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Frauenkopfgefäß

 

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai

 


Frauenkopfgefäß, Inv.  T III-1

FO: unbekannt.      

Prov.: 1908 von Bruno Sauer aus der Sammlung Vogell in Kassel ersteigert.

 

Erhaltung: Vollständig bis auf kleinere Verletzungen am Ausguss und am Ansatz des Henkels rechts. Bestoßungen am Henkel selbst, an der Nasenspitze, den Wangen und an der rechten Stirnseite. Querriss durch den Kranz an der linken Seite bis in den Hinterkopf hinein.

Aus zwei etwa gleich großen Teilen zusammengesetzt; Vorder- und Rückseite aus der Matrize, letztere nicht ausgearbeitet, geglättet. Gefäßmündung oben offen. Unterseite geschlossen, plan, mit handschriftlichen Notizen in kyrillischer Schreibschrift.

Hellroter (5YR 6/7) Ton. Reste von Engobe in den Haaren und am Kranz, vor allem rechts, sowie am Hals und an der linken Wange. Reichlich Farbspuren: blau am Kranz, am Halsschmuck, an den Blättern und am rechten Auge; dunkelrot-violett im Haar und am Hinterkopf, besonders an der linken Seite. 

Maße: H: 15,6 cm; B: 9,2 cm; Tiefe des Kopfes 9,3 cm; Tiefe in Höhe des Henkels 9,0 cm.

Lit.: J. Boehlau, Griechische Altertümer südrussischen Fundorts aus dem Besitze des Herrn A. Vogell, Karlsruhe (Cassel 1908) 54 Nr. 532 Taf. 8, 2;
A. Klöckner – M. Recke (Hrsg.), Gönner, Geber und Gelehrte. Die Gießener Antikensammlung und ihre Förderer (Gießen 2007) 27 Abb. 25; M. Recke, Die Klassische Archäologie in Gießen.100 Jahre Antikensammlung (Gießen 2000) 38 und Anm.129.


Beschreibung: Es handelt sich um eine Kanne in Form eines weiblichen Kopfes und Halses, mit einem Fuß und hohem Ausguss. Ein vertikaler Henkel, der aus zwei Tonwülsten besteht, verbindet das Hinterhaupt mit der Gefäßmündung unterhalb der bandartig verbreiterten Gefäßlippe. Der Ausguss hat die Form eines Zylinders mit einer Profilleiste am oberen und unteren Rand.

Der Kopf ist leicht angehoben. Das ovale Gesicht mit langen, glatten Wangen endet in einem akzentuierten Kinn. Der Nasenrücken geht fast geradlinig in die fliehende Stirn über. Unter bogenförmigen Brauen und hohen Orbitalen liegen die Augen weit auseinander. Die Oberlider sind scharf konturiert und überschneiden die Unterlider, die weich in die Wangenpartie übergehen. Volle Lippen, von denen die Oberlippe ein wenig breiter ist als die untere, bilden einen geschlossenen Mund. 

Im Haar liegt ein Kranz aus Efeublättern und –beeren, der über der Stirn von einem schmalen Band zusammengehalten wird. Geteilte Haarsträhnen schwingen locker zur Seite; sie nehmen über den Ohren ein wenig an Volumen zu. Rundliche Wölbungen heben sich von den untersten Strähnen  ab. Von dort laufen dünne, diagonal gerillte Wülste senkrecht nach unten. Sie schmiegen sich eng an den Hals, der mit einem plastisch gearbeiteten Reif geschmückt ist.   

 

KommentarHaartracht und Halsschmuck belegen die Weiblichkeit des Kopfes. Die rundlichen Gebilde neben den Wangen könnten Ohrschmuck darstellen, die vertikalen Wülste deren Anhänger. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich bei den letzteren um Korkenzieherlocken handelt[1]. Dafür spricht der Vergleich mit einer Parallele aus Kertsch, wo die Locken als dünne gedrehte Strähnen enden[2]. Die strengen vertikalen Lockensträhnen bilden einen eigentümlichen Kontrast zum lockeren Duktus des Stirn- und Schläfenhaars, einer Frisur, die Ende des 5. Jhs. v. Chr. aufkommt und sich bis in hellenistische Zeit hinein ausbreitet[3]. Das Motiv ist bei westgriechischen, vor allem bei sizilischen[4] Schulterbüsten zu finden, begegnet aber auch bei den griechischen Figurenvasen des 4. Jhs. v. Chr.[5], einer attischen Schöpfung, die in anderen Werkstätten nachgeahmt wurde. Großer Beliebtheit erfreute sich die figürliche Keramik in den griechisch besiedelten Gebieten am Nordrand des Schwarzen Meeres[6].                

Im Jahr 1913 hatte die Kaiserliche Archäologische Kommission Berlin in Kertsch das oben genannte Parallelexemplar erworben[7], mit dem das Gießener Frauenkopfgefäß, abgesehen von den beiden Schmuckelementen Kette und Efeukranz, sowie einer geringen Abweichung in der Haartracht,  übereinstimmt. Wie der von J. Böhlau verfasste Verkaufskatalog und die Berichte Pharmakowskys zu den Funden aus Südrussland, die sich über viele Jahre erstrecken, zeigen, war vor allem die nördliche Schwarzmeerküste ein Schwerpunkt für den Absatz und vermutlich auch für die Herstellung von Gefäßen in Form menschlicher sowie tierischer Köpfe[8]. Es ist zu vermuten, dass auch das Gießener Kopfgefäß, wenn nicht aus Pantikapaion (Kertsch) selbst, so doch aus der nördlichen Schwarzmeerregion stammt. Aus den handschriftlichen Notizen auf der Unterseite der Kanne geht anscheinend das Wort Gerson hervor. Möglicherweise ist die am Mündungsdelta des Dnjepr gelegene Stadt Xerson[9] gemeint, ein Hafen, der als Sammelplatz für den Versand von Keramik gedient haben konnte; doch sind solche Überlegungen spekulativ.   

Der Efeukranz und auch der Vasentypus, eine Weinkanne, spielen auf den Bereich des Dionysos an. Da der genaue Fundort des Gießener Gefäßes unbekannt ist, lässt sich nicht sagen, ob es im Kult des Dionysos oder anderer Götter, im Kontext häuslicher Kulte oder im Bestattungsritus verwendet wurde[10]. Die Figurenvasen, die an der Nordküste des Schwarzen Meeres gefunden worden sind, stammen zum größten Teil aus Grabkontexten[11].

Auch in stilistischer Hinsicht sind die beiden Frauenkopfgefäße Gießen T III-1 und Kertsch[12] mit Köpfen figürlicher Keramik vergleichbar, angefangen bei der Konturlinie der Gesichter über den Schnitt der Augen zur glatten länglichen Wangenpartie und dem vollen geschlossenen Mund[13]. Ähnlichkeiten bestehen mit weiteren Köpfen und Büsten von Fundorten am Schwarzen Meer, etwa aus Amisos[14], sowie  einer weiblichen Kopfmatrize aus Ilion[15].      

Einordnung: Nördliche Schwarzmeerküste, Pantikapaion/ Kertsch. Frühhellenistisch, Ende des 4./Anfang des 3. Jhs. v. Chr.

TI-12c



[1] Vgl. Schulterbüsten aus Sizilien, M. F. Kilmer, The shoulder bust in Sicily and South and Central Italy: a catalogue and materials for dating (Göteborg 1977)  101-104. 107  Abb. 58. 62. 71. Die Übergänge von Strähnen und Schmuck sind bisweilen fließend, wie die Markierung der Ohrläppchen durch applizierte Blüten auf den gedrehten Locken zeigt, s.  M. Trumpf-Lyritzaki, Griechische Figurenvasen (Bonn 1969) 128 Nr. FV 163. FV 164 Taf. 23;  FV 167. FV 168  Taf. 25.

[2] B. Pharmakowsky, Archäologische Funde im Jahre 1913. Rußland, AA 1914, 217-220, Abb. 26,  "Römisch".

[3] Vgl. „Kybele“- Figuren aus Ilion, „late third century B. C.“ und „mid second century type“, D. Burr Thompson, Troy. The Terracotta Figurines of the Hellenistc Period (Princeton 1963) 83 f. Nr. 51 Taf. 15, Nr. 45 Taf. 14.

[4] Gelegentlich breiten sich die dünnen an den Hals geschmiegten Locken bis auf die Schultern aus, Kilmer a. O. 101-104. 107  Abb. 58. 62. 71; vgl. ferner den Kopf einer behelmten Athena aus Halikarnassos, R. A. Higgins, Cat. of the Terracottas in the Department of Greek and Roman Antiquities British Museum (London 1954) 124 Nr. 423 Taf. 60. Größer formatig: Kopf der Demeter aus Knidos, R. Lullies, Griechische Plastik (München 1979) 112 f. Abb. 218.

[5] Trumpf-Lyritzaki a. O. 7 Nr. 10 Taf. 3 a; 35 Nr. 90 Taf. 12 a; 36 Nr. 93 Taf. 13 b; 47 f. Nr. 133 Taf. 18 a; 60 Nr. 163. 164 Taf. 23 a. c; 62 Nr. 173. 174 Taf.  24 a. c; 61 Nr. 167. 168 Taf. 25 a. b.

[6] Trumpf-Lyritzaki a. O. 109.

[7] Pharmakowsky a. O. Abb. 26.

[8] Vgl. dens. AA 22, 1907, 139-142 Abb. 11. 12; ders, AA 23 1908, 186. 190 Abb. 19. Die charakteristische zylindrische Ausgussform findet sich in der Sammlung Vogell bei weiteren figürlichen Gefäßen in anderen Bildmotiven, einem Pferdekopf, einer weiblichen Halbfigur und einem Schweinskopf, Böhlau 1908, 54 f. Nr. 537. 523. 540 Taf. 8.

[9] Nicht zu verwechseln mit Chersonesos/Sewastopol im Süd-Westen der Krim; beide Namen gehen auf das griechische Wort Cherronesos=Halbinsel zurück.

[10] U. Schlotzhauer, Ostgriechische koroplastisch gestaltete Gesichts- und Kopfgefäße aus milesischen Werstätten, in: Maiandros. Festschr. Volkmar von Graeve (München 2006) 237.

[11] Ende des 4. / Anfang des 3. Jhs. v. Chr., Trumpf-Lyritzaki a. O. 109 f.

[12] Pharmakowsky a. O. 217-220, Abb. 26.

[13] Trumpf-Lyritzaki a. O. 7 f. Nr. 10 Taf. 3; 63 Nr. 178 Taf. 23; 61 Nr. 168 Taf. 25. Eine plastische Vase aus einem Kurgan auf der Taman-Halbinsel (gegenüber von Kertsch), die motivisch vergleichbar ist, dürfte etwas früher entstanden sein; dafür spricht die Flächigkeit des ganz in die Frontalebene ausgebreiteten Gesichts, A. A. Trofimova – E. V. Vlasova. Greeks on the Black Sea (Los Angeles 2007) 19. 26. 155 f. Nr. 61.  

[14] S. Besques, Cat. Raisonné des figures et relief en terre-cuite III, 1 Époques hellénistique et romaine Grèce et Asie mineure (Paris 1971) 84 Nr. D 496 Taf. 107 („Dionysos-Tauros“) und  86 Nr. D 505 Taf. 108 („Isis“); L. Summerer, Hellenistische Terrakotten aus Amisos (Stuttgart 1999) 180 Nr. B II 7 Taf. 18. Die Koroplastik von Amisos, die erst Anfang des 2. Jhs. v. Chr. einsetzte, stellte ihre Produktion anscheinend mit der Eroberung der Stadt durch die Römer 71 v. Chr. bereits wieder ein, dies. a. O. 148. Anders Besques a. O. 76-86.

[15] Anscheinend ein Hochrelief, 2. Jh. v. Chr., Kopf der „Kybele“, Burr Thompson a. O. 84 Nr.51 Taf. 15.