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Überschneidungen und Gegensätze. Zum Verhältnis von feministischer, behindertenpolitischer und „Lebensschutz“-Bewegung

Allgemeine Informationen

  • Bearbeiterin: Kirsten Achtelik
  • Institut / Universität: Humboldt Universität, Berlin
  • Erst- und Zweitbetreuer*innen: Karin Lohr

  • Art des Qualifikationsprojekts: Promotion
Abstract

Zusammenfassung

Selbstbestimmung ist ein zentraler Begriff in den feministischen und behindertenpolitischen Bewegungen seit den 1970er respektive 1980er Jahren. Als Kernbegriff der feministischen Kampagnen für das Recht auf Abtreibung fungierte er zudem als Antagonist zu den ebenfalls in dieser Zeit entstehenden „Lebensschutzbewegung“ der Abtreibungsgegner_innen. Der Erfolg der Forderungen nach Kontrolle über den eigenen Körper und das eigenen Leben ist allerdings ambivalent, da der Begriff gesellschaftlich affirmiert wurde. Durch eine Wendung zu individualistischer Wunscherfüllung - konkret des Wunsches nach einem „gesunden“ Kind - verflochten sich emanzipatorische und marktliberale Anteile beinah unauflösbar. Der Begriff wird jedoch weiterhin - und trotz bewegungsinterner Debatten oft unkritisch - von den sozialen Bewegungen genutzt. Mit diesem Dissertationsprojekt will ich die Positionierung der drei Bewegungen zum emanzipatorischen Gehalt des Selbstbestimmungsbegriffes rekonstruieren. Die Kernfrage, um die sich alle Arbeiten drehen, lautet: Wie reflektieren die Bewegungen den Selbstbestimmungsbegriff, wie beeinflusst das ihre Debatten und ihr Verhältnis zueinander?

Ziel der Arbeit

Die einzelnen Texte der kumulativen Dissertation sollen zusammen die intersektionale sozialwissenschaftliche Bewegungsforschung zu den feministischen, behindertenpolitischen und „Lebensschutz“-Bewegungen an der Schnittstelle zu den Gender und Disability Studies voranbringen. Dabei soll die im deutschen Diskurs dominierende dichotome Einteilung in „pro choice“ und „pro life“ (Busch/Hahn 2014) zugunsten einer Einbeziehung querliegender behindertenpolitischer Argumente revidiert und durch ein komplexeres Verständnis der Diskusstränge ersetzt werden.

Mittel und Methoden

In meinem Buch „Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung“ habe ich damit begonnen die Frage zu beantworten: Ist der Begriff Selbstbestimmung als emanzipatorischer weiterhin verwendbar und wenn ja, wie? Dazu habe ich das Verhältnis der westdeutschen Frauen- und Behindertenbewegung seit den 1970er Jahren untereinander und ihre jeweiligen Positionen zu Abtreibung, pränataler Diagnostik, reproduktiven Technologien und der „Lebensschutz“bewegung rekonstruiert, ihre Konflikte und Annäherungen herausgearbeitet sowie die umfangreiche Forschungs- und Sekundärliteratur und Schlüsseltexte der (grauen) Bewegungsliteratur ausgewertet. Befragungen von (ehemaligen) Aktivist_innen wie auch teilnehmende Beobachtung (Bb) sozialer Tatbestände von Demonstrationen, politischen Veranstaltungen und Aktivist_innentreffen sind in die Analyse eingeflossen. Das Buch ist im September 2015 erschienen.


Diese Analyse habe ich in dem Text „‘Abtreibung tötet, stoppt ein schlagendes Herz und es tötet die Seele der Frau‘ - die ‚Lebensschutz‘-Bewegung in Deutschland“ für den Sammelband „Antifeminismus in Bewegung“ vertieft. Hier ordne ich die „Lebensschutz“bewegung mittels einer Analyse ihrer zentralen Texte und ihrer historischen Entwicklung in das bundesdeutsche antifeministische Spektrum ein und analysiere ihre Behandlung von biopolitischen Themen, insbesondere behindertenpolitischer Topoi. Der Sammelband wird im Herbst 2017 erscheinen.


Um die Frage nach dem emanzipatorischen Gehalt des Selbstbestimmungsbegriffs weiter zu verfolgen, eignet sich der bewegungssoziologische Framing-Ansatz. Die Methode kann die Dynamik des bewegungspolitisch zentralen Begriffes „Selbstbestimmung“ zwischen Individualisierung und Gesellschaftsveränderung verstehbar machen, indem seine Verwendung in den beiden Bewegungen (feministische und behindertenpolitische) intersektional entlang der Achsen der Ungleichheit gender, (dis)ability und class (Windisch 2014) nachgezeichnet wird. Mit Hilfe des Framingansatzes lassen sich aus den zentralen Bewegungstexten Deutungsmuster und -konflikte für Selbstbestimmung, die die Bewegungen in den Kategorien Sexualität, Körper und Reproduktion entwickelt haben, herauskristallisieren.


Ansätze der Intersektionalitätsforschung vernachlässigen häufig die realen, miteinander verknüpften Kämpfe marginalisierter Gruppen. In der Bewegungsforschung werden intersektionale Verknüpfungen eines Framings selten untersucht. Diesen Forschungsderivaten soll eine exemplarische Studie zur Auseinandersetzung und Zusammenarbeit der Frauen- und Behindertenbewegung zu Beginn der 1990er Jahre mit Zeitzeug_inneninterviews und Quellenrecherche begegnen.