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Satyrfigur

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 

Satyrfigur, Inv. T I-52, alte Inv.Nr. 107

Fundort: unbekannt.

Provenienz: 1908 durch Sauer aus der Sammlung Vogell erworben.

 

Hohl. Vorder- und Rückseite aus Matrizen. Durchbohrungen am Oberkopf  und am unteren Teil des Schurzes.

Rötlich-brauner Ton (5YR 6/5). Wenige Reste weißer Engobe. Spuren dunkelroter Bemalung an der linken Seite des Brustkorbs, am Hals und an der rechten Wange, sowie an der Rückseite des Kopfes und an der rechten Handfläche.

 

Erhaltung: Aus vier Fragmenten zusammengesetzt. Dreieckiger Ausbruch an der Rückseite des Schurzes. Beschädigungen am unteren Rand und am Abdomen.

Maße: H 11,1 cm; Breite in Höhe der Arme 7,8 cm; T: 3,7- 4,1 cm.

Lit.: J. Boehlau, Griechische Altertümer südrussischen Fundorts aus dem Besitze des Herrn A. Vogell, Karlsruhe (Kassel 1908) 66 Nr. 713 Taf. 9, 2; M. Recke, Die Klassische Archäologie in Gießen (Gießen 2000) 38 Anm. 130; D. Graen – M. Recke, Herakles & Co. Götter und Helden im antiken Griechenland (Gießen 2010) 125 Nr. 71, mit weiterer Literatur.


Beschreibung: Es handelt sich um die gerade aufgerichtete Figur eines jungen Mannes, dessen einst separat gearbeitete Beine fehlen. Er trägt einen Schurz; um die Hüften schlingt sich eine dicke, vorn geknotete Stoffbahn, deren Ende in Zickzackfalten herunterhängt. Am unteren Ende des Schurzes, zu beiden Seiten, befinden sich Durchbohrungen zur Befestigung der Beine. Den nackten Oberkörper schmückt ein dicker Wulstkranz. Rippenbogen und Brustmuskulatur sind plastisch hervorgehoben. In der Seitenansicht treten die Krümmung des Rückens, die Tailleneinziehung und der vorgeschobene rundliche Bauch hervor. Auf den Schultern liegen die Schleifen und Bänder des Wulstkranzes. Der rechte Arm ist angehoben, die Hand geöffnet und mit gebeugten Fingern nach vorn gerichtet. Die linke Hand stützt sich an der Hüfte ab.

Der Kopf ist leicht nach vorn und zur rechten Seite geneigt und etwas nach links gedreht. Im Haar liegt ein Kranz mit je zwei großen Efeublättern an den Seiten und  zwei Blütentrauben (Korymben) in der Mitte. Die Konturlinie der kurzen glatten Haarsträhnen weist in der Mitte der Stirn eine Ausbiegung nach unten und an den Schläfen eine Einziehung auf.

Das bartlose rechteckige Gesicht verjüngt sich von der Mundpartie an bis zum Kinn. Unter den bogenförmigen Brauen liegen weit auseinander stehende Augen, die von plastisch gearbeiteten Lidern eingefasst sind. Neben der kurzen breiten Nase wölben sich runde, durch eine Furche von der Mundpartie abgesetzte Wangen. Die Oberlippe überragt die volle Unterlippe.   

 

Kommentar: Der Kopfschmuck aus Efeublättern und -beeren führt in das Umfeld des Dionysos[1]. Die vergröberten Züge des bartlosen Gesichts, die niedere, stark gewölbte Stirn, die leicht eingedrückte Nasenwurzel sowie die  Haartracht aus vertikalen Strähnen, deren Konturlinie in die Mitte der Stirn hineinragt[2], kennzeichnen den jugendlichen Satyr. Ein Parallelexemplar in Würzburg[3] ist nicht nur mit beweglichen Beinen, sondern auch mit einem großen herunterbaumelnden Phallos ausgestattet.

Der Gießener Satyr gehört zu einer Gruppe gleichartiger Statuetten von der Nordküste des Schwarzen Meeres, zu beiden Seiten der Meerenge von Kertsch[4]. Ähnlich wie bei einem Hampelmann lassen sich die separat gefertigten Glieder in Bewegung setzen[5], indem man sie mit Schnüren, die durch das Loch am Hinterkopf und durch je eine Öffnung oben an den Beinen und am Phallos, sowie zu beiden Seiten am unteren Abschnitt des Schurzes geführt werden, verbindet. Marionetten dieser Art waren offenbar im ganzen Bosporanischen Reich verbreitet und beliebt[6].

Die eigentümlich manirierte Armhaltung der Satyrn erklärt sich im Vergleich mit einer Gliederfigur aus Kertsch. Bei dem jungen Mann, der in derselben Haltung dargestellt ist, sind an verschiedenen Stellen des Körpers und der Kleidung rundliche Vorwölbungen, eine Art plattgedrückte Kugeln, zu erkennen. Diese befinden sich auf dem erhobenen rechten Handrücken, an beiden Schultern, auf der Schleife des kurzen Hüft-Tuches und an der eingestützten linken Hand[7]. Offenbar handelt es sich um einen mit Kugeln jonglierenden Unterhaltungskünstler. Auf seine Schultern fallen schmale Bänder. Die gewölbte Stirn ist kahl, die Nase breit; die fülligen Wangen wirken weich und spannungslos[8].

 

Nach Derewitzky – Pavlowsky – von Stern (Odessa 1897/1898) 30 f. Taf.14, 1.

Ein Torso aus Germonassa (Taman)[9] ist dem Exemplar Gießen und seinen Parallelen äußerst ähnlich in Bezug auf Haltung und Körperlichkeit. Zudem weist er auf der rechten Schulter eine kugelige Vorwölbung[10], entsprechend denen der Statuette des jungen Mannes aus Kertsch, auf. 

Bei der Statuette Gießen T I-52 fehlen derartige Appliken. Der Blattkranz gleicht nach Form und Zusammensetzung dem Kopfschmuck dionysischer Gestalten, der sich in fortschreitender hellenistischer Zeit besonderer Beliebtheit erfreute[11]. Das Perizoma (Schurz) spielt auf die Bekleidung körperlich arbeitender Sklaven und Handwerker[12] an; für Satyrn ist die Tracht eher ungewöhnlich.

Die tief eingezogene Lendenregion und die vermehrte Rundung der Rückenpartie, der vorgeschobene Leib und die schwellende Plastizität der Brustmuskulatur sowie die weiche, füllige Wangenpartie erinnern an Figuren und Köpfe junger Männer und Knaben, die seit dem 3. Jh. v. Chr. und bis in das 1. Jh. n. Chr. vor allem in den Küstenregionen des Schwarzen Meeres und Kleinasiens entstanden[13]. In diesen kaum enger eingrenzbaren Zeitabschnitt datieren auch Gräber aus den Nekropolen von Kertsch und Phanagorij, aus denen zahlreiche gleichartige Satyrstatuetten und-Fragmente[14] sowie ähnliche Gliederfiguren mit anderen Bildmotiven[15]hervorgingen.


Einordnung: Späthellenistisch – römische Kaiserzeit. Aus Pantikapaion / Kertsch.

 

 

 



[1] Vgl. den bekränzten Kopf eines jugendlichen Dionysos, Summerer a. O. 170 Taf. 4 c; „Dionysos-Tauros“, S. Besques, Figurines et reliefs III,  (Paris 1971/72) 84 Taf. 107 b.

[2] LIMC VIII (Zürich und Düsseldorf 1997) 1121 Nr. 119 Taf. 766. 1116 Nr. 48 Taf. 754. 1130 Nr. 216 Taf. 782 Silenoi (E. Simon); vergleichbarer Haaransatz bei einem Satyrn aus Amisos, Summerer a. O. 175 Taf. 12 a.

[3] E. Schmidt, Katalog der antiken Terrakotten, Würzburg, Martin- von-Wagner-Museum (Mainz 1994) 182 Nr. 307 Taf. 55 a. b; gleichartige ebenso gut erhaltene Statuette aus Pantikapeion-Kertsch: M. M. Kobylina, Terrakotovye statuėtki Teil Č. 3 Pantikapej (Moskau 1974) 43 f. Taf. 53, 4, mit Hinweis auf zahlreiche Parallelen.

[4] I. Finogenova, Terrakoty pantikapeia, in: Archaeology and Art of Bosporus Kimmerian (Moskau 1992) 252 f. Abb. 22-24; Kopf und Oberkörper eines Satyrs in Helsinki, L. Pietilä-Castrén, The Greco-Roman Terracotta Figurines of Finland and their Collectors (Helsinki 2007) 45 Nr. 59; Winter, Typen 1, 1903, 172, 4, mit  weiteren Parallelen aus Kertsch.

[5] E. H. Minns,  Scythians and Greeks (New York 1913 ND 1971) 369 f. Anm. 1. Weitere Typen von Gliederfiguren aus Grabungen am kimmerischen Bosporus : Besques a. O. III, 1, 58 f. Taf. 70 c. d; P. C. Bol – E. Kotera, Bildwerke aus Terrakotta, Liebieg-Haus Frankfurt am Main (Melsungen 1986) 224-227 Nr. 121; F. W. Hamdorf, Die figürlichen Terrakotten der Staatlichen Antikensammlungen München 2 (Bobingen 2014) 664 f. F 55; M. M. Kobylina, Terrakotowie statuėtki Pantikapeja i Phanagorii (Moskau 1961) 161-164 Taf. 36 f.; dies. Divinités orientales sur le littoral nord de la mer noire (Leiden 1976) 21. 33 Nr. 13. 50 Taf. 10. 31; B. Pharmakowsky, Archäologische Funde im Jahre 1912, Russland, AA 1912, 193 f. Abb. 32. 33; ders. AA 1913, 342. 346 Abb. 29; Winter a. O. 172 f.

[6] Kategorie der Marionetten, A. Derewitzky – A. Pavlowsky – E. von Stern (Hrsg.), Das Museum der Kaiserlich Odessaer Gesellschaft für Geschichte u. Altertumskunde. Lieferung  1 und 2 Terracotten (Frankfurt a. Main – Odessa 1897 und 1898)  30 f. Taf. 14, 1, Fundort Kertsch (Pantikapaion). Aus derselben Region Gliederfiguren mit anderen Bildmotiven, etwa ein keulenbewehrter Herakles, Kobylina a. O. Č. 1-2, 1970 Taf. 54, 4; maskierte Schauspieler mit riesigen halbkreisförmig stilisierten Ohren, beweglichen Beinen und Phalloi, die mit verschiedenen Attributen, häufig Musikinstrumenten, wiedergegeben sind. Einige tragen Statuetten thronender Göttinen auf der Brust, Kobylina a. O, Divinités 1976,  21 Nr. 13 Taf. 10; I. T. Kruglikova, O kul’te verchovnovo  Ženskovo božestva na  Bospore vo II-III Vv. n. e., in: A. I. Boltunova (Hrsg.), Kultura Antičnovo Mira (Moskau 1966) 110-115  Abb. 3-5; ähnliche Figuren im Alten Museum Berlin, aus der Sammlung Alexandre Merle de Massonneau, Griechen, Skythen, Amazonen (Berlin 2007) 61. 

[7] Museum  Odessa,  Derewitzky – Pavlowsky – von Stern a. O. 30 f.Taf. 14,1.

[8] Die Haltung eines jungen Mannes im kurzen gegürteten Ärmelgewand ist spiegelbildlich. Er stützt den rechten Arm ein, während er den linken mit maniriert abgewinkelter Hand erhebt. Auf dem Kopf trägt er einen Reifen und einen topfartigen Hut, der in der Mitte durchbohrt ist. Ein Phallos fehlt. Die Beine sind schlank. Kugeln lassen sich nicht erkennen, doch an den Seiten des Chitons sitzt jeweils eine stachelartige Vorwölbung, Kertsch, 2. Jh. v. Chr., Kobylina a. O. Č 3 1974,  43 Taf. 53, 1.

[9] M. M. Kobylina, Pridonye i Tamanskij Poluostrov Teil Č. 4 (Moskau 1974) 40 Taf. 46, 7. Weitere Torsofragmente von der Taman-Halbinsel ebenda, 29 Taf. 33, 3. 4.

[10] Unsicher ist, ob es sich bei der Vorwölbung am linken Oberarm ebenfalls um eine Kugel handelt, Kobylina a. O. Pridonye i Tamanskij Poluostrov, Č. 4, 1974, 40 Taf. 46, 7; Finogenova, Terrakoty germonassi, a. O. 272 Abb. 27, mit einer Kugel auf der rechten Schulter. Ob in der gerundten Applik an der rechten Stirnseite eines bärtigen Kopfes ebenfalls eine Kugel zu sehen ist, kann nur vermutet werden, Kobylina a. O. Teil Č. 3 Pantikapej 1974, 39 Taf. 53, 3.  

[11] Mollard-Besques a. O. 98 f. Taf. 94 b. d; Taf. 95 f. Zum Kranz vgl. auch den Kopf des Dionysos Tauros aus Amisos, L. Summerer, Hellenistische Terrakotten aus Amisos (Stuttgart 1999) 170 Nr. P II 5 Taf. 4 c; Statuetten des jugendlichen Dionysos mit Kranz aus Myrina, S. Mollard-Besques, Figurines et reliefs  II Myrina, 1963, 78 Taf. 94 b. d.

[12] Opferdiener im Hermesheiligtum auf einer rotfigurigen Pelike des Perseus-Malers, um 460 v. Chr.,  CVA Berlin (15) Taf. 19, 1. 20, 1. Den Hinweis verdanke ich A. Klöckner, Gießen; vgl. auch G. Bruns, Antike Bronzen (Berlin 1947) 59-61 Abb. 41; Daidalos, mit einem Schurz bekleidet, passt Ikaros die Flügel an, s. den römischen Sardonyx-Kameo in Neapel, E. Simon, Daidalos – Taitale – Daedalus, AA 2004, 2, 431 Abb. 13.

[13] Torso eines Herakles aus Chersonnesos (Sewastopol), Kobylina a. O. Teil Č 1-2, 1970, 72 Taf. 11; Amisos: S. Besques a. O. Cat. III, 2, 1972, 294 f. Taf. 366 b. e; Summerer a. O., 200 Taf. 46 a; 178 Taf. 12 d; Tarsos: H. Goldman, Excavations at Gözlü Kule, Tarsus I (Princeton 1950) 311 f. Nr. 22 Taf. 213; S. 326 Nr. 121 Taf. 222; E. Töpperwein, Terrakotten von Pergamon (Berlin 1976) 191-198  Nr. 412. 414 Taf. 60.

[14] Acht Repliken aus dem Gebiet des Mithradatesberges, der antiken Akropolis von Pantikapaion, 58 Exemplare aus der Nekropole von Kertsch, sowie  eine Parallele aus den Katakomben von Phanagorij (auf der Tamanhalbinsel), Kobylina a. O. Teil Č. 3 Pantikapej 1974, 43 f. Ferner ebenfalls aus Phanagorij ein Fragment im Lendenschurz, mit eingestütztem linkem Arm und einer Schleife auf der linken Schulter, in Seitaufnahme abgebildet, 1. Jh. n. Chr., Kobylina a. O. Č. 4, 29 Nr. 93 Taf. 33, 1

[15] Figur eines jungen Mannes in prinzipiell gleicher Haltung mit vegetabilem Kranz auf dem Kopf und einem Wulstkranz um den Hals aus Phanagorij, 1. Jh. v. Chr., Kobylina a. O. Č. 4 29 Nr. 98 Taf. 33, 6.