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Herme

 

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 

 

Herme, Inv. T I-15;
Alte Inv.-Nr. 164.  (Nr. 8 auf der Unterseite)

Fundort: unbekannt.

Provenienz: Erworben 1907 durch Bruno Sauer zum Universitätsjubiläum.

 

Hohl. Vorderseite aus der Matrize, Rückseite von Hand angefertigt, nicht ausgearbeitet, geglättet. Seiten verstrichen, Armbossen eingefügt. Bodenplatte geschlossen, kleines Brennloch an der Unterseite.

Feiner gelbbrauner (10YR 7/4-6/5) Ton. Reichlich weiße Engobe. Rote Farbspuren am Schaft im unteren Drittel und am Übergang zur Plinthe, sowie in Form schmaler Längsstreifen auf beiden Seiten im oberen und mittleren Abschnitt.

Erhaltung: Bart abgerieben, sonst intakt.

Maße: H: 10,2 cm; B: 4,5 cm; T: 2,8 cm.

Lit.: D. Graen – M. Recke (Hrsg.), Herakles & Co (Gießen 2010) 59 Abb. 23.

 

 

Beschreibung: Auf einer niederen Plinthe, die vorn geradlinig verläuft und sich nach hinten rundet, erhebt sich eine kleine Figur in Form eines leicht rückwärts geschwungenen und geneigten Pfeilers mit bärtigem menschlichem Kopf und einem in Flachrelief angegebenen erigierten Penis (Ithyphallos). Am oberen Ende des Schaftes deuten sich die Schultern an. Weiter unten sind asymmetrische Armbossen angebracht, von denen die tiefer sitzende linke rundlich geformt ist, während die höhere rechte eher kantig erscheint.

Der mit einem Pilos (spitze Mütze) bedeckte längliche Kopf geht in das Oval des Bartes über. Unter der Kappe tritt ein dicker Haarkranz hervor, dessen kurze glatte Strähnen in die niedere Stirn fallen und das Gesicht rahmen. Der anschließende undifferenzierte Abschnitt breitet sich an der rechten Seite bis auf die Schulter aus[1].

Der vorspringende kompakte Vollbart ist längs gesträhnt, der Oberlippenbart geschwungen. Darüber tritt die flach gewölbte obere Wangenpartie hervor. Der kleine Mund ist geschlossen. Unter niederen Orbitalen liegen große weit geöffnete Augen, die von bandartigen Lidern eingefasst sind.

 

Kommentar: Die Gießener Terrakotta-Statuette gehört zum Typus der Schulterhermen[2]. Sie entspricht den kanonischen, überwiegend aus Marmor hergestellten Hermen, die sich aus einem pfeilerförmigen Schaft (Hermes tetragonos) mit Kopf, Armstümpfen und Glied zusammensetzen[3]. Ende des 6. Jhs. v. Chr. hatte Hipparchos in Attika 130 Exemplare an den Straßen aufstellen lassen[4]. Hermes, der Gott des Übergangs, war schon in vorarchaischer Zeit mit Steinhaufen und anikonischen (nicht-figürlichen) Steinmalen, die man ihm an Wegkreuzungen, Grenzen, Eingängen und Gräbern errichtete, geehrt worden[5]. Später stellte man auch andere Gottheiten und nicht-göttliche Personen[6] in Form von Hermen dar. Die spitze Mütze, Pilos[7], ist neben dem Reisehut, Petasos[8], die charakteristische Kopfbedeckung des Gottes. Daher handelt es sich bei T I-15 zweifellos um eine Hermes-Herme. Sie gleicht im Motiv und in der Form, vom Pilos und den gerundeten Armbossen abgesehen, Parallelen in München und Berlin[9], mit denen sie auch in der Breite des Schaftes und in der geringen Höhe der Plinthe übereinstimmt. Weitere Beispiele aus Rhodos[10] und Klazomenai[11] ähneln der Gießener Herme in ikonographischer Hinsicht, weichen aber in den Proportionen leicht ab; so sind bei jenen die Schäfte schmäler, die Plinthen höher. Als wahrscheinliche Herkunftsländer der Vergleichsstücke sind Rhodos und Böotien (letzteres für das Exemplar in München[12]) angegeben.

Der kantige Kopf und der Schnitt der Augen sowie die Barttracht aus einem kompakten Kinn- und Backenbart und einem ornamentalen Oberlippenbart sprechen für eine Datierung in die Frühklassik[13]. Ebenfalls seit dem Anfang des 5. Jhs. v. Chr. gehören wulstige Haarkränze und kurze glatte Strähnen über der Stirn zum Erscheinungsbild des Hermes, auch in Darstellungen aus anderen Materialien, etwa bei einer Gemme[14], bei Bronzestatuetten[15] und in der Vasenmalerei[16]. Mit dem undifferenzierten langen Schulterhaar, das bei Gießen T I-15 und  einigen anderen Terrakotta-Hermen, z. B. in Washington[17] und Berlin[18], zu erkennen ist, hat man möglicherweise  bewusst auf ein altertümliches Motiv zurückgegriffen.


Einordnung: 1. Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. Für die Herkunft des Stückes sind keine sicheren Anhaltspunkte zu gewinnen.


[1] Ähnlich das Exemplar in Washington, LIMC V (1990) 296 Nr. 19 Taf. 200 s. v. Hermes (G. Siebert).

[2] H. Wrede, Die antike Herme (Mainz 1985) 2.

[3] E. Simon, Die Götter der Griechen (München 31985) 303-305.

[4] DNP V (1998) 422; „Dass sie aber Standbilder des Hermes mit aufrechtstehendem Glied darstellen, das haben sie nicht von den Ägyptern; sondern von den Pelasgern haben es als erste unter allen Griechen die Athener“ übernommen, Hdt. II 51, 1, Hrsg. J. Weitz, Herodot, Historien, griechisch-deutsch (München 21977) 245-247.

[5] Sie wurden Hermaia genannt, Simon a. O. 301; dazu auch H. Goldman, The Origin of the Greek Herm, AJA 46, 1942, 58 f.

[6] Wrede a. O. 17-31; Porträthermen, ebenda 71-77.

[7] LIMC a. O. 222 f. Nr. 246. 248. 252. 260. 263. 264. 265. 271. 284 Taf. 221-223; F. W. Hamdorf, Die figürlichen Terrakotten der Staatlichen Antikensammlungen München (Lindenberg im Allgäu 2014) 223 f. Nr. D 207. D 208; F. S. Knauß (Hrsg.), Die unsterblichen Götter Griechenlands (Lindenberg im Allgäu 2012) 158 Abb. 11.4; R. Lullies, Die Typen der griechischen Herme (Königsberg Pr. 1931) 15 Nr. 2 Taf. 3; Winter I 1903, 231, 4. Mit Pilos ohne Widder aus Tanagra in Athen, Winter a. O. 231, 3.

[8] LIMC a. O. 307 f. 316 Nr. 192. 195. 208. 320, Taf. 217 f. 227.

[9] München: Hamdorf 2014 a. O. 224 Nr. D 209; Berlin: A. Furtwängler, AA 4, 1890, 88 f. Abb. B Nr. 5, mit aufgemaltem Kerykeion; Lullies a. O. 15 Nr. 5; Winter I 1903, 231, 5; dazu ein Exemplar unbekannter Herkunft in Washington, LIMC V (1990) 296 Nr. 19 Taf. 200 s. v. Hermes (G. Siebert) und Hermen aus Rhodos, Chr. Blinkenberg, Lindos I. Les petits objets (Berlin 1931) 567 Nr. 2339 Taf. 109 (ebenfalls mit gerundeten Armbossen); S. Mollard-Besques, Cat. Raisonné des figurines et reliefs en terre-cuite I (Paris 1954, Nr. C 139 Taf. 77; LIMC a. O. Nr. 297 Nr. 29 Taf. 201.

[10] Mit beschädigtem Kopf, Clara Rhodos IV 1931, 196 Abb. 204. 205.

[11] LIMC a. O. 296 Nr. 18 Taf. 200.

[12] Hamdorf a. O. 224 Nr. D 209.

[13] B. Schmaltz, Terrakotten aus dem Kabirenheiligtum bei Theben (Berlin 1974) 170 Nr. 232. 233 Taf. 19. Ferner mit abweichender Gestaltung der Haar- und Bartsträhnen ebenda 128 Nr. 347 Taf. 27.

[14] Berlin, gegen 500 v. Chr., LIMC V, 307 Nr. 192 Taf. 217.

[15] LIMC V, 311 Nr. 262 Taf. 222.

[16] Gegen 490 v. Chr., ebenda 315 Nr. 316 Taf. 227.

[17] LIMC V (1990) 296 Nr. 19 Taf. 200.

[18] Furtwängler a. O. 88 f. Abb. B 5; Winter I 1903, 231, 5.