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"Normalitätsannahmen und Leitbilder. Denkbare Beiträge interdisziplinärer Rechtsforschung zur Verfassungsgerichtspraxis" am 17.05.13

Prof. Dr. Susanne Baer

Richterin des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Susanne Baer über "Normalitätsannahmen und Leitbilder. Denkbare Beiträge interdisziplinärer Rechtsforschung zur Verfassungsgerichtspraxis"

Am Freitag, 17.05.2013, sprach im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Methoden und Verfassung" des Rudolf-von-Jhering-Instituts der JLU Gießen die Richterin des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Susanne Baer, LL.M., Professur für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien, Humboldt-Universität zu Berlin, zum Thema "Normalitätsannahmen und Leitbilder. Denkbare Beiträge interdisziplinärer Rechtsforschung zur Verfassungsgerichtspraxis". 

In Gegenwart des 1. Vizepräsidenten der JLU, Herrn Prof. Dr. Adriaan Dorresteijn, ihrer Karlsruher Richterkollegin Prof. Dr. Gabriele Britz sowie ihres Vorgängers am 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Brun-Otto Bryde (beide FB 01 der JLU), beglückwünschte Frau Baer eingangs ihres Vortrags Universität und Fachbereich zur Gründung des Jhering-Instituts als eines neuen Forums für Grundlagenforschung und hob die Ausnahmestellung des Instituts hervor.  

Ausgehend von ihrem Begriff von Recht als sozialer Praxis ("doing law") wandte sich Frau Baer dem Projekt einer Verfassungsgerichtsforschung zu, die sie als echtes Desiderat in der deutschen und europäischen Forschungslandschaft bezeichnete. Es gehe ihr dabei auch darum, den Zusammenhang zwischen Person und Profession offenzulegen und zu reflektieren. Bei der Frage, wie Verfassungsgerichte funktionieren, komme es auf die Materialien (wie Normen, Entscheidungen, biographische Daten, Narrative), auf die Hürden (wie Sperrfristen für die Aktennutzung, Beratungsgeheimnis, richterliche Pflicht zu Zurückhaltung) an, aber auch auf die allgemeinen methodischen Herausforderungen, die sie für unterschiedliche rechtssoziologische Herangehensweisen skizzierte. Die Justizforschung habe sich aufklärend mit "Klassenjustiz", "Männerjustiz" und "Weißenjustiz" befasst. Häufig lägen der Rechtsprechung unausgesprochene Normalitätsannahmen zugrunde; diese seien ambivalent. Frau Baer zitierte beispielhaft Theresia Degener ("Terror der Normalität") und Judith Butler ("Heteronormativität"). In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebe es große Themenbereiche, in denen derartige Normalitätsannahmen eine Rolle spielten (beispielsweise: "Wer ist arm?" im Hartz-IV-Verfahren). Sowohl bei Normalitätsannahmen wie bei Leitbildern (d.h. prospektiv gewendeten Annahmen) bestehe die Gefahr von Stereotypen, die immer wirksam seien und daher reflektiert werden müssten. Hier habe die interdisziplinäre Rechtsforschung ein weites Arbeitsfeld.  

Die von Prof. Dr. Martin Lipp (Professur für Deutsche Rechtsgeschichte, Neuere Privatrechtsgeschichte und Bürgerliches Recht am FB 01) geleitete lebhafte Diskussion berührte u.a. Fragen von Religion und Recht, Spieltheorie als Analysewerkzeug und der innergerichtlichen Bedeutung von Sondervoten am Bundesverfassungsgericht. Die zahlreich erschienenen Zuhörer dankten der Referentin für ihren Vortrag mit langanhaltendem Applaus. 

Das 2012 gegründete Rudolf-von-Jhering-Institut für rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung der JLU Gießen ist am Fachbereich Rechtswissenschaft beheimatet. Es widmet sich der interdisziplinären Forschung auf den Gebieten der historischen, philosophischen und sozialen Grundlagen des Rechts, der Geschichte der Universität Gießen und ihrer Juristischen Fakultät, der Rechtsentwicklung der Stadt Gießen sowie des Lebens und Werks Rudolf von Jherings, des epochemachenden Juristen, der 1852-1868 in Gießen lehrte.

 

Zum Artikel der Gießener Allgemeinen Zeitung vom 22.05.13