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Weibliche Kopfprotome mit Stephane und Schleier

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 

 

 

Weibliche Kopfprotome mit Stephane und Schleier, Inv. T I-8

Fundort: unbekannt.

Provenienz: Möglicherweise 1908 aus der Sammlung Vogell erworben[1].

 

Vorderseite aus der Matrize, Rückseite hohl; Kanten beschnitten. Durchbohrung hinter dem Diadem.

Sehr feine, glatte Oberfläche. Im unteren Bereich stark versintert.

Beige-hellbrauner Ton (5YR 7/4), im Kern rötlich. Reichlich weiße Engobe. Keine Bemalungsspuren.

 

Erhaltung: Aus fünf Fragmenten zusammengesetzt. An der rechten Seite fehlen der Schleier und die seitliche Halspartie unterhalb des Ohres. Oberlippe und linke Augenpartie beschädigt.

Maße: H: 10,5 cm; B: 6,7 cm; T: 4,6 cm.

Lit.: J. Boehlau, Griechische Altertümer südrussischen Fundorts (Kassel 1908) 64 Nr. 682.

 

Beschreibung: Die Protome besteht aus einem weiblichen Kopf mit einem langen Hals. Vom breiten niederen Diadem fällt ein Schleier in flachen Längsfalten herab (nur links erhalten). Das Haar liegt in zwei Registern parallel verlaufender Wellensträhnen über der Stirn, bildet einen flachen Giebel, umfängt dann die Schläfen und endet vor den Ohren. Straffe Wagen verjüngen sich gegen das leicht vorspringende Kinn. Die volle Unterlippe ist nach unten geschwungen. Form und Verlauf der Oberlippe sind auf Grund der Beschädigung nicht sicher zu beurteilen. Leicht gewölbte Augäpfel, von schmalen Lidern eingefasst, liegen unter hohen Orbitalen. Ohne Einziehung im Bereich der Nasenwurzel geht die lange schmale Nase unmittelbar in die Stirn über. Das rechte Ohr sitzt höher als das linke; Helix und Anthelix sind angegeben. Flache Scheiben schmücken die Ohrläppchen.

 

Kommentar: Weibliche Kopfprotomen wie die vorliegende wurden den Göttern als Weihgeschenke dargebracht[2] oder den Verstorbenen mit in ihre Grabstätten gegeben[3]. Sie waren in ganz Hellas verbreitet, hatten jedoch einen Schwerpunkt im östlichen Mittelmeergebiet[4]. Die Gießener Protome unterscheidet sich von den meisten Exemplaren der Gruppe durch anliegende Ohren und ein verhältnismäßig schmales, etwas längeres Untergesicht. Das Diadem, das einen flachen, leicht in die Breite gezogenen Bogen bildet, erinnert an entsprechende Formen bei stehenden und thronenden Frauenfiguren aus Rhodos[5] und von der nordwestlichen Schwarzmeerküste[6]. Mit den auffallend hohen Orbitalen, den niedrigen lang gestreckten Augäpfeln und der Konturlinie, die das verhältnismäßig straffe Untergesicht und das kräftige Kinn umgrenzt, steht T I-8 neben Protomen aus Ionien vom Anfang des 5. Jhs. v. Chr.[7]. Ob das Exemplar in einer mutterländischen Werkstatt angefertigt und in das Bosporanische Reich exportiert oder bereits dort hergestellt  worden ist, bzw. ob es von der Nordküste des Schwarzen Meeres aus in die Sammlung Vogell gelangte oder in einer anderen Region erworben wurde, muss vorläufig offen bleiben.   

   

Einordnung: Um 480 v. Chr.; vermutlich ionisch.



[1] Im Kat. J. Boehlau, Griechische Altertümer südrussischen Fundorts (Kassel 1908) wohl S. 64 unter Nr. 682 im Zusammenhang mit der nachweislich aus der Sammlung Vogell stammenden Inv.-Nr. Gießen T I-46 erwähnt. Die Boehlau’sche Höhenangabe stimmt mit derjenigen von T I-8 überein.

[2]  Chr. Blinkenberg, Lindos 1, Les petits objets (Berlin 1931) 10-14.

[3] B. Vierneisel-Schlörb, Die figürlichen Terrakotten. Kerameikos XV (München 1997) 37-39.  

[4] Rhodos:  R. A. Higgins, Cat. of the Terracottas (London 1954) 67 Nr. 134-148 Taf. 25-28; S. Mollard-Besques, Cat. raisonné des figurines et reliefs en terre-cuite grecs, étrusques et romains I (Paris 1954) 37 f. B 215-220 Taf. 27; Blinkenberg a. O. 594-602 Nr. 2447-2516 Taf. 114-119. Delos: A. Laumonier, Délos 23 (Paris 1956) 103 f. Nr. 252 Taf. 26; Nr. 116. 118 Taf. 14. Kreta: F. Croissant, Les protomés féminines archaïques (Paris 1983) 86-92 Nr. 48-52 Taf. 25-27.

[5] Higgins a. O. 62 f. 65 Nr. 112. 113. 127 Taf. 21 und 23; .

[6] Thronende aus Berezan, Pharmakowsky, AA 29, 1914, 227 f. Abb. 41.

[7] Higgins a. O. 70 Nr. 147 Taf. 27; Croissant a. O. 86-88 Nr. 48 Taf. 25; S. 91-93 Nr. 52 Taf. 26. Blinkenberg a. O. 518 f. Nr. 2143 Taf. 97; Laumonier a. O. 76 Nr. 120 Taf. 14.