung(22.11.2018, Katrin Lehnen/Dorothée de Nève)
Digitalisierung ist in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Handlungsbereichen geworden. Mit unserem Beitrag wollen wir unterschiedliche Facetten dieses schillernden Begriffs beleuchten, unterschiedliche Dimensionen der Digitalisierung und potenzielle Folgen der Digitalisierung skizzieren. |
Katrin Lehnen/Dorothée de Nève
Posted on Nov 22, 2018
Digitalisierung ist in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Handlungsbereichen geworden. Mit unserem Beitrag wollen wir unterschiedliche Facetten dieses schillernden Begriffs beleuchten, unterschiedliche Dimensionen der Digitalisierung und potenzielle Folgen der Digitalisierung skizzieren. Und Sie zur Diskussion einladen!
In der Wissenschaft verknüpfen sich unterschiedliche Ideen und Konzepte mit dem Begriff. Je nach Disziplin stehen soziale, gesellschaftspolitische, rechtliche, wirtschaftliche, pädagogische, linguistische, historische, kulturelle und/oder kognitive Aspekte im Vordergrund. Neben ihrer Relevanz als Thema und Gegenstand von Wissenschaft und Forschung ist Digitalisierung längst Medium wissenschaftlichen Handelns geworden und hat die Infrastrukturen und Daten wissenschaftlicher Erkenntnisbildung verändert. Digitale Forschungsinfrastrukturen (Datenbanken, Korpora, Digitalisate) und technologieunterstützte Verfahren der Sammlung, Aufbereitung, Automatisierung, Archivierung und Vernetzung von Daten führen zu anderen Möglichkeiten der Betrachtung und Erforschung disziplinenspezifischer Fragen (Lobin/Schneider/Witt 2018, Lobin 2018, 147ff.). Mit dem Begriff der Digitalisierung gehen damit neben der Untersuchung grundlegender, durch Digitalisierung angestoßener Entwicklungen und Veränderungen (z.B. veränderte Konzepte von Interaktivität) auch veränderte Methodologien einher, die sich auf das Wissenschaftsverständnis auswirken. Verändert haben sich dabei teilweise auch die Formen wissenschaftlicher Aushandlung (Gloning 2016, Fritz/Gloning 2011).
Digitalisierung – Gebrauchsmuster
In der Öffentlichkeit, vor allem der Politik, ist der Begriff der Digitalisierung Projektionsfläche und Verheißung für technologische und ökonomische Innovationen geworden. Digitalisierung wird in Deutschland dabei oft auf infrastrukturelle Aspekte reduziert, etwa auf die flächendeckende Breitbandversorgung mit Netzkapazitäten (Stadt vs. Land) oder auf die bessere Ausstattung von Schulen mit Hard- und Software (Schulen ans Netz). Digitalisierung bedeutet dann im Sinne der Daseinsvorsorge nicht viel mehr, als dass digitale Medien für alle jederzeit und zu gleichen Konditionen verfügbar werden. Quer durch fast alle Parteien und Parteiprogramme gilt Digitalisierung als Option für ökonomischen Erfolg und internationale Anschlussfähigkeit. Ein spezifischesVerständnis, was genauunter Digitalisierung verstanden wird und im Einzelnenmit ihr gemeint ist, wird nicht deutlich. So austauschbar, ja geradezu beliebig lesen sich Äußerungen und Statements von PolitikerInnen:
„Da ist es natürlich von entscheidender Bedeutung, dass wir im industriellen Bereich, insbesondere im Mobilitätsbereich bei der Digitalisierung vorne mit dabei sind. Bei der Digitalisierung im Konsumentenbereich haben wir den Anschluss ja verloren. Da nutzen wir alle asiatische oder amerikanische Geräte; daran haben wir uns gewöhnt – okay. Das werden wir auch so schnell nicht aufholen” (Merkel 2018).
„Es kann nicht sein, dass wir immer nur in Sonntagsreden über die Digitalisierung und die Notwendigkeit der Qualifizierung im digitalen Wandel reden. Wir müssen auch die Kreativität aufbringen, das mit konkreten Maßnahmen zu unterlegen und in die Qualifikation unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu investieren” (Nahles 2018).
„Die Digitalisierung kann unser Leben einfacher, besser und sicherer machen. Und sie birgt die Chance, einen erheblichen Beitrag zur Sicherung unseres Wohlstands in der Zukunft zu leisten“ (Lindner 2018).
Digitalisierung erscheint in den hier gesammelten Zitaten wie ein eigener, merkwürdig abgekapselter Bereich. Digitalisierung macht das Leben einfacher, besser, sicherer, ökonomisch attraktiver. Sie bleibt damit Mittel zum Zweck und hat rein instrumentellen Charakter. Es ist vermutlich nicht Aufgabe der Politik, zu einem differenzierten Begriffsverständnis beizutragen. Dennoch bleibt Digitalisierung als Begriff und Konzept im politischen Gebrauch merkwürdig einseitig und verwaschen einerseits und wird zur Projektionsfläche für Heilsversprechungen andererseits. Dabei bleibt freilich der Zusammenhang von Digitalisierung, Sicherheit und Wohlstand angesichts politischer Krisen und Sicherheitslücken – um mit Facebook und dem US-amerikanischen Wahlkampf (Bots, Trolls) nur zwei Stichworte zu nennen – weitestgehend unreflektiert.
Mit dem Begriff der Digitalisierung bzw. den dahinterstehenden technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen gehen hohe Erwartungen einher. Diese können auch – geradezu konträr zum populären Gebrauch in der Politik – in negativen Prophezeiungen und Drohszenarien Gestalt annehmen und zu ebenfalls einseitigen Zuschreibungen führen. Zum Beispiel im Bildungsbereich:
„Wir tun den Schülern keinen Gefallen, was ihre Gesundheit und ihre Bildung anbelangt, wenn wir Bildungseinrichtungen digitalisieren. Darüber müssen wir uns klar sein. Alles andere ist postfaktische Bildungspolitik. […] Ich sage, dass die Bildung schlechter wird, wenn Sie in der Schule mit digitalen Medien lernen. WLan im Klassenzimmer macht die Leistung um 18 Prozent schlechter, weil die Kinder mehr abgelenkt sind. Wenn Sie abgelenkteren Unterricht machen, werden die Schüler nicht schlauer“ (Spitzer 2018).
Digitalisierung wird hier tendenziell als etwas Externes, Hinzutretendes – ein Instrument, das man nutzen kann oder nicht - wahrgenommen. Folgt man Spitzers Darstellung, dann scheint noch völlig offen, ob wir Digitalisierung zulassen wollen oder nicht. Als handle es sich um eine Krankheit, die man (noch) wirkungsvoll bekämpfen kann. Durch eine Art Schutzimpfung, bei der man das Digitale einfach außen vorlässt. Während sich die Politik vom Virus infizieren lässt, warnt der Psychiater vor den Nebenwirkungen für SchülerInnen und lässt sich zu einer polemischen Zuspitzung wie jene der postfaktischen Bildungspolitik hinreißen. Da erscheint die exakte Zahl 18 („WLan im Klassenzimmer macht die Leistung um 18 Prozent schlechter“) und ihre unspezifische Begründung („weil die Kinder mehr abgelenkt sind“) einigermaßen fragwürdig. Und auch für diese Art von Skepsis gibt es ein verbreitetes Gegenmodell, das ebenfalls bei der Verallgemeinerung ansetzt. So etwa Gesche Joost, bis Juni 2018 Internetbeauftragte der Bundesregierung:
„Wir scheinen in Deutschland Angstdebatten zu lieben, wenn es zur Digitalisierung kommt. Hierzulande wird gerne und viel darüber geredet, wie gefährlich das Internet doch sei. Und soziale Medien werden sowieso verteufelt. Programmieren hat immer noch einen Nerd-Charakter. Wie soll man da in den Schulen Lust auf diese Themen machen? Wenn die Eltern in allen Zeitungen immer wieder lesen, wie furchtbar das Internet doch ist?“ (Joost 2018)
Stereotypen und Polemiken bestimmen die Zuschreibungspraxis: Was den Politikbereich oder öffentlichen Diskurs vielfach kennzeichnet, bleibt aber auch für andere Bereiche eine relevante Beobachtung. Was unter Digitalisierung verstanden wird und das, was andererseits mit ihr verbunden wird – Wirkungen, Möglichkeiten und Herausforderungen – variieren. Die Äußerung von Spitzer bildet mit Blick auf die Beschwörung von Gefahren der Digitalisierung eine Spitze des Eisbergs. Das Heilsversprechen und die stark technisch-infrastrukturelle Sicht auf Digitalisierungsfragen, die andererseits in der Politik häufig anzutreffen sind, bildet eine andere. Dazwischen stehen andere Bemühungen, z.B. das Bestreben, im Bereich der Bildung politische Initiativen mit medienspezifischen und mediendidaktischen Erfordernissen zusammenzubringen. Zu sehen ist das u.a. bei Tagungen, die dem bloßen Schlagwort der Digitalisierung den Wunsch nach inhaltlich orientierten und fachlich gesättigten Konzepten entgegensetzen:
„Aktuell wird das Thema Digitalisierung im Bildungsbereich in vielfältigen – auch politischen – Initiativen vorangetrieben. Dabei stehen häufig insbesondere infrastrukturelle Maßnahmen (die Entwicklung und Weiterentwicklung von Lerntechnologien, der Aufbau von Repositorien u.a.) im Vordergrund. Die Bereitstellung einer zeitgemäßen Infrastruktur stellt fraglos eine wichtige Vorbedingung für das Lehren und Lernen mit digitalen Medien dar. Mindestens ebenso wichtig sind aber aus Sicht der Fachdidaktiken Maßnahmen, die auf die Entwicklung, Dokumentation und Dissemination fach- und mediendidaktischer Konzepte (Lernszenarien) zielen, die dafür benötigt werden, um digitale Werkzeuge in Schule und Hochschule didaktischadäquatfür die Vermittlung der fächerspezifischen Lerninhalte und Kompetenzen einzusetzen“ (Call for Papers: Digitale Innovationen und Kompetenzen in der Lehramtsausbildung. Universität Essen Duisburg,www.uni-due.de/la-digital2019)
Die folgenden Ausführungen entfalten einige Facetten von Digitalisierung. Wir fragen nach den jeweiligen Ideen und analytischen Potentialen, die sich mit dem Begriff und den dahinterstehenden Konzepten auftun.
Digitalisierung – Perspektiven auf ein Konzept
Konzepte von Digitalisierung bleiben häufig lose. Sie umfassen u.a. technische, ökonomische, rechtliche, soziale und kulturelle Facetten.
In einem ersten Zugriff sind es vor allem die technischen Dimensionen, die den Begriff der Digitalisierung und seine Geschichte kennzeichnen. Digitalisierung bedeutet zunächst eine andere Repräsentation von Daten und ihre computergestützte Verarbeitung:
„Prinzipiell bedeutet „Digitalisierung“ die binäre Repräsentation von Texten, Bildern, Tönen, Filmen sowie Eigenschaften physischer Objekte in Form von aneinandergereihten Sequenzen aus „1“ und „0“, die von heutigen Computern mit extrem hoher Geschwindigkeit – Milliarden von Befehlen pro Sekunde – verarbeitet werden können. Die Digitalisierung fungiert gewissermaßen wie ein „Universalübersetzer“, der die Daten unterschiedlicher Quellen für den Computer bearbeitbar macht und damit viele Möglichkeiten bereitstellen, die ansonsten undenkbar wären“ (Hippmann/Klingner/Leis 2018, 9).
Unter Digitalisierung lässt sich in Folge eine „(…) technologiebetriebene Veränderung aller Bereiche der menschlichen Gesellschaft (…)“ verstehen (Weber 2018, 3). Das innovative Moment dieser technischen Entwicklung besteht nicht nur darin, dass analoge in digitale Signale transformiert werden, was für die Speicherung und weitere Verarbeitung von Informationen ganz neue Möglichkeiten bietet (vgl. Herzig/Martin 2018, 89). Vielmehr verändern sich durch diese technischen Innovationen die Möglichkeiten der Erschließung, Nutzung und Distribution von Daten. Die Triebkräfte dieser technologiebetriebenen Veränderungen beschreibt Henning Lobin in drei Entwicklungsstufen: „Automatisierung, Datenintegration und Vernetzung“ (Lobin 2014, 86). Sie sorgen für eine Beschleunigung und Verbreitung komplexer Datenmengen und -typen, die analog nicht zu leisten ist. Lobin spricht – in expliziter Abgrenzung zu dem, was zuvor Schriftkultur war – von einer Digitalkultur. Sie beruhe auf dem „digitalen Code“:
„Der digitale Code erlaubt das weitgehend fehlerfreie Kopieren und das Komprimieren von Daten. Darüber hinaus wurden durch die Digitalisierung und den Computer neue technische Möglichkeiten geschaffen, die die Digitalkultur prägen: die Automatisierung des Umgangs mit digitalen Daten, die ununterscheidbare Zusammenführung von Daten unterschiedlicher Art im digitalen Speicher und die Vernetzung von Computern“ (Lobin 2014, 211).
Die technischen Grundlagen der Digitalisierung bilden den Ausgangspunkt für vielfältige Prozesse der Entwicklung und des Wandels ökonomischer, rechtlicher, sozialer, sprachlicher, kultureller, politischer und bildungsbezogener Praktiken.
In Bezug auf die ökonomische und rechtliche Dimension der Digitalisierung sind Fragen der Bereitstellung und Verfügbarkeit von Ressourcen wie Technik, Knowhow und Zeit relevant. Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Digitalisierung haben sich Erwartungen an die staatliche Daseinsvorsorge verändert. Dabei geht es nicht „nur“ – wie die gegenwärtige politische Debatte gelegentlich vermuten lässt – um die Versorgung mit Breitbandkabel und kostenloses WLAN im öffentlichen Raum, sondern um die Hervorbringung neuer und die Erschließung bestehender Märkte. Digitale und analoge Märkte verlieren an Trennschärfe. Oder, wie es die EU-Kommissarin für den Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU, Elżbieta Bieńkowska, ausdrückt: „Digital- und Realwirtschaft sind nicht mehr zu trennen“ (Europäische Kommission 2016). Mit der Digitalisierung entstehen neue Güter und Marktwerte. Das sind u.a. die digitalisierten Daten selbst und die Daten der NutzerInnen digitalisierter Daten. Welche unterschiedlichen Interessen und Interessenskonflikte daraus entstehen können, ist in den letzten Jahren an verschiedenen Fällen, oft auch Skandalen, deutlich geworden. Ökonomische und rechtliche Dimensionen treten an Beispielen wie der Diskussion um Urheberrechte (Verlage, Bibliotheken) und der Vorratsdatenspeicherung zu Tage:
„Digitalisierung ist Wertversprechen, Geschäftsmodell, Architektur, Paradigma und Organisationsform gleichzeitig – dies erklärt, warum wir so gerne darüber reden aber in diesem Zuge dennoch so oft aneinander vorbeireden“ (Kellermann 2018).
Die Digitalisierung ist vor allem mit Blick auf ihre soziale Dimension augenfällig worden. Krabbes verwendet in diesem Kontext den Begriff der sozialen Digitalisierung (Krabbes 2017). Auch der Begriff der Kulturalität der Digitalisierung(Koch 2016, 7) erfasst, dass mit den technischen Entwicklungen weitreichende Veränderungen in der Anbahnung und Aushandlung sozialer Beziehungen einhergehen. Unter der Bedingung, dass Handlungskontexte und Räume zunehmend digital, d.h. virtuell und immateriell strukturiert sind und sich dabei in den letzten Jahrzehnten neue Formate der Kommunikation entfaltet haben (Facebook, Instagram, LinkedIn, Snapchat, Twitter, Xing etc.) entstehen potentiell andere Praktiken, die mit einem veränderten Habitus – einem digitalen Habitus – einhergehen. Ein zentrales Moment bildet außerdem die mit der Digitalisierung verbundene Selbstermächtigung von Personen, deren Rolle sich dank neuer technischer Möglichkeiten von RezipientInnen zu aktiven BürgerInnen wandelt.
Mit der Digitalisierung entstehen andere Räume der technischen und sozialen Vernetzung:
„Eine inzwischen unüberschaubare Vielfalt von Geräten und Anwendungen ermöglicht die Verschränkung unseres Handelns an konkreten Orten mit dem Handeln mit Anderen vermittels von Online-Kommunikation“ (Klemm/Staples/Wolter 2018, VII).
Die Digitalisierung hat insofern auch zu einer dynamischen Veränderung der Kommunikationskultur geführt, dies gilt sowohl für die Kommunikation in Institutionen wie Unternehmen, Parteien oder Hochschulen, als auch für die Interaktionen zwischen Gruppen und Individuen.
„Mit den strukturellen Besonderheiten der Digitalität ändern sich […] auch die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, insbesondere auch unsere kommunikative kulturelle, wirtschaftliche oder politische Partizipation […]“. (Einspänner-Pflock/Dang-Anh/Thimm 2014, 7).
Offen bleibt die Frage, inwiefern sich die Kommunikationskultur zwischen digital Natives und digital Immigrants substanziell unterscheiden. Digitale Kommunikation ist jedenfalls integraler Bestandteil (jeglicher) strategischer, interaktiver und produktiver Prozesse. Dabei geht es beispielsweise um eine digitale Profilbildung, die es AkteurInnen erlaubt, anonym zu kommunizieren und/oder ihre Identität selbstbestimmt zu konstruieren (Asenbaum 2017, 5). Eine zentrale Rolle spielen darüber hinaus Veränderungen der Feedbackkultur und der (unmittelbaren) Feedback- und Anerkennungserwartungen. Im Kontext der rapiden technischen Entwicklungen entstehen so einerseits Räume für Innovationen und Experimente, andererseits etablieren sich auch schnell neue normative Regeln für eine angemessene, korrekte Kommunikation, die sich etwa in Netiquetten oder NutzerInnenverträgen wieder finden, bis hin zu Versuchen der Kontrolle und Sanktionierung (vermeintlich) unangemessener Kommunikationsinhalte und -kulturen (Nocun 2017).
Digitalisierung – Wirkungen, Folgen, Befürchtungen
Die Verwendung von Informationstechnologie in Alltagsgegenständen wird als die Revolution des 21. Jahrhunderts wahrgenommen (vgl. Golz 2003, 2). Auch wenn die oben beschriebenen Entwicklungen kein Neuland sind, sondern sich über eine lange Zeit dynamisch (weiter-)entwickelt haben – von der Massenproduktion (Industrie 1.0), über die industrielle Produktion (Industrie 2.0) und Automatisierung (Industrie 3.0) bis hin zur Digitalisierung (Industrie 4.0) – werden die Folgen unterschiedlich abgesehen und kontrovers diskutiert. Anders als eingangs beschriebene, in der politischen Diskussion dominierende instrumentelle Verständnis von Digitalisierung werden im wissenschaftlichen Diskurs Wirkungen mit Blick auf die grundlegenden und tiefgreifenden Veränderungen im Denken und Handeln beschrieben. Nicht selten wird dabei für die gegenwärtigen und künftigen Entwicklungen der Begriff der Revolution bemüht (Krabel 2016, 2, vgl. Irion/Ruber/Schneider 2018, 41), um zu verdeutlichen, dass es sich um einen ebenso abrupten, wie nachhaltigen Strukturwandel handelt:
„Wahrscheinlich ist die auf den Möglichkeiten des Computers aufbauende Digitalisierung der Welt in ihren Wirkungen auf die Gesellschaft ähnlich revolutionär, wie es der Buchdruck für die Entstehung der modernen Welt war” (Nassehi 2017, 75).
Und ähnlich wie im Kontext früherer großer technischer Innovationen wird kritisch reflektiert, wie Menschen mit diesen umfassenden Veränderungen souverän umgehen können und sollen (vgl. Reinnarth 2018, 39). Digitalisierung ist so betrachtet häufig an normative Erwartungen geknüpft bzw. ein Feld normativer Aushandlung.
Die auf technischen Entwicklungen basierenden Veränderungen, so wie sie weiter oben beschrieben wurden, zeigen, dass diese Veränderungen unmittelbar mit anderen Veränderungen verknüpft sind: Digitalisierung bedeutet mehr als ein veränderter Daten-Standard. Automatisierung, Datenintegration und Vernetzung, so wie sie Lobin als „Triebkräfte“ der Digitalkultur beschreibt, sind nicht einfach Beschleuniger bestehender Prozesse, sie verändern die Hervorbringung, Darstellung und Nutzung von Daten qualitativ, d.h. vor allem die Art unseres alltäglichen Umgangs mit Daten. Dies gilt zum Beispiel für die Frage, wie wir lesen und wie wir schreiben und wir das kognitiv bewältigen.
„Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, und wenn sich die technischen Voraussetzungen verändern, verändert sich auch das Lesen und Schreiben selbst. Wir lesen und schreiben anders, wenn es hybrid, multimedial und sozial geschieht – was wir lesen, nehmen wir anders auf, was wir schreiben, sieht anders aus und ist anders aufgebaut. Neben den institutionellen Veränderungen nach dem Ende der Schriftkultur wird es deshalb auch Veränderungen in jedem Einzelnen von uns geben. Unsere Gehirne passen sich den Bedingungen des digitalen Lesens und Schreibens an, schriftliche Informationen werden kognitiv anders verarbeitet und gespeichert, werden uns ganz anders prägen. Unser Denken erfährt eine Kolonisierung durch den Computer und die digitale Schrift, wo wie es früher durch das Buch mit seiner gedruckten Schrift kolonisiert war“ (Lobin 2014, 20).
Angenommen wird, dass die Digitalisierung als Innovationsstrategie bzw. -kultur letztlich zu „(…) einem neuen „digitalen Weltbild“ für die digitale Gesellschaft (…)“ (Weber 2018, 6) führen wird. Nicht nur die Disponibilität von Informationen und die Kommunikation verändern sich, erwartbar sind vielmehr, so Weber, „(…) auch Veränderungen der menschlichen Wahrnehmung und des menschlichen Handelns (…)“ (Weber 2018, 6).
Offen ist, wie Veränderungen bewertet werden. Der Begriff Digitalisierung erscheint dabei fast wie ein Reizwort und löst abwechselnd Euphorie und Ängste aus. Zugespitzt formuliert, steht zur Disposition, ob diese Innovationen eher zu Optimierungen führen oder aber mit fragwürdigen Tendenzen der (Selbst-)Optimierung einhergehen, die eine vermeintliche Effizienzsteigerung erzielen, gleichzeitig jedoch unerwünschte bzw. erhebliche Nebenwirkungen bedingen. Ein Beispiel hierfür sind etwa die Debatten um gläserne PatientInnen. Das schließt grundlegende Fragen nach Autonomie, Selbstbestimmung und Partizipation ein, und zwar in dem Wissen oder der Befürchtung, dass die Herrschaft über diese technischen Entwicklungen weitgehend verloren geht und an die Technik bzw. indirekt an kommerzielle Akteure abgegeben wird. Während kognitive Prozesse irgendeiner Art bislang an das menschliche Gehirn gebunden waren, sind nunmehr vernetzte Computer und ihre Programme in der Lage, intelligentes menschliches Verhalten zu simulieren. Damit, konstatiert Lobin, habe der der Mensch diese seine letzte Exklusivität verloren (Lobin 2017, 220ff.).
Mit der Digitalisierung verbindet sich die Hoffnung, verkrustete Strukturen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens aufzubrechen. Dies gilt sowohl für die hierarchischen und veralteten Strukturen in Bildungseinrichtungen und -prozessen, als auch für die ineffiziente, überbürokratisierte Verwaltung, die intransparente Politik der Hinterzimmer bis hin zum Aufbrechen sozialer Kontrollen und Grenzen (Weber 2018, 7). In einem weitreichenden Sinne sind davon auch das Demokratieverständnis (Asenbaum 2017) sowie die Forderungen nach mehr und konstanter Teilhabe betroffen.
Mit unserem Beitrag wollten wir unterschiedliche Facetten des Digitalisierungsbegriffs und potenzielle Folgen der Digitalisierung skizzieren. Dabei handelt es sich um einen offenen Denkprozess der (Selbst-)Klärung, der zweifellos weiterer Reflexionen und Debatten bedarf. Insbesondere gilt es für uns, einen interdisziplinären Zugang zu erschließen, der auch den omnipräsenten ideologischen Balast übertriebener Verheißungserwartungen und apokalyptischer Zukunftsszenarien abwirft.
Literatur
Asenbaum, Hans (2017): Revisiting E-topia: Theoretical Approaches and Empirical Findings on Online Anonymity, in: Centre for the Study of Democracy, Working Paper Series No. 2017/3, Link: https://www.academia.edu/35869465/Revisiting_E-topia_Theoretical_Approaches_and_Empirical_Findings_on_Online_Anonymity (Access: 03.11.2018).
Einspänner-Pflock, Jessica/ Dang-Anh, Mark/ Thimm, Caja (Hrsg.) (2014): Digitale Gesellschaft – Partizipationskulturen im Netz. Bonner Beiträge zur Onlineforschung, Bd. 4, hrsg. v. Caja Thimm, Berlin: Lit. (Rezension auf politik-digital.de)
Europäische Kommission (2016): Die Kommission ebnet den Weg für die Digitalisierung der europäischen Industrie (Pressemitteilung, 19.04.2016). Link: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-1407_de.pdf (Access: 17.09.2018).
Gloning, Thomas (2016):
Neue mediale Formate und ihre kommunikative Nutzung in der Wissenschaft.
Fallbeispiele und sieben Thesen zum Praktiken-Konzept, seiner Reichweite und seinen Konkurrenten. In: Deppermann, Arnulf/ Feilke, Helmuth/ Linke, Angelika (Hrsg.):
Sprachliche und kommunikative Praktiken.
Berlin/Boston: de Gruyter, S. 457-486.
Gloning, Thomas/ Fritz, Gerd (Hrsg.) (2011): Digitale Wissenschaftskommunikation. Formate und ihre Nutzung. Gießen: Gießener Elektronische Bibliothek.
Open Access:
http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2011/8227/
Golz, Hans-Georg (2003): Editorial. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 42. Jahrgang, Band 42, S. 2.
Herzig, Bardo/ Martin, Alexander (2018): Lehrerbildung in der digitalen Welt, in: Silke Ladel/ Julia Knopf/ Armin Weinberger (Hrsg.): Digitalisierung und Bildung, Wiesbaden: Springer, 89-113
Hippmann, Sophie/Klingner, Raoul/Leis, Miriam (2018): Digitalisierung – Anwendungsfelder und Forschungsziele, in: Neugebauer, Reihmund (Hrsg.): Digitalisierung. Schlüsseltechnologien für Wirtschaft & Gesellschaft, Berlin/Heidelberg: Springer, 9-18
Irion, Thomas/ Ruber, Carina/ Schneider, Maja (2018): Grundschulbildung in der digitalen Welt. Grundlagen und Herausforderungen, in: Silke Ladel/ Julia Knopf/ Armin Weinberger (Hrsg.): Digitalisierung und Bildung, Wiesbaden: Springer, 39-57
Joost, Gesche (2018): Antwort im Interview mit Code Your Life. In: Code Your Life (Hrsg.): Ein Gespräch mit Gesche Joost. Online unter: https://www.code-your-life.org/Blog/Interviews_zum_Thema/1282_Ein_Gespraech_mit_Gesche_Joost.htm (Letzter Zugriff: 17.09.2018)
Kellermann, Timm (2018): Statement zur Digitalisierung im Rahmen der Tagung ‚Mobilität 2100 Digitalisierung – Vernetzter Alltag‘ der Fraport AG. Online verfügbar: https://www.fraport.de/content/fraport/de/misc/binaer/nachbarschaft-region/engagement-events/natur--und-umweltschutz/tagung--mobilitaet-2100--2018/tagungsband-2018/jcr:content.file/tagungsband-mobilitaet-2100-2018.pdf (Access: 17.09.2018).
Klemm, Matthias/ Staples, Ronald/ Wolter, Marthe Judith (2018): Einleitung. Leib und Netz und die Sozialwissenschaften, in: Klemm, Matthias/ Staples, Ronald (Hrsg.): Leib und Netz. Sozialität zwischen Verkörperung und Virtualisierung. Wiesbaden: Springer VS, S. V-XV.
Koch, Gertraud (2016): Einleitung. Digitalisierung als Herausforderung der empirischen Kulturanalyse, in: Koch, Gertraud (Hrsg.): Digitalisierung. Theorien und Konzepte für die empirische Kulturforschung, Herbert von Halem Verlag: Köln, S. 7-20.
Krabbes, Stefan (2017): Soziale Digitalisierung – Wie wir die digital Transformation gestalten müsse, Blog: Stefan Krabbes, 14.11.2017, verfügbar unter: http://stefan-krabbes.de/soziale-digitalisierung-wie-wir-die-digitale-transformation-gestalten-muessen/ . (letzter Zugriff 12.09.2018).
Krabel, Stefan (2016): Digitalisierung und Arbeitsmarkt. Ein neuer Ansatz zur Analyse der Beschäftigungsentwicklung in Abhängigkeit, in: iit Perspektive, Working Paper of the Institute for Innovation and Technology, Nr. 30, verfügbar unter: https://www.iit-berlin.de/de/publikationen/arbeitsmarkt-und-digitalisierung-ein-neuer-ansatz-zur-analyse-der-beschaeftigungsentwicklung-in-abhaengigkeit-von-kenntnissen-und-kompetenzen/at_download/download . (letzter Zugriff: 12.11.2018).
[NF1] Lindner, Christian (2018): Ein Weltmeisterplan für die Digitalisierung (Gastbeitrag). Handelsblatt, 31.08.2018, Link: https://www.liberale.de/content/lindner-gastbeitrag-ein-weltmeisterplan-fuer-die-digitalisierung (Access: 17.09.2018).
Lobin, Henning (2014): Triebkräfte der Digitalisierung, Blog: Engelbart-Galaxis, 06.08.2014, verfügbar unter: https://scilogs.spektrum.de/engelbart-galaxis/triebkraefte-der-digitalisierung/ (letzter Zugriff: 12.09.2018).
Lobin, Henning (2017): Die digitale Revolution und andere Niederlagen der Menschheit, Blog: Engelbart-Galaxis, 15.09.2017, verfügbar unter: https://scilogs.spektrum.de/engelbart-galaxis/die-digitale-revolution-und-andere-niederlagen-der-menschheit/ (letzter Zugriff: 12.09.2018)
Lobin, Henning (2018): Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache. Stuttgart: Metzler
Lobin, Henning/ Schneider, Roman/ Witt, Andreas (Hrsg.) (2018): Digitale Infrastrukturen für die germanistische Forschung. Berlin/New York: de Gryuter (Germanistische Sprachwissenschaft um 2020, Bd. 6).
Merkel, Angela (2018): Wortbeitrag im Deutschen Bundestag während der Ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2018 (Haushaltsgesetz 2018)/Drucksache 19/1700., in: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Stenografischer Bericht der 32. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 16. Mai 2018 (Plenarprotokoll 19/32), Link: http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19032.pdf (Access: 17.09.2018).
Nahles, Andrea (2018): Wortbeitrag im Deutschen Bundestag während der Ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2018 (Haushaltsgesetz 2018)/Drucksache 19/1700, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Stenografischer Bericht der 32. Sitzung, Berlin, Mittwoch, den 16. Mai 2018 (Plenarprotokoll 19/32), Link: http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/19/19032.pdf (Access: 17.09.2018)
Nassehi, Armin (2017): Die letzte Stunde der Wahrheit: Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft. Hamburg: Murmann.
Nocun, Katharina (2017): Kein „Like“ für das Facebook-Gesetz, in: Handelsblatt, 20.06.2017, Link: https://www.handelsblatt.com/meinung/kolumnen/expertenrat/nocun/expertenrat-katharina-nocun-kein-like-fuer-das-facebook-gesetz/19951724.html (Access: 03.11.2018).
Reinnarth, Jörg (2018): Digitalisierung 4.0, in: Reinnarth, Jörg/ Schuster, Claus/ Möllendorf, Jan/ Lutz, André (Hrsg.): Chefsache Digitalisierung 4.0, Wiesbaden: Springer, S.39-43
Spitzer, Manfred (2018): Antwort im Interview mit Tobias Armbrüster, in: Digitales Klassenzimmer: Psychiater: Wenn Kinder nur wischen, haben sie einen Nachteil, Link: https://www.deutschlandfunk.de/digitales-klassenzimmer-psychiater-wenn-kinder-nur-wischen.694.de.html?dram:article_id=412480 (Access: 17.09.2018).
Weber, Herbert (2018): Digitalisierung im öffentlichen Diskurs, in: Weber, Herbert/Viehmann, Johannes (Hrsg.): Unternehmens-IT für die Digitalisierung 4.0, Wiesbaden: Springer VS, S. 3-13
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Johannes Diesing
Posted on Jan 23, 2019
In der Diskussion um eine Überrepräsentation von rechtspopulistischen Politiker*innen und deren Themen in den Talkshows des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat die breite Öffentlichkeit den in der Bewegungsforschung und der Kommunikationswissenschaft verwendeten Begriff des Framings kennengelernt. Für das Verständnis der Misere im Bundesland Sachsen, infolge der Ereignisse von Chemnitz im August und September, ist es nun sinnvoll, einen weiteren Begriff der Bewegungsforschung zu erklären, den der
Certification
und
Decertification
. Denn es kommt nicht nur darauf an, wie Journalist*innen und Politiker*innen über die Gestaltung ihrer Sprache bestimmte Deutungsrahmen setzen. Speziell im Fall des Umgangs mit rechter Gewalt in Sachsen gibt es hinzukommend eine Problematik der Aufwertung und Bestätigung bestimmter Selbstbilder der Bewohner*innen Sachsens durch die konservative Landesregierung sowie zur Abwertung und Verwerfung anderer Problemdeutungen. Dies hat für die Arbeit einer kritischen Zivilgesellschaft in einer pluralen demokratischen Kultur ganz praktische Folgen.
Seit etwa zwei Jahren hat der Begriff des Framings in den Medien eine Konjunktur erlebt. Im Zuge dieser Entwicklung reflektierten Journalist*innen selbstkritisch die Wirkung ihrer Sprache sowie die von veröffentlichten Bildern zur Illustration von Berichterstattung (Schwarz 2016; Riedl 2017; Lübberding 2018). Die Süddeutsche Zeitung führte sogar eine Reihe mit dem Titel Framing Check ein, in deren Rahmen aufgezeigt werden sollte, wie sich mit Begriffen Politik machen lässt – und so bewusst manipuliert werden soll (o.A. 2018a). Eine Autorin, deren Arbeit im Zuge dieser jüngsten Konjunktur des Framingbegriffs stark rezipiert wurde, ist Elisabeth Wehling (2017). Wehlings Frameanalyse wird aus der Perspektive der Kognitionspsychologie vorgenommen. Ihr Gegenstand sind u.a. die emotionalen Wirkungen von Situationsdeutungsprozessen auf der Seite des Individuums. Im Unterschied dazu wurden in der Bewegungsforschung unter dem Stichwort der Frameanalyse kollektive Sinnbildungsprozesse untersucht. Bei dieser Analyse der symbolischen Produktion von Sinnzuschreibungen in Situationen des sozialen Konflikts wurde klassischerweise zwischen drei Dimensionen des Framings unterschieden: der diagnostischen, der prognostischen und der motivationalen Dimension (Della Porta und Diani 2006, 75). Durch die Sinnzuschreibungsarbeit eines diagnostischen Frames wird Della Porta und Diani (2006) zufolge ein Phänomen erst als soziales Problem, das einer kollektiven Lösung zugeführt werden kann, verfügbar. Soziale Ungleichheit verwandelt sich so von einer naturgegebenen Tatsache in eine Gerechtigkeitsfrage. Im Falle der prognostischen Dimension des Framings wird die kollektive Interpretationsarbeit auf die Zukunft und die Lösung von identifizierten Fragen hin ausgerichtet (Della Porta und Diani 2006, 77). In der motivationalen Dimension des Framings werden schließlich Überzeugungen von Wirkmächtigkeit eines gemeinsamen Handelns hergestellt. Um die unbekannten Kosten und Risiken des Handelns auf sich zu nehmen, ist erforderlich, dass die Beteiligten von der Möglichkeit, Praktikabilität und Legitimität ihres Handelns überzeugt werden (Della Porta und Diani 2006, 79).
Framing sollte im Kontext von Protest und sozialer Bewegung aber nicht ausschließlich als eine Art von strategischer Kommunikation missverstanden werden. Cristina Flesher-Fominaya (2014) hat darauf hingewiesen, dass eine wichtige Leistung von Protestbewegungen in der kollektiven Produktion von Wissen besteht (Flesher-Fominaya 2014, 15). In Bezug auf diese Annahme gehe ich von vier weiteren Thesen zur gemeinsamen Wissensproduktion aus:
Erstens : Das kollektive Wissen einer Bewegung ist etwas anderes als das (bspw. wissenschaftliche) Wissen aus der Perspektive der ersten Person Singular. Kollektives Wissen einer Bewegung ist aus der Perspektive einzelner beteiligter Individuen nicht vollständig, abgeschlossen oder umfassend verfügbar (wie die nachlesbaren technischen Eckdaten eines Diesel-PKW, die Inhaltsangabe eines Romans oder der Lösungsweg einer mathematischen Aufgabe). Zum Beispiel können in der Regel nicht alle bzw. nur sehr wenige Teilnehmer*innen an einem kollektiven Protesthandeln auch politisch-theoretisch ergiebige und systematische Analysen der Ausgangssituation ihres eigenen Handelns sowie der Strategie und Taktik zur Veränderung dieser Situation angeben. Gleichwohl gehen Menschen auf die Straße und engagieren sich politisch. Um aber eine Demonstration oder eine Blockade zum Erfolg zu führen, ist die Größe der Menge an Teilnehmenden an der kollektiven Handlung allerdings auch wichtiger als die Fähigkeit aller Beteiligten, umfassend über ihre Praxis Auskunft geben zu können. Gleichwohl wissen die Beteiligten über ihr Handeln Bescheid, sie wissen aber etwas Anderes als der unbeteiligte Betrachter im Armsessel.
Zweitens : Partizipation von Individuen an kollektivem Handeln erschließt ihnen im Handlungsvollzug Zugänge zum kollektiven Wissen und bringt dieses Wissen zugleich auch mit hervor bzw. bekräftigt oder verändert das kollektive Wissen. Menschen, die bspw. eine Facebook-Gruppe gründen und moderieren, welche ein wichtiger Organisationskern für Protest wird, lernen in der Regel erst im Laufe des Prozesses per trial and error (was staatliche Repression ausdrücklich einschließt), wie eine politische Mobilisierung gut funktioniert.
Drittens : Neben der aktiven Teilnahme an kollektiven Handlungen wird das kollektive Wissen auch über die sprachlich-vermittelten Sinnbildungsaktivitäten auf symbolischer Ebene verfügbar (und damit auch für Forscher*innen zugänglich). Pamphlete, Reden oder aktivistische- und journalistische Berichte, die nach der kollektiven Handlung verfasst werden, liefern Deutungen über das gemeinsam Erlebte, die es auch Menschen, die nicht an der Handlung beteiligt waren erlauben, etwas über den Protest zu verstehen.
Viertens : Die Überzeugungskraft der sprachlich-vermittelten Sinnbildungsaktivitäten hängt dabei von den Handlungen ab, auf die sie sich beziehen. Je dichter die Bezugnahme am Erleben der Beteiligten ansetzt, desto plausibler erscheint die Ausführung der Deutungen über das Handeln (siehe auch: Della Porta und Diani 2006, 81).
Diese Überlegungen sind insofern wichtig, als Bürger*innen nicht allein und möglicherweise nicht einmal hauptsächlich demonstrieren gehen, um eine konkrete Forderung zu adressieren oder mit ihrem politischen Handeln gar ein konkretes Ziel unmittelbar zu erreichen. Gleichwohl bietet jedes gemeinsame Handeln in der Öffentlichkeit, je nachdem wie es jeweils abläuft, die Gelegenheit etwas zu lernen sowie die bisherigen Überzeugungen und Perspektiven zu überprüfen und ggf. neu zu justieren. Die gemeinsamen Erfahrungen zu verarbeiten und sich anhand dieser Erfahrungen eine Meinung zu bilden, heißt an einer kollektiven Produktion von Wissen teilzuhaben.
Die bisherige Debatte von Journalist*innen und Kommunikationswissenschaftler*innen über rechten Protest und rechte Empörung tendiert oftmals wie bei Wehling (2017) dazu, ihren Fokus auf eine Interaktion von Sender*innen und Empfänger*innen zu beschränken. In zugespitzten Situationen wie in Chemnitz, die jederzeit ausbrechen können, gibt es allerdings eine komplexere Interaktion. Neben dem wichtigen Bewusstsein für die Macht der eigenen Wortwahl ist es daher sinnvoll, den Blick zu erweitern. Denn neben Sender*innen in Politik und Medien auf der einen Seite und den Empfänger*innen in der breiten Öffentlichkeit auf der anderen Seite, spielt auch das Verhalten von Dritten eine Rolle für den weiteren Fortgang der Ereignisse. Es ist also nicht nur wichtig, auf die unterschiedlichen Deutungsrahmen innerhalb einer öffentlichen Auseinandersetzung zu schauen, sondern auch darauf, welche der konkurrierenden Deutungen durch das Verhalten von Dritten auf- oder abgewertet werden. Hierbei ist besonders zu betrachten, welche Deutungen sich gegenüber anderen Ansätzen durchsetzen können. Charles Tilly, Doug McAdam und Sidney Tarrow haben für diese Auf- und Abwertungsprozesse der Akteur*innen, ihrer Handlungen sowie ihrer Deutungsrahmen den Begriff der Certification bzw. Decertification geprägt (McAdam et al. 2008, 145 ff.).
Entscheidend ist also nicht nur, welche Deutungsrahmen durch eine Formulierung in eine öffentliche Debatte eingespeist werden. Wichtig ist vielmehr, wie sich andere Akteur*innen im weiteren Fortgang der Ereignisse verhalten. Das Verhalten von Dritten kann das Agieren von Konfliktparteien auf- oder abwerten. Neben unmissverständlichen Solidaritätsadressen, deren Absicht und Ziel für die Öffentlichkeit klar zu erschließen sind, ist hier auch an nicht intendierte Nebenfolgen zu denken, die durch die Signalwirkungen des (Nicht-)Handelns von wichtigen Akteur*innen ausgehen können.
Chemnitz, Sachsen und die verleugnete Gefahr von Rechts
Nach den Ereignissen in Chemnitz äußerte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), dass der Kampf gegen Rechts aus der Mitte der Gesellschaft geführt werden müsse. Kretschmer brachte in einer Regierungserklärung allerdings auch ein, dass es keine Hetzjagd in Chemnitz gegeben habe. Während eines Bürgerdialogs im Vorfeld grenzte er sich von Veranstalter*innen des Konzerts unter dem Slogan #Wirsindmehr ab (Dürrholz und Eder 2018). In seinem Bürger*innendialog in Chemnitz, wenige Tage nach den rechten Aufmärschen, nahm Michael Kretschmer eine Haltung ein, die mit Blick auf das Agieren der ewigen Landesregierung durchaus als konsistent zu bezeichnen ist. Er zeigte sich offen und gesprächsbereit gegenüber denen, die wütend und laut waren. Kretschmer sprach sein Verständnis aus und warnte davor, Sachsen im Allgemeinen und Chemnitz im Besonderen in ein falsches Licht zu rücken.
Manuela Schwesig (SPD), ist wie Michael Kretschmer ebenfalls Ministerpräsidentin in einem ostdeutschen Bundesland, zumal in einem, das wirtschaftlich mit viel stärkeren Problemen zu kämpfen hat als Sachsen. Frau Schwesig nahm am 22. September 2018 in Rostock an einer Kundgebung gegen einen Auftritt des AfD Rechtsaußen Björn Höcke teil (Bytom 2018). Die Ministerpräsidentin, die einen ökumenischen Gottesdienst in unmittelbarer Nähe des Kundgebungsortes der AfD besuchte, stellte sich damit hinter einen breiten Protest, der in der Hansestadt Rostock rassistische Versammlungen nicht kritiklos hinnehmen wollte.
Das Verhältnis von Stadtpolitik, politischen Parteien und kritischer Zivilgesellschaft ist nach jahrelangen Konflikten zwischen den Akteuren gegenwärtig von Kooperation geprägt. Die Konfliktlinien der Vergangenheit hatten sich unter anderem an unterschiedlichen Verständnissen des richtigen Gedenkens an das Pogrom von Lichtenhagen im Jahre 1992 und die Ermordung von Mehmet Turgut im Stadtteil Toitenwinkel durch die neonazistische Terrorgruppe NSU im Jahre 2004 festgemacht. Streitpunkt war dabei oft die Frage, ob bestimmte Formen des Gedenkens negative Folgen für das Image der Stadt haben. Letztendlich setzte sich ein gemeinsamer Weg des Gedenkens der rassistischen Verbrechen und damit eine offene Haltung gegenüber den Opfern und Betroffenen durch.
Im Kontext dieser Geschichte lokaler Konfliktaustragung stellt die Teilnahme der Ministerpräsidentin eine Certification im oben beschriebenen Sinne dar. Die Bedeutung der Teilnahme liegt nicht darin, dass Manuela Schwesig als Privatperson aufgetreten ist, sondern in ihrem Amt als Ministerpräsidentin. Die Landesmutter stellt sich damit hinter diejenigen Bürger*innen, die für eine offene und tolerante Gesellschaft streiten. Folglich stellt sie sich notwendigerweise auch gegen einen anderen Teil der Bürger*innen, der auf Seiten der AfD demonstriert. Die Einnahme dieser Haltung ist als politische Entscheidung einzuordnen, die eine politische Signalwirkung für andere Akteur*innen im Konflikt hat.
Auch Michael Kretschmers Worte ziehen ihre Bedeutung aus dem Amt des Ministerpräsidenten. Sie haben ebenfalls über das konkret Gesagte hinaus eine Signalwirkung für alle am Konflikt beteiligten Akteur*innen. In diesem Fall bestand die Signalwirkung wieder einmal darin, sich nicht hinter diejenigen sächsischen Bürger*innen zu stellen, die wollen, dass rassistische Aufläufe und Hetzjagden sich nicht wiederholen.
Eine weitere Dimension der Signalwirkung stellt ein erhöhtes Straftatenaufkommen in Folge von Ereignissen wie dem rechten Aufmarsch in Chemnitz dar. Das Ansteigen rechter Gewalt nach einem Vorfall wie in Chemnitz ist ein bekanntes Phänomen. Für David Begrich stellten die Pogrome von Hoyerswerda 1991 und Lichtenhagen 1992 Urszenen der rassistischen Gewalt in Ostdeutschland dar (Begrich 2016). Auch unmittelbar nach den rechten Aufmärschen in Chemnitz kam es einer Meldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zufolge zwischen dem 26. August und dem 11. Oktober 2018 zu insgesamt 112 rechtsmotivierten Straftaten. Diese Zahlen gingen aus einer in Berlin veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion zur Zahl der „Fälle politisch motivierter Kriminalität (PMK)-rechts“ hervor (o.A. 2018b). Einer Meldung der Deutschen Presseagentur (dpa) vom 27. November zufolge, sprach Maik Mainda, Leiter des Polizeilichen Terrorismus- und Extremismus-Abwehrzentrums (PTAZ), im Rahmen eines Bürger*innendialogs in der Stadt sogar von über 200 politisch-motivierten Straftaten seit dem gewaltsamen Tod von Daniel H. in der Stadt Chemnitz (o.A. 27.11.2018). In dieser Meldung wurde allerdings keine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Phänomenbereichen vorgenommen. Die Aufmärsche in Chemnitz und das dort erlebte Gefühl von Selbstermächtigung führten, wie bereits die Pogrome der 1990er Jahre, zu einer Reihe von Folgestraftaten.
Fazit
Politischer Protest besteht nicht nur im Versenden einer Botschaft an die zuständigen Autoritäten. Politische Partizipation hat einen Wert für die Bürger*innen, der sich für politische Parteien oder Regierungen nicht unmittelbar in positivem Input, etwa in Form von Zustimmungswerten einzelner Politiker*innen oder in Wahlstimmen, niederschlägt. Dennoch sind Prozesse des Engagements und der politischen Partizipation im Positiven wie im Negativen durch zentrale Akteur*innen des politischen Systems beeinflussbar. Wer eine starke Zivilgesellschaft für den Schutz der offenen Gesellschaft möchte, sollte nicht nur auf die eigene Sprache achtgeben, sondern sich auch demonstrativ hinter diejenigen Bürger*innen stellen, die in Zeiten der Polarisierung und der rassistischen Stimmungsmache, die solidarische Gesellschaft sichtbar machen wollen.
Literatur
Begrich, David (2016): Hoyerswerda und Lichtenhagen: Urszenen rassistischer Gewalt in Ostdeutschland. In: Heike Kleffner und Anna Spangenberg (Hg.): Generation Hoyerswerda. Das Netwerk militanter Neonazis in Brandenburg. Berlin: be.bra Verlag, S. 32–44.
Bytom, Anna-Christina (2018): AfD-Anhänger und Gegner demonstrieren in Rostock. Rede von Björn Höcke. In: Nordkurier , 22.09.2018. Online verfügbar unter https://www.nordkurier.de/mecklenburg-vorpommern/gespannte-stimmung-vor-kundgebungen-in-rostock-2233230709.html (letzter Zugriff: 23.01.2019) .
Della Porta, Donatella; Diani, Mario (2006): Social Movements. An Introduction. Oxford: Blackwell Publishing.
Dürrholz, Johanna; Eder, Sebastian (2018): „Dorthin, wo es brennt“. #Wirsindmehr in Chemnitz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung , 03.09.2018. Online verfügbar unter https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/wirsindmehr-in-chemnitz-dorthin-wo-es-brennt-15769112.html (letzter Zugriff: 23.01.2019) .
Flesher-Fominaya, Cristina (2014): Social Movements and Globalization. How Protests, Occupations and Uprisings are changing the World. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Lübberding, Frank (2018): Wie man Feinde erfindet. TV-Kritik „Hart aber fair“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung , 05.06.2018.
McAdam, Doug; Tarrow, Sidney; Tilly, Charles (2008): Dynamics of Contention. Cambridge: Cambridge University Press.
o.A. (2018a): Framing Check. Wo Sprache ist, da ist immer auch Subtext. Vor allem dort, wo Sprache politisch wird. Im Framing-Check analysiert die SZ deshalb, wie sich mit Begriffen Politik machen lässt - und so bewusst manipuliert werden soll. Online verfügbar unter https://www.sueddeutsche.de/thema/Framing-Check (letzter Zugriff: 07.12.2018).
o.A. (2018b): Mehr als 100 rechtsmotivierte Straftaten in Chemnitz. Extremismus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung , 20.11.2018. Online verfügbar unter https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/zahlreiche-rechtsmotivierte-straftaten-bei-demos-in-chemnitz-15899980.html (letzter Zugriff: 07.12.2018).
o.A. (27.11.2018): LKA: Anstieg politisch motivierter Straftaten in Chemnitz. Extremismus - Chemnitz. Chemnitz. dpa. Online verfügbar unter https://www.sueddeutsche.de/news/politik/extremismus---chemnitz-lka-anstieg-politisch-motivierter-straftaten-in-chemnitz-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-181127-99-989416 (letzter Zugriff: 07.12.2018).
Riedl, Joachim (2017): "Was ist unsere Geschichte?". Wahl verloren, Wahlkampf gewonnen. Die Sprachforscherin Elisabeth Wehling erklärt im Interview, warum die FPÖ nach der Niederlage von Norbert Hofer gestärkt in die politische Auseinandersetzung der nächsten Jahre geht. In: Die Zeit , 12.01.2017 (3). Online verfügbar unter https://www.zeit.de/2017/03/elisabeth-weling-fpoe-bundespraesidentenwahl-oesterreich-ausblick (letzter Zugriff: 07.12.2018).
Schwarz, Carolina (2016): „Finger weg vom AfD-Wording!“. Rechtspopulisten sind Meister des Framings: Trump und die AfD setzen auf emotionale Geschichten, nicht auf Fakten. Elisabeth Wehling erklärt, wie das geht. Expertin über sprachliche Manipulation. In: tageszeitung , 09.12.2016. Online verfügbar unter https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5359993&s=Framing/ (letzter Zugriff: 07.12.2018).
Wehling, Elisabeth (2017): Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet - und daraus Politik macht. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
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Verena Schäfer-Nerlich
Posted on May 07, 2019
Mit der Wahl des Europäischen Parlaments am 26. Mai 2019 steht die EU und damit auch Europa vor einem Scheideweg. In der aktuellen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments (2014-2019) wurde der europäische Integrationsprozess durch zahlreiche Krisen geprägt. Dazu sind neben ökonomischen und sozialen Erschütterungen, die durch die Finanz- und Schuldenkrise ausgelöst wurden und die EU und ihre Mitgliedstaaten bis heute begleiten, vor allem die so genannte Flüchtlingskrise und das Erstarken des Nationalismus in einzelnen Mitgliedstaaten sowie nicht zuletzt der Brexit zu nennen.
Im Folgenden sollen zunächst einige politische Entwicklungen betrachtet werden, die die aktuelle Krise der EU in besonderer Weise verdeutlichen. Ausgehend von der damit dargelegten Relevanz der Wahl wird in einem zweiten Schritt aufgezeigt, inwiefern es sich am 26. Mai um eine Richtungsentscheidung der BürgerInnen handeln wird, die nicht nur als grundsätzliches Bekenntnis für oder gegen Europa zu verstehen ist, sondern auch als ein Votum für die künftige Ausgestaltung der EU zwischen „mehr Europa“ und „weniger Europa“.
Die aktuelle Krise der EU: Fehlende Solidarität, erstarkter Nationalismus und Desintegration
Im Hinblick auf die Migrationskrise haben insbesondere die Verhandlungen über einen gerechten europäischen Verteilungsschlüssel für die seit dem Sommer 2015 in den Staaten der Europäischen Union Zuflucht suchenden Menschen aus Syrien und Nord- und Zentralafrika einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass ein gemeinsames, auf Solidarität gestütztes Vorgehen aller EU-Mitgliedstaaten durch ausgeprägte nationale Interessen erschwert wird. Deutlich wird dies im Fall der EU-Migrationspolitik auch durch die Vertragsverletzungsverfahren, die die Europäische Kommission im Jahr 2017 gegen drei Mitgliedstaaten eingeleitet hat, da sich diese weigerten, europäisches Recht, das die Aufnahme von Geflüchteten vorsieht, umzusetzen (vgl. Europäische Kommission 2017a).
Obschon vitale nationale Interessen bei Entscheidungen auf europäischer Ebene eine starke Berücksichtigung erfahren müssen 1 und die zentralen Entscheidungen, durch die das Primär- und Sekundärrecht der EU fortentwickelt wird, immer auch als Ergebnis eines Abwägungsprozesses zwischen dem Problemlösungsinstinkt und dem Souveränitätsreflex der Mitgliedstaaten und dabei insbesondere der Staats- und Regierungschefs gelesen werden können (vgl. Schäfer, Wessels 2007), haben die in der aktuellen Integrationsphase zutage tretenden nationalen Souveränitätsvorbehalte eine neue Qualität. Die aktuell gegen die Mitgliedstaaten Ungarn und Polen gerichteten Vertragsverletzungsverfahren beziehen sich vor allem auf Einschränkungen europäischer Rechte vonseiten der nationalen Regierungen, die im Kern auch in die Grundrechte der Europäischen Union eingreifen und die in Artikel 2 EUV niedergelegten Werte der EU infrage stellen (vgl. Europäische Kommission 2018, 2019). Von besonderer Bedeutung sind dabei Verstöße der Mitgliedstaaten gegen die Rechtsstaatlichkeit. Die Rechtsstaatlichkeit zählt nicht nur zu den in Artikel 2 EUV verankerten Grundwerten der EU, 2 sondern ist auch von zentraler Bedeutung für das Funktionieren der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und der EU im Bereich der Justiz und Inneres. Die Rechtsstaatlichkeit soll insbesondere sicherstellen, dass ungeachtet systemischer Transformationsprozesse in den Mitgliedstaaten, wie sie auch nationale Justizreformen darstellen, europäisches Recht Anwendung findet und eingehalten wird. Ein besonderes Instrument zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit besteht im Verfahren nach Artikel 7 EUV, bei dem eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der EU durch einen Mitgliedstaat festgestellt und begründet werden muss. Dieses auch als stärkste vertragsrechtliche Waffe der EU einzuordnende Verfahren ist demnach bei einer systemischen Bedrohung des Rechtsstaats nutzbar und wurde erstmals im Dezember 2017 gegen Polen und im September 2018 schließlich auch gegen Ungarn eingeleitet (Europäische Kommission 2017b, Europäisches Parlament 2018). Die Anwendungen dieses Instrumentariums verdeutlichen zwei Entwicklungen: Erstens werden die Werte der EU nicht (nur) von außen, sondern im Zuge des in einzelnen Mitgliedstaaten erstarkten Nationalismus auch von rechtskonservativen bis rechtspopulistischen Regierung innerhalb der EU grundlegend in Frage gestellt. Zweitens zeigt sich, dass die EU gewillt ist, ihre Wertebasis auch gegen Angriffe von innen heraus zu verteidigen und diese Grundfeste, auf die sich die Mitgliedstaaten einmal gemeinsam geeinigt haben, nicht mehr verhandelbar sind.
Der Brexit verdeutlicht die aktuelle Krise der EU ebenfalls in besonderer Weise. Mit dem – wenn auch knappen – Votum der britischen Bevölkerung im Sommer 2016, die EU verlassen zu wollen, und dem Ende März offiziell von der Regierung Großbritanniens gestellten Austrittsantrag ist erstmals die bis dahin zumeist vom Ziel her gedachte und somit von einer Fortentwicklung der EU ausgehende Integrationsdynamik infrage gestellt worden. Auch wenn die offene Finalität der EU, d. h. das nicht Vorhandenseins einer konkreten Vorstellung von der fertigen Ausgestaltung der Europäischen Union, ein besonderes Merkmal dieser darstellt, werden die Leitbilder eines föderalen Bundesstaates und eines losen Staatenbundes sinnvollerweise für die Verortung des europäischen Integrationsprozesses herangezogen (vgl. Schneider 2002): Während die vollendete EU im Sinne eines europäischen Bundesstaates eine Abgabe zentraler Souveränitätsbereiche der Mitgliedstaaten an die Europäische Union voraussetzen würde, wäre mit einem losen Staatenbund der Mitgliedstaaten keine Übertragung von nationalen Zuständigkeiten auf eine supranationale Ebene verbunden. Der aktuell noch nicht terminierte Austritt Großbritanniens aus der EU hat zum einen verdeutlicht, dass der Integrationsprozess nicht automatisch mit einer Fortentwicklung in Richtung eines föderalen Europas mit einer zunehmenden Zahl von Mitgliedstaaten verbunden werden kann. Zum anderen zeigt dieser Präzedenzfall, dass die Gefahr für die europäische Integration, die in der Vergangenheit auch mit einem Fahrrad verglichen wurde, für dessen Fortbewegung alle Mitgliedstaaten gemeinsam in die Pedale treten müssen, nicht der Stillstand ist, sondern dass es auch einen Rückwärtsgang der Integration zu geben scheint.
Die Europawahlen als Votum für die künftige Ausgestaltung der EU
Vor dem Hintergrund der in Teilen noch durch einen anti-europäischen Populismus gestützten Infragestellung europäischer Werte in den Mitgliedstaaten sowie aktuellen Tendenzen der Desintegration innerhalb der EU, wie sie der Austrittsantrag Großbritanniens markiert, sind die Wahlen zum Europäischen Parlament am 26. Mai von besonderer Relevanz. Die Wahl fällt damit in eine Zeit, in der sie als grundsätzliches Bekenntnis für oder gegen Europa zu verstehen ist – inklusive der damit verbundenen Werte. Im Besonderen kann sie als Votum für die künftige Ausgestaltung der EU zwischen den Polen „mehr Europa“ und „weniger Europa“ verortet werden kann.
Von besonderem Interesse ist dabei, welche Zukunftsszenarien für die Fortentwicklung der EU mit je unterschiedlichen Wahlergebnissen verbunden werden können. Dieser Blick lohnt vor allem deshalb, weil sich die europäische Parteienlandschaft seit der letzten Wahl zum Europäischen Parlament im Jahr 2014 deutlich verändert hat (vgl. von Ondarza 2019). Diese Entwicklung wird insbesondere dadurch markiert, dass zum einen die großen Parteien SPD und CDU (auf EU-Ebene: Sozialdemokratische Partei Europas und Europäische Volkspartei) an Vertrauen verloren haben und für die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (S&D) und der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) daher Stimmverluste bei der Europawahl erwartet werden können. Die beiden Fraktionen der rechten und linken Mitte stellen im aktuellen Europäischen Parlament gemeinsam weit mehr als die Hälfte der Abgeordneten (405 von insgesamt 751 Sitzen) und konnten von dieser Machtposition aus im Sinne einer faktischen Großen Koalition auf europäischer Ebene in der Vergangenheit ihre programmatischen Ziele und personellen Ambitionen arbeitsteilig voranbringen (Leggewie 2019: 5). Dies wird aufgrund der erwartbaren Kräfteverschiebungen im Parteiensystem im nachfolgenden EU-Parlament voraussichtlich nicht mehr möglich sein.
Zum anderen steht – auch als Folge des ‚national turns‘ in einigen Mitgliedstaaten – ein großes Spektrum europaskeptischer bis rechtspopulistischer Parteien zur Wahl. Dies stellt zwar kein Novum dar, da bereits im Europäischen Parlament in seiner aktuellen Zusammensetzung rechtsgerichtete Parteien in drei bzw. vier der neun Fraktionen vertreten sind (vgl. Ahrens 2018: 405f.) 3 . Vor dem aktuellen Hintergrund stellt sich allerdings die Frage, zu welchen Kräfteverschiebungen es im Europäischen Parlament kommen würde, wenn diese Parteien nach der Wahl deutliche Stimmgewinne verzeichnen könnten und welche Bedeutung dies für die Fraktionsbildung und für strategische Kooperationen hätte (vgl. Orbán 2019). Von besonderem Interesse sind dabei die Bestrebungen, u. a. der italienischen Lega Nord von Matteo Salvini, der französischen Rassemblement National von Marine Le Pen und der Alternative für Deutschland, ein eigenes rechts-nationales Bündnis zu gründen und damit künftig eine eigene Fraktion im Europäischen Parlament zu stellen (Rüb 2019), die mit einer gemeinsamen anti-europäischen Agenda Einfluss auf die EU-Entscheidungsfindung nehmen könnte.
Als drittes Ergebnis der Neuvermessung der Parteienlandschaft auf EU-Ebene kommt hinzu, dass mit Emmanuel Macrons Partei La République en Marche auch eine neue pro-europäische Partei zur Wahl steht. Dabei stellt sich die Frage, ob sich diese neue Partei auf EU-Ebene der liberalen Parteienfamilie im Europäischen Parlament anschließen wird oder gar eine Neuformierung des liberalen Spektrums einleiten könnte, wodurch der Allianz der Liberalen und Demokraten im Europäischen Parlament (ALDE) möglicherweise ein Aufstieg zum dritten großen Machtfaktor im Parlament ermöglicht würde (von Ondarza 2019: 5).
Mit Blick auf die zur Wahl stehenden Parteien und ihre programmatischen Aussagen können für die künftige Entwicklung der Europäischen Union folgende zwei grundsätzliche Szenarien (vgl. Schäfer-Nerlich, Wessels 2019) skizziert werden.
1. Vertiefung der EU und differenzierte Integration
Ein mögliches Szenario für die Fortentwicklung der EU nach der Europaparlamentswahl ist der weitere Ausbau der EU durch systemrelevante Vertiefungsschritte. Dieser Vorstellung entsprechend könnten die Mitgliedstaaten durch ein gemeinsames Vorgehen in allen oder auch nur in ausgewählten Bereichen künftig mehr Machtbefugnisse und Instrumente teilen. Umfassende Vertiefungsschritte würden eine Änderung der europäischen Verträge erforderlich machen, die mitunter auch eine historische Chance bieten könnten, den föderalen Umbau der EU voranzutreiben und die EU darüber hinaus mit einer Verfassung auszustatten. Gegen ein solches Szenario kann ins Feld geführt werden, dass es doch auch nach dem voraussichtlichen Austritt Großbritanniens unter den Mitgliedstaaten weitere Veto-Spieler geben wird, die sich gegen einen föderalen Ausbau der EU hin zum europäischen Bundesstaat wehren werden. Zudem hat insbesondere der im Jahr 2007 gescheiterte Verfassungsvertrag gezeigt, welche Vorbehalte in den Mitgliedstaaten gegenüber einer europäischen Verfassung bestehen. Wenngleich ein umfassender föderaler Umbau der EU aktuell wenig realistisch erscheint, werden die Mitgliedstaaten künftig auch weiter über mögliche Vertiefungsschritte diskutieren. Mit Blick auf die zur Wahl stehenden pro-europäischen Parteien zeigt sich, dass diese zum Teil sehr konkreten Vorschläge für eine schrittweise Vertiefung der EU vorlegen. Zentrale Bereiche für ein gemeinsames Vorgehen wären demnach unter anderem die Sozialpolitik, der Umwelt- und Klimaschutz, die Energiepolitik sowie die Finanz- und Steuerpolitik.
Ein Vorantreiben der Integration, das die politische Wirklichkeit stärker berücksichtigen würde und somit den unterschiedlichen Integrationstempi den Mitgliedstaaten und den in den verschiedenen Politikfeldern mitunter unterschiedlich (stark) ausgeprägten nationalen Interessen Rechnung tragen würde, könnte auch differenziert erfolgen. Die ,differenzierte Integration‘ bezeichnet eine von einer Gruppe von Staaten ausgehende funktional oder sektoral begrenzte Vertiefung der EU. Als Beispiele für ein solch inklusiv angelegtes Vorgehen durch Teilgruppen, das in der politischen und wissenschaftlichen Debatte auch oft mit den Begriffen ,Kerneuropa‘ und ,Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten‘ verbunden wird, können die Währungsunion, aber auch die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts angeführt werden.
Aufgrund der in der aktuellen Integrationsphase sehr deutlich hervortretenden heterogenen Interessen und Souveränitätsvorbehalten der Mitgliedstaaten und der Prognose, dass eine Beschlussfassung im Europäischen Parlament zu gemeinsamen Vertiefungsschritten der EU-27 in Folge der Kräfteverschiebung nach der Wahl eher erschwert werden wird, kann erwartet werden, dass ein differenziertes Vorgehen in konkreten Politikbereichen die Fortentwicklung der Europäischen Union künftig noch stärker prägen wird.
2. Rückbau der EU und differenzierte Desintegration
Demgegenüber steht das Szenario eines Rückbaus der EU auf Grundlage einer anti-europäischen Agenda oder als Folge der Forderungen nach einer stärkeren intergouvernementalen (zwischenstaatlichen) Steuerung des Integrationsprozesses. Ausgangspunkt für dieses Szenario wäre die Rückübertragung von Kompetenzen auf die Nationalstaaten, die ihren Ausgang sowohl am Abbau vertragsrechtlicher Verpflichtungen in einzelnen Politikfeldern als auch an der Einschränkung von Rechten der EU-Institutionen nehmen könnte. Die Ausgestaltungsmöglichkeiten reichen von einer EU, die eine Alternative zu einem allzu festen vertragsrechtlichen Rahmen bietet und für interessierte Staaten flexible Beteiligungsmöglichkeiten in einer funktional oder sektoral begrenzten Kooperation vorsieht (‚weniger Europa‘) bis in letzter Konsequenz zur Auflösung der EU. Auch dieses Szenario wäre durch eine gemeinsame Entscheidung aller Mitgliedstaaten, aber auch durch das Vorantreiben eines sektoralen Rückbaus durch eine Teilgruppe von Staaten im Sinne einer ,differenzierten Desintegration‘ umsetzbar.
Wenngleich dieses Szenario auch aufgrund der nach der Wahl erwartbaren Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament als nicht realistisch eingestuft werden kann, ist diese Option mit Blick auf das aktuell zur Wahl stehende EU-skeptische bis rechtsnationale Parteienspektrum doch grundsätzlich auch bei den Überlegungen zu Fortentwicklung der EU zu berücksichtigen. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage der Bertelsmann Stiftung, aus der hervorgeht, dass sich ein großer Teil der UnionsbürgerInnen in 12 europäischen Mitgliedstaaten nicht mehr von den etablierten Parteien repräsentiert fühlen und sich bei ihrer Wahlentscheidung mehrheitlich von einer Anti-Haltung leiten lassen könnten (vgl. Kaltwasser, Vehrkamp, Wratli 2019).
Fazit
Die Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai kann vor dem Hintergrund des erstarkten Nationalismus in Europa und damit verbundenen Angriffen auf die Werte und Grundlagen der EU als Richtungsentscheidung verstanden werden. Dies gilt umso mehr, als diese Angriffe zum Teil auch zur Programmatik der zur Wahl stehenden EU-skeptischen bis rechtspopulistischen Parteien gehören. Bei dieser Wahl handelt es sich somit erstens um ein grundsätzliches Bekenntnis für oder gegen Europa. Zweitens treffen die BürgerInnen mit der Wahl ferner die Entscheidung, in welchem Europa sie leben wollen und wie die EU entlang der Orientierungsmarken ,mehr Europa‘ und ,weniger Europa‘ fortentwickelt werden soll. Sie urteilen drittens schließlich darüber, ob und inwiefern die EU eine geeignete politische Handlungsebene darstellt, die es den Mitgliedstaaten ermöglicht, gemeinsame Lösungen für transnationale und globale Herausforderungen, wie bspw. im Bereich der Klimapolitik, zu finden und umzusetzen.
Die Relevanz und Tragweite dieser Wahl ist groß und die BürgerInnen der Europäischen Union haben es in der Hand, die EU durch ihre Beteiligung an der Wahl mitzugestalten. Dabei sollten sie der Versuchung widerstehen, ihre Stimme leichtfertig als Denkzettel für die Abstrafung einer nationalen Regierung einzusetzen und stattdessen die Chance ergreifen, sich auf der Basis des großen medialen Informationsangebots zu den SpitzenkandidatInnen und Wahlkampfprogrammen der Parteien ernsthaft mit den Themen Europas zu beschäftigen.
Literatur
Ahrens, Petra (2018): Anti-feministische Politiker*innen im Frauenrechtsausschuss des Europäischen Parlaments, in: Feministische Studien, Band 36, Heft 2, S. 403-415.
Kaltwasser, Cristóbal Rovira; Vehrkamp, Robert; Wratli, Christopher (2019): Europa hat die Wahl. Populistische Einstellungen und Wahlabsichten bei der Europawahl 2019. Studie der Bertelsmann Stiftung. Abrufbar unter https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ZD_Europa_hat_die_Wahl_final.pdf (letzter Zugriff: 03.05.2019).
Europäische Kommission (2017a): Pressemitteilung. Umsiedlung: Kommission leitet Vertragsverletzungsverfahren gegen die Tschechische Republik, Ungarn und Polen ein. Brüssel, 14.06.2017. Online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-1607_de.htm (letzter Zugriff: 03.05.2019).
Europäische Kommission (2017b): Pressemitteilung. Rechtsstaat in Polen bedroht: EU-Kommission löst Artikel 7-Verfahren aus. Brüssel, 20.12.2017. Online abrufbar unter https://ec.europa.eu/germany/news/20171220-polen_de (letzter Zugriff: 03.05.2019).
Europäische Kommission (2018): Pressemitteilung. Migration und Asyl: Kommission ergreift weitere Schritte in Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn. Brüssel, 19.07.2018. Online abrufbar unter http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-4522_de.htm (letzter Zugriff: 03.05.2019).
Europäische Kommission (2019): Kommission eröffnet neues Verfahren gegen Polen, warnt Rumänien und eröffnet Debatte zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in der EU. Brüssel, 03.04.2019. Online abrufbar unter https://ec.europa.eu/germany/news/20190403-kommission-eroeffnet-neues-verfahren-gegen-polen-warnt-rumaenien-und-debatte_de (letzter Zugriff: 03.05.2019).
Europäisches Parlament (2018): Die Lage in Ungarn. Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. September 2018 zu einem Vorschlag, mit dem der Rat aufgefordert wird, im Einklang mit Artikel 7 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch Ungarn besteht. Straßburg, 12.09.2018. Online abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2018-0340_DE.pdf?redirect (letzter Zugriff: 03.05.2019).
Leggewie, Claus (2019): Nebenwahl? Hauptsache! Europa vor einer Richtungsentscheidung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 69. Jahrgang, Heft 04-05/2019, S. 4-10.
Orbán, Victor (2019): Interview with Prime Minister Viktor Orbán in the Italian newspaper La Stampa, 1th May 2019. Online verfügbar unter http://abouthungary.hu/speeches-and-remarks/interview-with-prime-minister-viktor-orban-in-the-italian-newspaper-la-stampa/ (letzter Zugriff: 03.05.2019).
Rüb, Matthias (2019): Rechtspopulisten in Italien. Europas gesunder Menschenverstand, in: FAZ, 08.04.2019. Online verfügbar unter https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europaeische-rechtspopulisten-planen-neue-fraktion-16131304.html (letzter Zugriff: 03.05.2019).
Schäfer-Nerlich, Verena; Wessels, Wolfgang (2019): Strategien und Szenarien zur Fortentwicklung der EU. Vielfalt und Komplexität, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft (ZPol), Vol. 29, Heft 1/2019, S. 1-21. Online abrufbar unter https://link.springer.com/article/10.1007/s41358-019-00173-8 (letzter Zugriff: 03.05.2019).
Schäfer, Verena; Wessels, Wolfgang (2007): Der Reformvertrag: Fortsetzung eines finalitätsoffenen Fusionstrends, in: ifo Schnelldienst 15/07, S. 6-9.
Schneider, Heinrich (2002): Deutsche Europapolitik: Leitbilder in der Perspektive – Eine vorbereitende Perspektive, in: Schneider, H./Jopp, M./Schmalz, U. (Hrsg.): Eine neue deutsche Europapolitik? Rahmenbedingungen – Problemfelder – Optionen, Bonn: Europa-Union Verlag, S. 69-135.
von Ondarza, Nikolai (2019): Richtungswahl für das politische System der EU. Die Umbrüche in der europäischen Parteinlandschaft und ihre Konsequenzen für die Union. SWP-Studie. Online abrufbar unter https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2019S09_orz.pdf (letzter Zugriff: 03.05.2019).
[1] Dies ergibt sich schon aus der Logik, dass das Sekundärrecht in den Mitgliedstaaten implementiert werden muss und die gemeinsam getroffenen Entscheidungen von den RegierungsvertreterInnen auch auf nationaler Ebene politisch vermittelbar sein sollen.
[2] Weitere dort genannte Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und die Wahrung der Menschenrechte.
[3] Dies sind in der aktuellen Legislaturperiode die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKK), der sich u. a. die polnische Rechte und Gerechtigkeit (PiS) angeschlossen hat, die Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD), zu der neben anderen auch die britische UK Independence Party (UKIP), die italienische Lega Nord und der französische Rassemblement National gehören, sowie die Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF). Die Europäische Volkspartei, die im Europäischen Parlament aktuell die größte Fraktion stellt, ist bis zu einer deutlichen innerfraktionellen Entscheidung zur weiteren Mitgliedschaft der Fidesz-Partei von Victor Orbán auch in die Liste der Fraktionen aufzunehmen, in der rechtsgerichtete Parteien vertreten sind.
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Dorothée de Nève
Posted on April 14, 2020
Es herrscht gerade kein Mangel an gutgemeinten Tipps zum Thema Homeoffice. Dabei geht es vor allem um Fragen der Einrichtung des heimischen Arbeitsplatzes, um rechtliche Belange und um gute Strategien im Umgang mit potenziellen Ablenkungen. [1] Das Thema steht jetzt in der Corona-Krise urplötzlich ganz oben auf der Agenda. Selbst Arbeitgeber*innen, die vorher tausend Gründe fanden, individuelle Ansuchen auf Arbeit im Homeoffice aus grundsätzlichen Erwägungen abzulehnen, erwarten nun von ihren Mitarbeiter*innen, dass sie sich über Nacht im eigenen Zuhause einen Arbeitsplatz einrichten und loslegen. Bisher schien die Arbeit am heimischen Schreibtisch oft mit fast unüberwindbaren bürokratischen, sicherheitstechnischen und organisatorischen Hürden verbunden, die nun in Zeiten der Krise scheinbar leichtfüßig überwunden werden. Arbeitsprozesse, insbesondere im Verwaltungsbereich, die gerade noch zwingend analog, in dreifacher Ausfertigung mit Stempel und allem Pipapo bearbeitet werden mussten, können nun in der Krisenzeit unbürokratisch, informell und digital bearbeitet werden. Und an Schulen, die seit Jahren darauf warten, in Sachen Digitalisierung endlich im ‚Neuland‘ anzukommen, werden hastig Router installiert. Lehrkräfte entwerfen aus dem Stegreif digitale Unterrichtseinheiten und lassen diese – irgendwie – ihren Schüler*innen zukommen. Selbst die Eltern, die gerade noch als sogenannte Helikoptereltern der Lächerlichkeit Preis gegeben wurden, sind nun die gefragten Expert*innen in Sachen home schooling und digital literacy . Manch einer reibt sich erstaunt die Augen. In eindrucksvollem Tempo eifern wir nun selbst im öffentlichen Dienst kollektiv dem digitalen Erfindergeist und der Flexibilität von Startups nach. Das wird unsere Arbeitswelt nachhaltig verändern, davon bin ich überzeugt. Dennoch sollten wir die aktuelle Notlage nicht idealisieren und mit unangemessenen Erwartungen überfrachten. Was wir jetzt erleben, ist tatsächlich ein Krisenmodus, der auch in den heimischen Wänden und unserer Arbeitswelt nachhaltige Spuren hinterlassen wird.
Vertrauen
Eine Voraussetzung für die erfolgreiche Zusammenarbeit in einer Organisation ist eine Vertrauenskultur (Farnham, 1989). Dies gilt selbstverständlich für alle Formen analoger und digitaler Zusammenarbeit in Strukturen wechselseitiger Abhängigkeit, nicht nur in Geschäftsbeziehungen, sondern auch in der Wissenschaft und Verwaltung. Die Arbeit im Homeoffice erfordert in besonderem Maße Vertrauen. Unter Kolleg*innen ist die direkte Interaktion eingeschränkt. Und seitens der Vorgesetzten erscheint eine direkte Aufsicht und Beobachtung der Mitarbeiter*innen weder praktikabel noch produktiv. Wer glaubt, die Aktivitäten seiner Mitarbeiter*innen im Homeoffice digital kontrollieren zu wollen, stößt schnell an die Grenzen des rechtlichen Schutzes von Arbeitnehmer*innen und wird mit sinnlosen Bewegungen des Cursors während gemütlicher Mittagspausen an der digitalen Nase herumgeführt. Während Mitarbeiter*innen an Arbeitstagen im Büro ganz selbstverständlich ein Schwätzchen im Flur halten oder eine Zigarette vor der Tür rauchen – und dabei beiläufig wichtige Probleme auf kurzen Wegen lösen, reagieren sie panisch, wenn im Homeoffice ein Anruf des/der Vorgesetzten zufällig ins Leere läuft, weil sie gerade ein paar Minuten nicht am Schreibtisch saßen. Ein mögliches Misstrauen des/der Chef*innen wird in dieser Stresssituation antizipiert. Anstelle der Kontrolle fördert ein klares Vertrauen den Zusammenhalt und die Zusammenarbeit zwischen Menschen, indem dieses Vertrauen auf andere als zwischenmenschliche Weise aufgebaut wird (Mayer/Davis/Schoorman 1995: 10). Ein solches langfristiges Vertrauen wird durch Kompetenz, Wohlwollen und Integrität entwickelt (Molthagen-Schnöring 2020: 3). Eine solide Vertrauensbeziehung gilt als Voraussetzung dafür, dass Mitarbeiter*innen zufrieden und produktiv im Homeoffice arbeiten. Die Vertrauensforschung zeigt erstens, dass es einen engen Konnex zwischen der Wahrnehmung einer Person als kompetent und zugleich vertrauenswürdig gibt. Das Eingestehen von Nicht-Wissen wird dabei keineswegs als abträglich wahrgenommen (Molthagen-Schnöring 2020: 3). Zweitens gibt Wohlwollen einer Vertrauensbeziehung Stabilität und Orientierung, das auch im Falle eines Fehlerhaltens oder einer Unsicherheit trägt. Es geht um eine grundsätzlich positive Haltung, die eine empathische Begegnung ermöglicht. Die Integrität schließlich als drittes Element der Vertrauensbildung entsteht durch die Kongruenz der normativen Ideale und dem Handeln. Dies kann sich sowohl auf eine einzelne Person beziehen, die etwa als Vorgesetzte*r den Mitarbeiter*innen in einer Weise begegnet, die den eigenen Idealen entspricht und die auch im eigenen Handeln diesen normativen Standards folgt. Dies lässt sich ebenso auf Institutionen und Organisationen als Ganzes beziehen, wenn diese interne Vertrauensbildung fördern, indem sich die öffentlichkeitswirksam kommunizierten Ziele und Ideale in der täglichen Praxis tatsächlich wiederfinden. Für die Vertrauensbildung genügt insofern eine sorgfältig geplante Kommunikationsstrategie nicht. Es bedarf der Integrität in konkreten Handlungen, in Entscheidungsprozessen und in der direkten Kommunikation mit Mitarbeiter*innen. Vertrauen kann weder im ‚Normalbetrieb‘ noch in Krisenzeiten eingefordert werden, es geht eben vielmehr um die gewachsene Qualität einer Beziehung auf Basis von Wohlwollen, Kompetenz und Integrität. In der Sozialpartnerschaft fließt dieses Vertrauen idealerweise in ein kooperatives und zugleich institutionalisiertes Verhältnis, indem der Versuch unternommen wird, potenzielle Konflikte im Konsens zu bewältigen. In einer Situation wie heute entsteht dann bei allen Beteiligten, die zusammenarbeiten, die Gewissheit, dass eine Krise gemeinsam gemanagte werden kann und man gemeinsam durch schwere Zeiten gut hindurchkommt.
Homeoffice in der Praxis
Jenseits dieser Vertrauensbeziehung spielen auch Formalia eine Rolle. Diese betreffen etwa Absprachen zur Arbeitsleistung, Arbeitszeiten und die Rahmenbedingungen in Bezug auf Erreichbarkeit, Infrastruktur, Daten- und IT-Sicherheit. Geklärte Erwartungshorizonte geben beiden Seiten Sicherheit und wirken entstressend. Selbst in der gelebten Praxis vor der aktuellen Krise wurde auf die formal korrekte und aufwendige Einrichtung eines sogenannten Heimarbeitsplatzes oft verzichtet. Dabei geht es etwa um Auflagen in Bezug auf ergonomische Arbeitsmöbel, Temperatur und Tageslicht. In der aktuellen Krise wird es sich insbesondere dann als problematisch erweisen, dass diese Standards allzu oft in den Wind geschlagen werden, wenn die Krise länger andauert.
In der Europäischen Union arbeiten regulär gerademal fünf Prozent der Arbeitnehmer*innen im Homeoffice. [2] Vergleichsweise hoch sind die Anteile in den Niederlanden, Luxemburg, Finnland und Österreich. Gleichzeitig ist in Südosteuropa der Anteil der Menschen, die regelmäßig zu Hause arbeiten, sehr niedrig (Eurostat 2018). In Deutschland arbeiten in der Regel etwa fünf Prozent der Arbeitnehmer*innen im Homeoffice (Eurostat 2020). Interessant ist, dass sich diese Zahl in den vergangenen zehn Jahren – Digitalisierung hin oder her – kaum verändert hat. Auffällig ist außerdem, dass Frauen häufiger im Homeoffice arbeiten als Männer. Homeoffice bietet ohne Zweifel Chancen. Es ermöglicht etwa das Arbeiten im eigenen Bio-Rhythmus bzw. die eine Flexibilisierung von Arbeitszeiten, was Vorteile für Familien und Pendelbeziehungen mit sich bringt. Es fördert die Integration von Personen in den Arbeitsmarkt, die aufgrund sozialer oder körperlicher Einschränkungen und/oder familiärer Care-Arbeit sonst Probleme hätten, erwerbstätig zu sein. Unter idealen Bedingungen ermöglicht diese Arbeitsform außerdem temporär ein hoch konzentriertes, ungestörtes Arbeiten. Und es gibt natürlich auch ökonomische und ökologische Argumente, die dafürsprechen, dass Menschen da arbeiten, wo sie leben, und nicht täglich x Kilometer zu einer Arbeitsstelle zurücklegen müssen.
Erwerbtätige sind heute freilich aus unterschiedlichen Gründen auch gezwungen, in den eigenen vier Wänden zu arbeiten. So richten beispielsweise Unternehmen Großraumbüros ein, in denen Mitarbeiter nach dem Prinzip von shared desks arbeiten und nicht täglich Anspruch auf einen Schreibtisch im Unternehmen haben. Auf diese Weise werden Miet- und Betriebskosten zulasten der Mitarbeiter*innen gespart. Wer so regelmäßig und vertraglich vereinbart im Homeoffice arbeitet, kann sich evtl. auch in Fragen der Kinderbetreuung entsprechend organisieren.
In der aktuellen Notsituation mit social distancing , Kontaktsperre, geschlossene Kitas, Schulen, Universitäten sowie Dienstleistungsbetrieben und Unternehmen spielen solche individuellen Präferenzen und Anreize kaum eine Rolle und viele Formalitäten entfallen. Es geht in unterschiedlichen Formen des Basis- und Notbetriebs gegenwärtig schlicht darum, als Institution weiter zu bestehen und zu überleben. Viele Arbeitnehmer*innen organisieren sich in ihrem Homeoffice dementsprechend unter suboptimalen, ja stressigen Kontextbedingungen.
Homeoffice in der Corona-Krise
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist bereits unter „normalen“ Arbeitsbedingungen eine große Herausforderung (Bernhardt/Hipp/Allmendinger 2016). Selbst wenn familienfreundliche Arbeitgeber*innen flexible Strukturen und Förderprogramme lancieren, so gestaltet sich das Alltagsmanagement vieler Familien ausgesprochen kräftezehrend. Dies gilt nun in der aktuellen Situation umso mehr, in der Schulen, Kinder- und Jugendeinrichtungen geschlossen bleiben, sich die banalen Verrichtungen des Alltags als zeitaufwendig erweisen, gewohnte Dienstleistungen nicht mehr entlastend in Anspruch genommen werden können und sich angesichts der eingeschränkten Möglichkeiten, in den öffentlichen Raum zu entfliehen, die Enge in der eigenen Wohnung als Belastung erweist. Spätestens wenn der Rückzug in die Toilette als einzige Chance erlebt wird, dem Corona-Familien-Arbeit-Sorgen-Irrsinn in der eigenen Wohnung für wenigstens ein paar Minütchen zu entfliehen, wird deutlich, dass wir die Telearbeit vieler Mitarbeiter*innen nicht als tolle Chance der Selbsterfahrung oder gar selbstverständlich zu erwartende Loyalität gegenüber Arbeitgeber*innen deuten dürfen. Nicht ohne Grund wurde in Zeiten vor der Krise die Möglichkeit des Homeoffice überwiegend von Besserverdiener*innen und Kinderlosen genutzt (Die Zeit, 17.09. 2019). Für Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen in einer engen Wohnung leben, bedeutet Arbeiten im Homeoffice einfach Stress pur.
Dieses private Arbeitsumfeld gestaltet sich für Menschen, die alleine wohnen und/oder leben, in dieser Krisenzeit oft nicht weniger problematisch. Was für andere in einem engen Raum ein Zuviel menschlicher Interaktionen darstellt, das zuweilen die Arbeit am heimischen Schreibtisch unterbricht oder verhindert, wird für Singles vielleicht zu einer bedrückenden Leere, in der es ausgesprochen schwer fällt, die für die erfolgreiche Arbeit nötigen Stimuli zu finden. Gerade von Wissenschaftler*innen wird erwartet, dass sie eine ausgeprägte intrinsische Motivation haben. Die Freiheit, die sich nun in der Krise durch den Wegfall zahlreicher Termine und anderer Verpflichtungen ergibt, würde man annehmen, könnte in eine schöpferische Phase münden, in der endlich Zeit ist, für neue und kreative Forschung. Fakt ist jedoch, dass viele die aktuelle Situation nicht als kreativen space , sondern als eine Ausbremsung erleben, die ihnen den Schwung zur eigenen wissenschaftlichen Arbeit raubt. Die Gesichter, denen man in den zahlreichen Videokonferenzen begegnet, wirken müde und gestresst. Und es erweist sich für alle Menschen, egal ob sie alleine, mit Partner*in, Freunden oder Kids leben, als ausgesprochen schwierig, sich in der eigenen Arbeit funktionsfähig zu halten und zugleich die Ängste in der aktuellen Krise abzuwehren. Manche Leute verwechseln vielleicht Homeoffice mit einer Freistellung bei Lohnfortzahlung. Mag sein, dass einige denken, dass Homeoffice ein Synonym für Schlendrian sei. Jede*r, die/der aber mal ernsthaft im Homeoffice gearbeitet hat, weiß, dass das Quatsch ist – denn Homeoffice erfordert von den Arbeitsnehmer*innen ein Höchstmaß an Selbstdisziplin und Leistungsbereitschaft. Für viele ist das in der Praxis tatsächlich dann bereits stressig, wenn gerade vor der eigenen Haustür keine Pandemie herrscht. In der aktuellen Krise nehmen diese Belastungen merklich zu.
Ferner gestaltet sich die Arbeit im Homeoffice oft auch in technischer Hinsicht problematisch – übrigens nicht nur für Arbeitnehmer*innen, sondern auch für Schüler*innen und Studierende. Auch wenn sich unsere technischen Möglichkeiten dynamisch weiter entwickeln und wir annehmen könnten, dass insbesondere die digital natives unbeschwert mit der verfügbaren Technik umgehen, so sieht der IT-Alltag oft anders aus. Die Tatsache, dass Dinge an sich technisch möglich sind, bedeutet noch lange nicht, dass alle Arbeitnehmer*innen das Knowhow haben, diese zu nutzen, und die Ressourcen zur Verfügung haben, die ihnen diese Zugänge ermöglichen. Im improvisierten Homeoffice wird vom Arbeitsgeber oft nicht einmal die technische Grundausstattung gestellt, geschweige denn Kosten für die Nutzung der privaten Infrastruktur erstattet. Es bleibt keine Zeit, Fragen der Kostenübernahme, des Datenschutzes und der IT-Sicherheit zu klären. Eine aktuelle Umfrage zu IT-Sicherheit zeigt, dass viele Menschen, die jetzt im Homeoffice arbeiten, selbst rudimentäre Sicherheitsstandards nicht einhalten: Sie arbeiten an einem privaten Rechner und vermischen insofern private und berufliche Daten. Sie übermitteln Daten unverschlüsselt, sie nutzen keine Antivirenprogramme, arbeiten in einem nicht passwortgeschützten Internetnetzwerk oder nutzen Passwörter mehrfach (it-daily.net, 31.03.2020). Die heimische digitale Infrastruktur ist außerdem oft gar nicht auf die hohe Mehrfachbelastung in Zeiten der Corona-Krise vorbereitet, in der mehrere Personen unter einem Dach leben und Grundschüler*innen von ihren engagierten Lehrer*innen angehalten werden, Referate als Videos aufzuzeichnen, in denen mehrere Kinder gleichzeitig online ihre Hausausgaben erledigen sollen und Eltern live in Videokonferenzen sitzen. Auch für Studierende stellt die Umstellung auf Homeoffice ein Problem dar. Viele nutzen aus guten Gründen üblicherweise die Infrastruktur der Bibliotheken, um dort an PCs zu recherchieren und ihre Arbeiten zu schreiben. Der mangelnde Zugang zu dieser Infrastruktur erweist sich nun als Problem. Es ist auch in Deutschland eben keine Selbstverständlichkeit, dass alle stets über die notwendige Infrastruktur verfügen, um erfolgreich im Homeoffice arbeiten zu können. Hinzu kommt, dass die Stabilität und Leistungsfähigkeit des Internets auch in einem reichen Bundesland wie Hessen keineswegs überall gewährleistet sind. Studierende, die in diesen krisenhaften Zeiten schutzsuchend in den Schoss ihrer Familien zurückgekehrt sind, finden sich flux im Funkloch des Vogelsbergs wieder. [3] Selbst in urbanen Räumen gibt es in Sachen Internet gravierende Versorgungsengpässe. Onno Kleen, Doktorand an der Universität Heidelberg, wohnt zwar mitten in der Stadt, doch funktioniert auch hier das Internet unzureichend: „DSL gibt es in unserem Haus – und damit auch in der näheren Umgebung – nur mit maximal 16 MBit. Daher haben wir uns für Kabel-Internet entschieden. Das werden wahrscheinlich auch viele unserer Nachbarn gemacht haben, und das merkt man jetzt doch sehr stark. Tagsüber ist der Upload quasi kaum noch vorhanden – irgendwo zwischen 0 und 0,2 MBit pro Sekunde sind eher die Regel. Da haben jetzt selbst meine Eltern in Ostfriesland wesentlich bessere Übertragungsraten“ (Deutschlandfunk, 03.04.2020). [4] Im Kontext der technischen Frage – das haben die Erfahrungen in Sachen Vulnerabilität, die langfristigen Folgen und Kosten von #JLUoffline gezeigt – gilt es außerdem die Problematik der Sicherheit mit zu bedenken. Auch wenn die aktuelle Notlage keine Zeit lässt, um Sicherheitsstandards im Homeoffice sorgfältig abzuklären, so sitzt doch die Angst vor unkalkulierbaren Risiken, die Arbeitsergebnisse vernichten und die Arbeitsfähigkeit gefährden, noch allen Beschäftigen im Nacken. [5]
Folgen dieser Erfahrungen
Noch ist es zu früh, jetzt, da wir mitten in dieser Krise stecken, deren Folgen zu antizipieren. Dennoch lassen sich aus meiner Sicht bereits einige Dinge erahnen, die sich in Bezug auf die Homeoffice Erfahrung erwarten lassen:
Die Beziehungen zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen werden sich nachhaltig verändern. Wenn die Vertrauensbeziehung so stabil ist, dass sie auch in krisenhaften Zeiten trägt, entwickelt sich in der Folge dieser gemeinsamen Erfahrungen neue Chancen des Miteinanders, so dass sich die Identifikation mit der eigenen Einrichtung und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit positiv entwickeln können. Hierfür sind neben der Kompetenz, dem Wohlwollen und der Integrität der Vorgesetzten insbesondere auch die Fähigkeit zur Empathie und die Qualität der Krisenkommunikation von entscheidender Bedeutung. Im Idealfall wäre die Krise dann eine Chance, die gemeinsamen Interessen zu stärken und näher zusammen zu rücken. Fühlen sich indes Arbeitnehmer*innen in dieser Krisenzeit hängen gelassen, gedemütigt, geringschätzt oder gar gegängelt, so werden die Beziehungen auch weit über die Krise hinaus von diesen negativen Erfahrungen belastet sein.
Zu erwarten ist außerdem ein boost der Entbürokratisierung, Digitalisierung und Flexibilisierung. Nachdem der Realitätscheck über Wochen erfolgreich gezeigt haben wird, dass Homeoffice funktioniert, [6] Prozesse vereinfacht, digital organisiert und entschieden werden können, wird es schwer sein, die alten Hürden wieder zu etablieren und zu begründen. Die Sehnsucht, sich wieder im Gespräch zu begegnen und in vertraute Sicherheiten zurückzukehren, wird nach dieser Zeit vermutlich da sein. Doch die Arbeitswelt, in die wir dann zurückkehren werden, wird nicht mehr dieselbe sein. Sie wird hoffentlich moderner sein – und das ist auch gut so.
Die aktuelle Homeoffice Erfahrung in Kombination mit der krisenhaften Verunsicherung, mit persönlichen Ängsten um die eigene Gesundheit und jene der Liebsten sowie realen Existenzängsten und Bedrohungen werden auch in unserer Lebensführung Spuren hinterlassen. Wer sich in diesen Tagen mit Arbeitskolleg*innen persönlich austauscht, stellt schnell fest, dass Menschen sehr unterschiedliche Strategien entwickeln, um mit der Krise umzugehen. Arbeitskolleg*innen berichten von Erschöpfung und Müdigkeit – bei dieser Regression handelt es sich um eine klassische Formen unbewusster Angstabwehr (Mentzos 2016). Sie pushen sich im Team mit täglichen Videoschaltungen um in den gemeinsamen Arbeitstag zu starten, sie schicken sich Memes von tanzenden Giraffen und Cartoons zum Thema Hamsterkäufe oder sie abonnieren sämtliche Eilmeldungskanäle, um live die neusten Zahlen zu Corona-Pandemie in XYZ zu erfahren. Für viele Menschen, die nicht schon seit Jahren im Homeoffice arbeiten und in der Krise auf diese Erfahrungen zurückgreifen können, findet nun erstmals eine neue Qualität der Vermischung des Privaten mit dem Beruflichen statt. Das verstärkt nachweislich psychische Belastungen und führt zu Erschöpfung, Konzentrationsproblemen und Schlafstörungen (Die Zeit, 17.09.2019). Diese Vermischung provoziert außerdem existenzielle Fragen nach der Prioritätensetzung im eigenen Leben. Es geht um die Unterscheidung zwischen wirklich wichtigen und vermeintlich dringenden Dingen, es geht um die Work-Live-Balance und in Anbetracht der tödlichen Bedrohung durch Covid 19 auch um Leben und Tod. Die Frage der Sinnhaftigkeit unseres eigenen Tuns stellt sich angesichts dieser Krise umso eindringlich. Insofern wird die Krise möglicherweise nicht nur unsere Arbeitswelt, sondern auch Menschen verändern.
Die aktuelle Krise verstärkt die ohnehin wachsende sozialer Ungleichheit in unserer Gesellschaft (Faz, 02.04.2019). Homeoffice war bisher ein Modell für kinderlose Besserverdiener. Diese soziale Gruppe wird diese Phase, in der ganze Belegschaften zum Homeoffice verdonnert werden, ungleich besser überstehen, als diejenigen, die im improvisierten Homeoffice am Küchentisch sitzen und mit einer wackeligen Internetverbindung an einem antiken Laptop versuchen zu retten, was zu retten ist. Auch an einer vergleichsweise privilegierten Einrichtung wie einer Universität oder einer anderen Forschungseinrichtung werden in diesen Tagen Menschen ins Homeoffice geschickt, die auf einer Halbtagsstelle gerademal rund eintausend Euro netto verdienen. Da fehlt das Geld, für eine smarte IT-Ausrüstung aus nachvollziehbaren Gründen. Auch Schüler*innen und Studierende, die auf die neuste Technik nicht zurückgreifen können und in der Nutzung digitaler Tools weniger geübt sind als andere, werden Probleme haben, bei dieser radikalen Umstellung auf E-Learning nun Schritt zu halten. Ganz abgesehen davon, dass die ökonomischen Härten dieser Krise Menschen mit einem niedrigen Einkommen und Existenzängsten ungleich viel stärker treffen. „(…) von den Rettungspaketen für die Unternehmen kommt im Kellergeschoss der Gesellschaft wenig an“, schreibt Christoph Butterwegge (2020).
Ich erinnere mich noch sehr genau an dieses Gefühl, als mein Schreibtisch und PC direkt neben meinem Bett standen. In meinem WG-Zimmer arbeitete ich an meinen Vorträgen, schrieb meine Seminar- und Qualifikationsarbeiten. Es war eine große Errungenschaft, als ich mir mein erstes Laptop leisten konnte, das ich abends zuklappen, ja gar wegräumen konnte, so dass die Arbeit nicht mehr schreiend neben dem Bett stand und ihren Stress bis in den Schlaf verbreitete. Inzwischen arbeite ich in einer geradezu privilegierten Situation. Denn ich habe in meiner Wohnung einen eigenen Arbeitsraum, dessen Tür ich zum Feierabend einfach zuziehen kann. Gerade meine eigenen Erfahrungen der vergangen Jahrzehnte erfüllen mich mit Blick auf viele Mitarbeiter*innen, die sich nun kurzfristig auf diese herausfordernde Arbeitssituation einstellen müssen, mit großer Demut und mit Respekt. Dies gilt insbesondere für jene Kolleg*innen, die gezwungen sind, die Betreuung ihrer kids mit den Erwartungen des/der Arbeitgebers*in im Homeoffice unter einen Hut zu bringen. Wir versuchen in der aktuellen Krise in Sachen Vereinbarkeit Unmögliches zu leisten, ohne dass wir darauf vorbereitet waren und ohne dass wir Gewissheit darüber haben, wie lange dieser Zustand anhalten wird. Angesichts dieser Situation halte ich es für angebracht, über unkonventionelle Lösungen nachzudenken, die etwa die Leistungsanforderungen für Arbeitnehmer*innen, die in diesen Krisenzeiten Care-Arbeit leisten, entsprechend reduzieren. Auch in der universitären Verwaltung, in der Lehre und Forschung können wir Merkels Gedanke der Solidarität [7] aufgreifen und nach Wegen suchen, um das Vertrauen in die eigene Institution zu stärken und ein solidarisches Miteinander zu leben. Das erfordert nicht nur unsere Kreativität in der Lösung der anstehenden Probleme, sondern auch den Mut, die Idee der (Chancen-)Gleichheit anders zu denken.
Quellen
Bernhardt, Janine/Hipp, Lena/Allmendinger, Jutta 2016: Warum nicht fifty-fifty? Betriebliche Rahmenbedingungen der Aufteilung von Erwerbs- und Fürsorgearbeit in Paarfamilien, in: WZB Discussion Paper SP, 2016-501, Link: https://www.econstor.eu/handle/10419/147291 (Access: 09.04.2020).
Eurostat 2018: Working from home in the EU, Link: https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/products-eurostat-news/-/DDN-20180620-1 (Access: 08.04.2020).
Eurostat 2020: Erwerbstätige, die zu Hause arbeiten, als Prozentsatz der gesamten Beschäftigung, nach Geschlecht, Alter und Stellung im Beruf (%), Link: https://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=lfsa_ehomp&lang=de (Access: 10.04.2020).
Farnham, Alan 1989. The trust gap, in: Fortune, Vol 120, No. 14, S. 56-78.
Mayer, Roger C./Davis, James H./Schoorman, F. David 1995: An Integrative Model of Organizational Trust, in: The Academy of Management Review, Vol. 20, No. 3 (Jul., 1995), S. 709-734.
Mentzos, Stavors 2016: Interpersonale und institutionalisierte Abwehr. Berlin: Suhrkamp.
[1] Homeoffice: Regelung, Vorteile, 50 Tipps, Link: https://karrierebibel.de/home-office-tipps/ ; Home-Office – Mit diesen Tipps klappt’s mit der Arbeit von Zuhause, Link: https://www.swr3.de/aktuell/Homeoffice-Mit-diesen-Tipps-klappt-s-mit-der-Arbeit-von-zu-Hause/-/id=4382120/did=5577346/16222qi/index.html (07.04.2020).
[2] Bei diesen Zahlen handelt es sich um Angaben zu regulär eingerichteten Heimarbeitsplätzen. Personen, die informell zu Hause arbeiten, wie etwa Wissenschaftler*innen, sind hier nicht erfasst.
[3] Siehe https://www.lokalo24.de/lokales/alsfeld/sorry-kein-empfang-funkloch-karte-zeigt-weisse-flaechen-auch-vogelsberg-13237394.html (Access: 08.04.2020).
[4] „Im März 2019 bewegten sich die durchschnittlichen Verbindungsgeschwindigkeiten für mobile Geräte zwischen Höchstwerten von 67,5 Mbit/s in Norwegen und Tiefstwerten von 5,9 Mbit/s in Algerien. Die weltweite durchschnittliche Download-Geschwindigkeit im mobilen Netz lag im März 2019 bei 26,12 Mbit/s. In dieser Kategorie liegt Deutschland mit 31,9 Mbit/s auf Rang 45. Im Jahr 2017 stand die Bundesrepublik mit 24,1 Mbit/s auf Rang 2“ (/it-daily.net, 07.05.2019).
[5] So weisen derzeit etwa wissenschaftliche Mitarbeiter*innen in einem gemeinsamen Schreiben an den Krisenstab der Justus-Liebig-Universität auf die besondere Krisendynamik zwischen Cyberangriff und Coronakrise hin und fordern Entlastungen in dieser doppelten Krise##Ist das Dokument online verfügbar###. Der Präsident der Justus-Liebig-Universität hat in einer Videoansprache zum Semesterstart am 08.04.2020 auf diese Forderungen reagiert: „Wir setzen auch auf Vertrauen, und zwar wechselseitig. Wir als Präsidium, wir an der Universitätsspitze vertrauen darauf, dass alle Beschäftigten, alle Studierenden besonnen, klug, kreativ, pragmatisch mit dieser Sondersituation in den nächsten Wochen und Monaten umgehen werden. Sie haben unsere Rückendeckung. Auf der anderen Seite können Sie sich auch darauf verlassen, dass wir uns dafür einsetzen, dass die allergrößten Härten, die für Beschäftige und Studierende derzeit entstehen, auch durch entsprechende politische Maßnahmen abgefedert werden. Ich denke da zum Beispiel daran, dass wir uns dafür einsetzen werden, gemeinsam mit den anderen Hochschulen und den Wissenschaftsorganisationen, dass dieses Ausnahmesemester, vor dem wir stehen, möglichst pauschal nicht auf die Regelstudienzeit und nicht auf die BAföG-Bezugsdauer angerechnet wird. Ich denk da auch daran, dass wir für die vielen Beschäftigten, die sich in der wissenschaftlichen Qualifikation mit befristeten Arbeitsverhältnissen befinden, dass für sie auch eine Möglichkeit geschaffen wird, durch entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen, dass dieses Ausnahmesemester, dass diese kommenden Monate, zu einer Verlängerung ihrer Arbeitsverträge pauschal führen können“, Link: https://www.youtube.com/watch?v=kdQL4YJctsU&feature=youtu.be (Access: 09.04.2020). In einem neuen Gesetzespaket hat die Bundesregierung inzwischen eine Änderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) beschlossen: „Die Hochschulen und Forschungseinrichtungen als Arbeitgeber von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in ihrer Qualifizierungsphase haben damit die Möglichkeit, Beschäftigungsverhältnisse über die bisherigen Höchstbefristungsgrenzen hinaus um sechs Monate zu verlängern, zum Beispiel, wenn sich Forschungsprojekte aufgrund der aktuellen Ausnahmesituation verzögern“, Link: https://www.forschung-und-lehre.de/politik/bundesregierung-aendert-wegen-corona-pandemie-wisszeitvg-2683/ (Access: 14.04.2020).
[6] Der Markt reagiert bereits auf den neuen Trend: Eine hessische Firma hat ein Homeoffice auf Rädern konstruiert. Unternehmen können den sogenannten „Xtra-Raum“, der als Anhänger mit einem Auto transportiert werden kann, auf dem Grundstück des/der Mitarbeiters*in parken (Frankfurter Rundschau, 14.04.2020). Link: https://www.fr.de/rhein-main/main-taunus-kreis/hofheim-ort74520/hofheim-messebauer-konstruiert-homeoffice-raedern-13646017.html (Access: 14.04.2020).
[7] Angela Merkel: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst. Seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt. (...) Wir sind eine Demokratie. Wir leben nicht von Zwang, sondern von geteiltem Wissen und Mitwirkung. Dies ist eine historische Aufgabe und sie ist nur gemeinsam zu bewältigen“, nwzonline, 19.03.2020, Link: https://www.nwzonline.de/politik/berlin-corona-rede-im-wortlaut-lesen-sie-hier-merkels-ansprache-an-die-nation_a_50,7,2821516659.html (Access: 09.04.2020).
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Sophie Engelen und Dinah Leschzyk
Posted on July 8, 2020
Am 04. Juli 2020 übertrug die ARD das Spiel. Es sollte eines der hochklassigsten und dramatischsten Pokalfinale aller Zeiten werden. Bereits nach 12 Sekunden erzielte Lea Schüller das 1:0 für die Essenerinnen und damit das schnellste Tor in der Geschichte des DFB-Pokals der Frauen. Nach spannenden 90 Minuten stand es 3:3 und erst nach torloser Verlängerung konnte sich der Favorit aus Wolfsburg im Elfmeterschießen durchsetzen. Danach: Freudentaumel, Konfettikanonen und knallende Sektkorken! Nehmen wir an. Nach Aussage der ARD gab es keinen Spielraum mehr. Für sie. Die Siegerehrung auszustrahlen. Stattdessen wurde geswitcht, zur Vorberichterstattung der Männer.
Über den Microblogging-Dienst Twitter reagierten die Fans sofort und kritisierten die ARD scharf. Vor dem Hintergrund, dass Frauen im Sport, besonders im Fußball, seit Jahrzehnten strukturell diskriminiert werden und die Medien selbst in jüngerer Vergangenheit keine rühmliche Rolle im Hinblick auf eine Gleichstellung der Geschlechter spielten, ist diese Entscheidung der ARD mindestens als unüberlegt, wenn nicht als grob fahrlässig zu betrachten. In Erinnerung gerufen sei der Werbespot des ZDF zur Fußball-Europameisterschaft der Frauen 2013, der den Körper einer trainierten jungen Frau im Deutschland-Trikot zeigt, die einen Fußball geschickt in einer Waschmaschine versenkt – ohne ihren Kopf mit ins Bild zu nehmen – um sie abschließend auf der laufenden Waschmaschine posieren zu lassen. [1]

In nunmehr 120 Jahren DFB-Geschichte stand noch nie eine Frau an der Spitze des Fußballverbandes, der die Interessen von mehr als 7 Mio. Mitgliedern und fast 25.000 Vereinen vertritt. [3] Zu der medialen (Re-)Produktion von geschlechtsspezifischer Ungleichheit tritt also das Problem, dass Frauen in Positionen des Sportmanagements nach wie vor unterrepräsentiert sind. Während die Autorinnen diesen Blog-Beitrag verfassten, wurde mit Heike Ullrich der Posten der stellvertretenden Generalsekretärin des DFB weiblich besetzt. [4] Immerhin etwas.
Literatur
Degele, Nina (2013): Fußball verbindet – durch Ausgrenzung . Wiesbaden, Springer VS.
Gugutzer, Robert (2019): „Geschlechtsspezifische Körperpolitiken im Sport. Überlegungen im Anschluss an Michel Foucaults Machttheorie.“ In: Hunger, Ina; Zweigert, Maika & Kiep, Peter (2019) (Hrsg.), Geschlechter – Wissen – Macht – Körper. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Sport und leibliche Praxen . Berlin, LIT Verlag, 23–35.
[4] https://www.dfb.de/news/detail/heike-ullrich-ist-neue-stellvertretende-generalsekretaerin-des-dfb-217287/
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Dinah Leschzyk
Posted on July 8, 2022
Eigenes Vokabular, eigene Regeln. Ein Barcamp ist nichts für schwache Nerven. Oder anders gesagt: Es ist ein Überraschungspaket. Wer auf diesen als „Nicht-Konferenzen“ bezeichneten Veranstaltungen spricht, bleibt bis zuletzt offen. Welche Themen die einzelnen Vorträge bzw. Sessions haben, wird erst am Tag der Veranstaltung entschieden. In einem Pitch stellen die Ideengeber*innen ihre Konzepte vor. Das Publikum entscheidet durch Handzeichen. Gehen keine Hände hoch, findet die Session nicht statt. Wozu auch? Die Idee hat das Publikum nicht überzeugt. Vielleicht ist es dieser Moment, den Wissenschaftler*innen am meisten fürchten. Kein Interesse für das eigene Projekt. Die Präsentation ausgearbeitet, den USB-Stick im Gepäck, ist dann der Zugang zur großen Bühne verwehrt. Oder zur kleinen. Die Location paralleler Slots wird nach Anzahl der Hände im Publikum entschieden. Wobei: Ein Publikum gibt es bei Barcamps offiziell nicht. Alle Teilnehmer*innen werden als Teilgeber*innen verstanden. Alle können das Programm mitbestimmen und mit ihrer Sessionidee überzeugen.
Der Pitch. Große Bühne. 120 Teilgeber*innen schauen auf mich.
Ich bin bei Politoscope – Das Barcamp zur politischen Netzkommunikation (Staatsministerium Baden-Württemberg 2022), um mich zur Krisenkommunikation während der Corona-Zeit auszutauschen und MIRKKOMM vorzustellen. Das Projekt, in dem ich nach Ablauf meiner zwölf Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer mittelhessischen Universität beschäftigt bin (#JLU, #IchBinHanna bzw. hoffe das nicht – ist aber ein anderes Thema…, Bahr et al. 2022). Die Abkürzung MIRKKOMM steht für „ M ultimodalität i n der R isiko- und K risen kom munikation“. Das Projekt zielt auf die Optimierung der Risiko- und Krisenkommunikation von Regierungen, Behörden und Organisationen der Gesundheitssicherung. Konkret analysieren wir die Kommunikation in der Corona-Pandemie. Es ist ein großes Verbundprojekt. Beteiligt sind starke Partner*innen: diverse Hochschulen verantworten eigene Teilprojekte. Internationale Forscher*innen und Institutionen wie das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) oder das Robert Koch-Institut unterstützen als assoziierte Partner*innen. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) koordiniert das Projekt und forscht in zwei der sieben Teilbereiche (BfR 2021). Ich analysiere multimodale Online-Kommunikate: Wie kommunizieren staatliche Einrichtungen, Medien und andere Akteur*innen im Internet über Risiken? Welche Darstellungsformen können hierzu sinnvoll eingesetzt werden? Wie werden behördliche Social-Media-Inhalte von Influencer*innen bearbeitet und weiterverwendet? (Projekthomepage: www.mirkkomm.de ).
„Zu viel Text. Eine Farbgebung, die an das Logo des Betreibers von Tankstellentoiletten erinnert. Keine Reaktion auf Kommentare in Social Media – Kritik an der Corona-Kommunikation staatlicher Stellen war vielfältig und wurde überaus deutlich geäußert.“ Mein Abgang: „Ich würde mich über einen Austausch freuen, mit Leuten, die selbst Online-Kommunikate erstellen, oder auch anderen Wissenschaftler*innen, die zur Pandemie-Kommunikation forschen.“
Mein USB-Stick kommt zum Einsatz. Zu einem Austausch mit anderen Wissenschaftler*innen kommt es nicht.
Ich freue mich, vortragen zu dürfen. Künstliche Verknappung wirkt motivationale Wunder. Meine Session ist gut besucht – alle Stühle sind besetzt. Ich gebe einen kurzen Input. In den „Tipps & Tricks für eine Barcamp-Session“, die der Veranstalter, das Staatsministerium Baden-Württemberg, wohlweislich allen hat zukommen lassen, heißt es: „Beschränken Sie sich mit den Inhalten. Ein guter Vortrag ist mehr als ‚betreutes Lesen‘!“ Ist deshalb keine*r aus meiner Scientific Community da? Mit Inhalten beschränken? Nicht unbedingt das Motto der Wissenschaft. „Betreutes Lesen“? Kommt schon mal vor. Die Produktionslogiken der Wissenschaft lassen nicht immer eine didaktisch wertvolle Aufbereitung von Inhalten für spezifische Zielgruppen zu: Zeitdruck, Fachtraditionen, Erwartungshaltungen. Das Dilemma, Wissenschaft verständlich zu kommunizieren und den ungeschriebenen Gesetzen der Forschungsgemeinschaft zu genügen.
Unbezahlbare Einblicke.
Vor Ort sind vor allem diejenigen, die die Social-Media-Kanäle von Bundes-, Landes- oder Kommunalbehörden betreuen. Diejenigen, die sich seit über zwei Jahren immer wieder Shitstorms ausgesetzt sehen. Diejenigen, die – so der Wunsch einiger – 24/7 auf die unflätigsten Kommentare wohlwollend, empathisch und ausführlich zu reagieren haben. Informationen liefern, die nicht vorliegen. Sicherheiten kommunizieren, die es nicht gibt.
Eine der Sessions wird als „Selbsthilfegruppe“ für Social-Media-Manager*innen betitelt.
Unterbesetzt. Auf die Freigabe ihrer Posts wartend, während deren Aktualität exponentiell abnimmt – der Ausdruck „exponentieller Zerfall“ bildet den Zusammenhang von Zeitverlauf und Relevanz eines Tweets ziemlich gut ab. Die Produktionsbedingungen der bunt bebilderten Posts auf Instagram, Twitter und Co. sind während der Corona-Pandemie alles andere als rosig. Ich erfahre das hier. Aus erster Hand. Kann Rückfragen stellen, mir die Perspektive der Sender*innen erklären lassen.
Die Angst vor dem Pitch? Nix mitbekommen? Kein Interesse an der Anwender*innenperspektive?
Kolleg*innen, warum auch immer ihr nicht hier wart: Ihr habt eine Gelegenheit verpasst. Eine Gelegenheit par excellence zur Kommunikation von Wissenschaft und zur Vernetzung von Wissenschaft und Praxis. Dieses erste Barcamp zur politischen Online-Kommunikation von Behörden war richtig gut. Von Anfang bis Ende.
Und ja: auch das Catering ;)
Einen Clip der Veranstaltung finden Sie hier .
Weitere Informationen
Bahr, Amrei/Eichhorn, Kristin/Kubon, Sebastian (2022), #IchBinHanna: Prekäre Wissenschaft in Deutschland . Berlin: Suhrkamp.
BfR – Bundesinstitut für Risikobewertung (2021), Mehr als Text: Mit Wissen durch die Covid-19-Pandemie . 22.11.2021, https://www.bfr.bund.de/de/presseinformation/2021/46/mehr_als_text__mit_wissen_durch_die_covid_19_pandemie-288739.html (20.06.2022).
MIRKKOMM – „Optimierung der Risiko- und Krisenkommunikation von Regierungen, Behörden und Organisationen der Gesundheitssicherung“, www.mirkkomm.de (geht zeitnah online, Stand: 22.06.2022).
Staatsministerium Baden-Württemberg (2022), Politoscope – Das Barcamp zur politischen Netzkommunikation , https://stm.baden-wuerttemberg.de/de/service/politoscope/?type=98 (20.06.2022).
Twitter-Kanal zu Politoscope – Das Barcamp zur politischen Netzkommunikation: https://twitter.com/PolitoscopeBC (22.06.2022).
Autoritäre Populisten gegen Gender: Trump, Bolsonaro und die AFD
Plakat: F*** your Feelings