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Fußfragment

 

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 

 

Fragment eines linken Fußes mit hochsohliger Sandale, Inv. T II-8

Fundort: unbekannt.

Provenienz: unbekannt.

 

Sohle hohl, Fuß massiv. Abbruch am Sprunggelenk. Feiner senkrecht verlaufender Riss durch den Fuß bis zum oberen Drittel der Sohle. Weitere kleinere Verletzungen.

Harter hellroter (10R 6/4-6/5) Ton. Sinterspuren.

Hellbraun, 10 YR 6/5. Weiße Engobe, keine Farbspuren. 

Maße: 2,8 cm; B: 1,6 cm; Länge des Fragments: 2,0 cm; Höhe der Sohle: 1,2 cm.

Lit.: Unpubliziert.

 

Beschreibung: Der sphärische Gegenstand ist in der oberen Hälfte durch vertikale Rillen in fünf Sektoren gegliedert. Oben in der Mitte befindet sich in einer flachen Einsenkung ein etwa 4 mm großes Loch mit glattem Rand. 

Interpretation: Der Fuß ist mit einer Sandale bekleidet, deren hohe Sohle an ein Charakteristikum sitzender weiblicher Terrakotta-Statuetten vom Typus „orientalische Aphrodite“[1] oder „orientalische Göttin“[2] erinnert. Nackt oder in einem dünnen, hoch gegürteten Chiton, der mindestens bis zur Wade herunterreicht, mit beweglich eingesetzten Armen, sind diese Frauengestalten reich geschmückt mit Kreuzgürtungen, knopfartigen Fibeln, Schlangenreifen an den Unterschenkeln und ausladenden Kronen, die ein anspruchsvolles zum Teil durchbrochenes Dekor aufweisen können. Ihr Hauptverbreitungsgebiet liegt im westlichen Kleinasien und auf Delos[3].  

Parallelen aus Grabkontexten von Myrina lassen vermuten, dass derartige Statuetten vor allem zwischen dem 1. Jh. vor und dem 1. Jh. nach Chr. angefertigt worden sind[4].

Ob es sich bei ihnen um Göttinnen – außer an Aphrodite dachte man an Astarte, Atargatis oder Isis, wegen des häufigen Halbmondmotivs am Kopfschmuck auch an Artemis[5] – um Priesterinnen im Kult der orientalischen Aphrodite[6] oder um Tempeldienerinnen handelt[7], ist immer wieder Gegenstand der Diskussion. Man hat sie auch als Darstellungen von Bräuten gesehen, die den unverheiratet verstorbenen Mädchen mit ins Grab gegeben wurden[8], oder als 'Ankleide-Puppen', die man am Ende der Kindheit den Göttern weihte. Nur war eine so verfeinerte, überaus anfällige Tonfigur wie die "orientalische Aphrodite" als Spielzeug wenig geeignet[9].

Eine Version dieses Typus ist nackt. Das Abdomen weist eine gedeckelte Öffnung auf, in der sich ein winziges Wesen, ein Embryo, verbirgt. Die Krone der Frau ist ebenso prächtig und ausladend wie die der anderen; die Sohlen sind weniger hoch. Bisher sind in dieser Art zwei identische Statuetten und ein Fragment aufgetaucht[10].   

Was nun die Sandalen mit den extrem hohen Sohlen angeht, so wurden sie gelegentlich als Kothurnen bezeichnet[11], meist jedoch als tyrrhenische (etruskische) Sandalen[12]. Beide Bezeichnungen sind problematisch. Der Kothurn des Schauspielers hatte ursprünglich eine flache Sohle und einen weichen Schaft, in den man bequem hinein schlupfen konnte. Es waren keine Sandalen, sondern geschlossene, symmetrisch geschnittene Schuhe, die wechselweise an beide Füße passten. Die Erhöhung der Sohle des Kothurns begann erst im Hellenismus und steigerte sich in der Römischen Kaiserzeit zu stelzenartigen Klötzen, auf denen man langsam und gemessen einherzuschreiten pflegte[13].

Die Sohlen der etruskischen Sandalen waren nach Pollux[14] vierkantig. Sie bestanden aus Holz und hatten vergoldete Riemen. Hesych hob besonders ihre Höhe hervor[15]. An zahlreichen Orten Etruriens fand man ein als "Tyrrhenika" bezeichnetes Schuhwerk, dessen Sohle aus Holz gefertigt ist und einen metallenen Rahmen, meist aus Bronze, sowie ein Scharnier besitzt. Letzteres verbindet die beiden am Steg zwischen dem vorderen und hinteren Abschnitt unterbrochenen Teile der Sohle miteinander[16]. Nach den Grabungszusammenhängen datieren die Stücke in das 7. und 6. Jh. v. Chr. Die Sandalen der kurz vor Christi Geburt konzipierten "orientalischen Aphrodite"[17] stehen ihnen also schon zeitlich sehr fern. Zudem sind die Sohlen der Terrakotta-Statuetten beträchtlich höher als die hölzernen. Allenfalls die bei einigen Statuetten erkennbaren seitlichen Dreiecke oder dreieckigen Ornamente an den Innen-und Außenkanten der Sandalen[18] könnten auf einen Mechanismus anspielen, dessen Bedeutung als Scharnier zu jener Zeit nicht mehr recht verstanden wurde.

Das zierliche Gießener Fragment zeigt keine derartigen Appliken .

Einordnung: 1. Jh. v. Chr.; aus Kleinasien (Myrina?)

 

 

 

 

 

 

 

     
 Würzburg, Inv.-Nr. H 4702

 


[1] Den Ausdruck "Aphrodite orientale" für diesen Typus prägte E. Pottier, ders. – S. Reinach, La Nécropole de Myrina (Paris 1887/88) 155. 263; Chr. Bauchhenns, Zwei Terrakotten aus Kleinasien, AA 1973, 5-13; S. Mollard-Besques, Catalogue des figures et reliefrs en terre-cuite grecs et romains II Myrina (Paris 1963) 11-14 Taf. 9-11; L. Burn – R. Higgins, Catalogue of Greek Terracottas in the British Museum III (London 2002) 119 f. Nr. 2279. 2280 Taf. 50 f.; A. Laumonier, Délos 23, 143-148 Taf. 42 f.; E. Schmidt, Katalog der antiken Terrakotten Martin-von-Wagner-Museum der Universität Würzburg (Mainz 1994) 106, Nr. 157 Taf. 30 b. c; W. Schümann, Katalog der antiken Terrakotten im Badischen Landesmuseum Karlsruhe (Göteborg 1989) 116 Nr. 411 Taf. 72.

[2] Laumonier a. O. 144 f. Nr. 382 Taf. 42.

[3] Bauchhenns a. O. 8; Laumonier a. O. 144.

[4] D. Burr, Terra-cottas from Myrina in the Museum of Fine Arts, Boston (Wien 1934) 29-31 Taf. 1.

[5] Bauchhenns a. O. 8 Anm. 38.

[6] Burr a. O. 30.

[7] D. Burr Thompson, Troy. The Terracotta Figurines of the Hellenistic Period (Princeton 1963) 89 f.

[8] A. Schwarzmaier, Sitzendes Mädchen im Brautschmuck, in: Pergamon. Panorama der antiken Metropole (Petersberg 2011) 490 f. Kat. 4.3.

[9] Entsprechend äußert sich K. McK. Elderkin, Jointed Dolls in Antiquity, AJA 34, 1930, 458 f.

[10] V. Dasen, Femmes à tiroir, in: dies. (Hrsg.), Naissance et petite enfance dans L'Antiquité (Friboug – Göttingen 2004) 127-144; E. Simon, Embryu im Schoß der Aphrodite, in: Anodos. Festschr. f. Mária Novotná, TRNVA 2002, 295-299.

[11] Mollard-Besques a. O. 11; J. Sieveking, Die Terrakotten der Sammlung Loeb 2 ((München 1916) 53.

[12] Bauchhenns a. O. 6; Schmidt a. O.106; E. Simon, Embryo im Schoß der Aphrodite, Anodos. Festschr. Mária Novotná (Trnava 2002) 295.

[13] Dazu E. Simon, Das antike Theater (Heidelberg 1972) 23 f.

[14] Onomastikon 7, 92, 7. 93, ein Schuhwerk,das Phidias seiner Athena gegeben hat, der Sappho schmiegsames farbenprächtiges Leder, eine schöne lydische Arbeit, K. Erbacher, Griechisches Schuhwerk. Diss.Würzburg 1914, 21.

[15] Hesychii Alexandrini Lexicon s. v. Tyrrhenike, Erbacher a. O. 21. 38.

[16] L. Bonfante, Etruscan Dress (Baltimore – London 1975) 59. 203 Abb. 140; N. Frankenhauser – J. Weidig, Etruskische Sandalen mit zweiteiligen Sohlen, RM 120, 21014, 13-58 Abb. 1. 12.13.

[17] z. B. Schmidt a. O. 106 f. Nr. 157 Taf. 30 b. c.

[18] Bauchhenns a. O. 6. 9 Abb. 4; Burn-Higgins a. O. 119 f. Nr. 2279 Taf. 50; Laumonier a. O. 143-148 Taf. 42 f.; Schwarzmaier a. O. 490 f. Kat. 4.3.