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Nachruf: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Geissel (1950-2024)

Am 29. April 2024 verstarb unser Kollege und Freund Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Geissel nach schwerer Krankheit in Darmstadt-Wixhausen.

Foto: G. Otto (GSI)
Als der Physik-Student Hans Geissel in den 1970er Jahren bei Heinz Ewald, der am II. Physikalischen Institut der Justus-Liebig Universität Gießen am Entwurf und Aufbau des SHIP federführend beteiligt war, erstmals von jenem Spitzenforschungsinstitut hörte, welches in der Nähe von Darmstadt gebaut werden solle, war er von Anfang an fasziniert. Die Gesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) sollte ihn bis zu seinem Lebensende begleiten, er hat große Teile des wissenschaftlichen Programms maßgeblich geprägt und entscheidende Grundlagen für die zukünftige FAIR Experimentieranlage gelegt; bis zum letzten Atemzug arbeitete er noch an verschiedenen Projekten, für die er während seiner akademischen Laufbahn ein weltweit einzigartiges wissenschaftliches Profil und spezielle Methoden und Instrumente entwickelt hatte.

Doch der Reihe nach: in Alsfeld geboren, von Gottfried Münzenberg während seiner Diplom-Arbeit beim Aufbau von Flugzeitdetektoren für das SHIP betreut, wurde er mit einem von Peter Armbruster vorgeschlagenen Thema zur Untersuchung der atomaren Wechselwirkung von energiereichen Schwerionen in Materie 1982 an der JLU promoviert. Seine Postdoc-Zeit von 1982 bis 1984 verbrachte er am kanadischen AECL-Labor in Chalk-River (Kanada). Es war die Kombination aus Kern-, Atomphysik und Ionenoptik, die für seine wissenschaftliche Arbeit charakteristisch werden und ihn zeitlebens begleiten sollte.

Zurück bei GSI, begannen Mitte der 1980er-Jahre die konkreten Vorbereitungen zum SIS-ESR-Projekt. In letzter Minute – die Planungsarbeiten für den Bau waren bereits abgeschlossen – entstand die Idee, einen Fragmentseparator zu integrieren. In Berkeley waren kurz zuvor „exotische Atomkerne“, sogenannte Halo-Kerne, entdeckt worden, und in Caen war ein neues Separationsprinzip für Projektilfragmente entwickelt worden. Niemand wusste zu jener Zeit, wie solch ein Instrument mit relativistischen Strahlen funktioniert; es gab ernste Zweifel, ob es überhaupt jemals funktionieren könne. Es waren solche Aufgaben, die Hans Geissel jederzeit motivierten, die pionierhafte Tat, die totale Herausforderung, Neues ermöglichen, Unbekanntes erforschen: mit Sachverstand, Beharrlichkeit, Fleiß und zu guter Letzt auch immer mit einem Quäntchen vom Glück des Tüchtigen. Und mit den besten Leuten und den neuesten Werkzeugen. Was ab 1991 folgte, war eine wissenschaftlich äußerst fruchtbare Periode: ein hochauflösendes Impuls-Spektrometer für relativistische Ionen war ein weltweites Novum für die kernphysikalische Forschung mit Schwerionen und eröffnete zahlreiche neue Forschungsmöglichkeiten; es erschloss einen neuen Energiebereich für Präzisionsexperimente; die Kombination eines Fragmentseparators mit einem Speicherring war einmalig in der Welt – und ist es – mit einer Ausnahme – bis heute geblieben! Das im FRS bei GSI realisierte Konzept eines Fragmentseparators und hochauflösenden Impulsspektrometers wurde weltweit zur Schablone für alle weiteren Experimentieranlagen mit energiereichen exotischen Kernen.

Als Beispiele seien hier nur einige Schlüsselergebnisse genannt, die aufs Engste mit Hans Geissels Wirken verbunden sind: die erstmalige Entdeckung eines Proton-Halo-Kerns, die Entdeckung der Zwei-Protonen-Radioaktivität, die erste Speicherung und Kühlung von radioaktiven Kernen im ESR, die erstmalige Messung von mehreren hundert Grundzustandsmassen instabiler Nuklide, Präzisionsdaten zur atomaren und nuklearen Wechselwirkung von Schwerionen in Materie – diese Daten sind nicht zuletzt für die Tumortherapie mit schweren Ionen von Bedeutung –, die Entdeckung gebundener pionischer Zustände in schweren Atomen, die ersten Experimente zum beta-Zerfall in gebundene Endzustände in hochionisierten instabilen Kernen wie 205Tl, die ersten Entwicklungen und Tests von PET-Kameras Anfang der 1990er Jahre am FRS, die Entdeckung mehrerer doppelt-magischer Kerne fernab des Stabilitätstals, wie z.B. 100Sn und 78Ni, sowie eine Vielzahl neuer Isotope: seit 2012 hält Hans Geissel mit insgesamt 277 neu entdeckten Isotopen den „Weltmeister“-Titel. Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der überraschenden Entdeckung mit dem ersten Uranstrahl vom SIS-18 im Jahr 1992, nämlich dass die Spaltung von energiereichen Uranstrahlen und Separation im Flug eine universelle und ausgesprochen leistungsstarke Quelle zur Erzeugung und Untersuchung neutronenreiche Nuklide im mittleren Massenbereich ist: Das Konzept aller Fragmentseparatoren, die seitdem geplant und aufgebaut wurden – insbesondere BigRIPS in RIKEN (Japan), ARIS in MSU (USA), HFRS bei HIAF (China) und nicht zuletzt des Super-FRS bei FAIR –, basiert auf diesen bahnbrechenden Forschungsergebnissen.

Neben der Leitung der FRS-Gruppe, die er ab 1996 innehatte, führte Hans Geissel von 1999 bis 2012 die Super-FRS Arbeitsgruppe und war maßgeblich an der Gründung der NUSTAR-Kollaboration beteiligt. Nach der Habilitation 1996 in Gießen wurde er 2001 zum außerplanmäßigen Professor an der JLU ernannt und war ab dem Jahr 2000 am Aufbau der IONAS-Arbeitsgruppe am II. Physikalischen Institut beteiligt (IONAS steht für Ionenoptik, Nukleare Astrophysik und Struktur exotischer Kerne). Er war und blieb seiner Alma Mater stets eng verbunden; die universitäre Ausbildung junger Forscherinnen und Forscher war ihm besonders wichtig. Er betreute zahlreiche Diplom- und Master-Arbeiten sowie eine Vielzahl von Dissertationen und er bildete viele junge Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler von kollaborierenden Instituten weltweit aus. Er pflegte vielfältige internationale Verbindungen, mit Kolleginnen und Kollegen in Theorie und Experiment, mit Forscherteams und Beschleunigerlaboren weltweit, besonders intensiv mit Frankreich, Japan, Kanada und USA. Ab 2015 war er als Helmholtz-Professor weiterhin bei GSI und an der JLU tätig und widmete sich besonders der Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Profils der Super-FRS Experiment Kollaboration, die sowohl den FRS bei GSI als auch den Super-FRS bei FAIR als hochauflösendes Impulsspektrometer zusammen mit neuartigen Detektoren wie dem (Super-)FRS Ion Catcher für neue Experimente nutzt.

Mit dem spezifischen Verständnis von atomaren und nuklearen Wechselwirkungen von Schwerionen in Materie und der speziellen Verbindung mit der Ionenoptik legte er die Grundlagen für Simulationsprogramme (wie ATIMA, MOCADI usw.), die notwendig sind, um neue wissenschaftliche Apparate zu entwickeln, die insbesondere notwendig sind um neuartige Experimente an einem Instrument von der Komplexität eines FRS oder Super-FRS oder gar der Kombination eines Fragmentseparators mit einem Speicherring erfolgreich durchführen zu können und weiterzuentwickeln. Als Beispiel sei das erste Channeling-Experiment am SIS-18 im Jahr 1993 genannt, welches nur durch eine spezielle ionenoptische Einstellung des FRS ermöglicht wurde, die er entwickelt hatte, um einen Parallelstrahl mit kleinster Winkeldivergenz zu erzeugen. Darüber hinaus waren Eigenschaften, Dynamik und Struktur exotischer Kerne, exotische Atome und die nukleare Astrophysik seine bevorzugten Forschungsthemen. Seine experimentelle Erfahrung und sein profundes Wissen auf diesen Gebieten machten ihn zum Vordenker von FRS und Super-FRS und deren innovativer wissenschaftlicher Programme. Er war der „Mastermind“ vieler Experimente mit exotischen Kernen an hochauflösenden Impulsspektrometern. Bis zuletzt arbeitete er aktiv, zielstrebig und ergebnisorientiert an mehreren Projekten, deren Gemeinsamkeit der Transport von Schwerionen durch Materie innerhalb ionenoptischer Systeme war. Eine seiner letzten Arbeiten war der Lösung des Puzzles um den Gas-Festkörper-Unterschied bei der Abbremsung von Schwerionen gewidmet, ein Problem, welches bereits seit der Mitte des letzten Jahrhunderts viele Fragen aufgeworfen und vielfältige Untersuchungen angestoßen hatte.

Für seine herausragenden wissenschaftlichen Arbeiten und epochemachenden Entdeckungen erhielt er viele Auszeichnungen, so z.B. die Ehrendoktorwürde der Chalmers Universität in Göteborg (Schweden), die Goldmedaille der Comenius-Universität in Bratislava (Slowakei), die SUNAMCO-Medaille der IUPAP (zusammen mit Sigurd Hofmann) sowie den Alexander von Humboldt-Preis in Physik von der Polnischen Stiftung für Wissenschaft.

Die wissenschaftliche Arbeit war für Hans Geissel persönliche Leidenschaft und Erfüllung, er empfand sie als ein Privileg und lebte sie als ein die Menschen über Länder-, Sprach- und Kulturgrenzen hinweg verbindendes Element. Das internationale Umfeld, die interdisziplinäre und generationenübergreifende Zusammenarbeit haben Hans Geissel inspiriert. Bis zum Schluss war er jung genug geblieben, um Althergebrachtes über Bord zu werfen und kraftvoll etwas Neues zu beginnen, wenn es ihm interessant erschien. Er war wissensdurstig und immer offen, besonders wenn es um die Zusammenarbeit mit anderen Menschen ging. Es war ein großes Glück, dass wir viele Jahre lang mit ihm zusammenarbeiten konnten. Wir haben viel von ihm gelernt. Wir nehmen Abschied für immer, mit allergrößter Wertschätzung und Dankbarkeit. Unsere Anteilnahme gilt seiner Familie.

C. Scheidenberger, 15.05.2024