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Fliegender Eros im Mantel

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai


Fliegender Eros im Mantel, Inv. T I-48. Alte Inv.-Nr. 134. 

Provenienz: unbekannt. Wohl vor 1907 erworben.


Vorderseite aus der Matrize, Rückseite flüchtig bearbeitet, geglättet. Kopf mittels zweiter Matrize rundplastisch geformt. Schmales, hoch rechteckiges Brennloch. Keine zusätzliche Aufhänge-Vorrichtung.

Fein geschlämmter harter, hell rot-brauner (5YR 7/6) Ton. Reichlich weiße Engobe am Gesicht, an den Flügeln, in den Gewandfalten. Zartrosa Bemalung am Gewand, auf den Beinen, im Haar und auf den Flügeln. Sinterspuren.

Zustand: Aus vielen Fragmenten zusammengesetzt. Größerer Defekt  an der linken Seite des Kopfes. Langer Riss durch die rechte Seite des Gesichts. Verletzung an der Nasenwurzel. Spitze des linken Flügels verloren.

Maße: H: 16,9 cm; B: 10, 4 cm; T: 5,4 cm.

Lit.: D. Graen – M. Recke (Hrsg.), Herakles & Co. Götter und Helden im  antiken Griechenland (Gießen 2010) 88 f. Abb. 44.


Beschreibung: Ein junges männliches Flügelwesen, Eros, ist in einen großen stoffreichen Mantel gehüllt, der in dichten Querfalten um Oberkörper und Arme geschlungen ist und bis zu den Knien herabfällt. Der Hals und die linke Schulter sind unbedeckt. Die rechte Hand hebt von innen einen Gewandzipfel an, sodass schräge Faltenzüge entstehen, die abwärts zum linken Oberschenkel laufen. Unterhalb des eingestützten linken Armes fällt eine Stoffbahn in Kaskaden herab. Nackte stämmige Beine, das rechte vor dem linken, schauen unter dem Mantel hervor. Die Fußspitzen sind nach unten gerichtet. Hinter den Schultern setzen große geschwungene Flügel mit fein differenzierten Schwungfedern an.
Der rundlich-ovale Kopf ist leicht gesenkt und nach links gedreht. Auf dem Scheitel bildet das Haar einen dicken Zopf, an den sich flache, unregelmäßig gelockte Strähnen anschließen. Im Verhältnis zu den runden Wangen, dem vorspringenden Kinn und der großen Nase wirkt der Mund klein. Die geschlossenen Lippen sind leicht geschwungen. Von den tiefliegenden Augen lassen sich schmale Oberlider abgrenzen. Über den hohen Orbitalen bilden die Augenbrauen symmetrische Bögen.

KommentarAufwärts geschwungene Flügel und bis in die Spitzen gestreckte Füße weisen auf die Flughaltung des Eros hin. Scheitelzopf und Pausbacken, ein großer Oberkopf und rundliche Beine belegen seine Kindlichkeit, während die nur allmählich und geringfügig sich verjüngende Wangenpartie zeigt, dass er der frühen Kindheit bereits entwachsen ist[1]. Exakte Parallelen liegen nicht vor. Gewand- und Haltungsmotiv erinnern an eine Flügelgestalt mit feminin wirkendem Kopf aus Myrina[2], die ebenfalls eine spätere Altersstufe vertritt. Auch die hellrot-braune Tonfarbe der Statuette T I-48 könnte auf ihre Herkunft aus Myrina hinweisen, doch spricht der Typus dagegen. Die fliegenden myrinäischen Mantel-Eroten, die nach ihren Fundorten in Gräbern auch "Type funéraire" bzw. Grab-Eroten genannt werden[3], zeichnen sich durch eng an einander gepresste Beine und kindlich-runde, meist gesenkte Köpfe mit großem Stirnschädel aus[4]. Von diesen unterscheidet sich das Gießener Exemplar mit seiner differenzierten Beinstellung, den detailliert angegebenen, plastisch gerundeten Falten und seiner dreidimensionalen Anlage. Darin, sowie in der Drapierung des Mantels und der Form der Flügel ähnelt es den schwebenden Eroten aus Böotien (Tanagra)[5]. Dort entstanden seit frühhellenistischer Zeit auch die Statuetten junger Knaben und Mädchen in kurzen Chitonen, denen die trägerartigen Ärmel in ähnlicher Weise von der Schulter gleiten[6] wie dem Gießener Eros der Mantel.

Einordnung:  1. Hälfte des 3. Jhs. v. Chr., Böotien?


 

 



[1] Vgl. der Physiognomie z. B. bei P G. Leyenaar-Plaisier, Les terres cuites grecques et romains (Leiden 1979) Nr. 297 Taf. 50; S. Besques, Cat. raisonné des figurines et reliefs en terre-cuite grecs, étrusques et romains III, 1 (Paris 1971) D 31 Taf. 8 d; dies., Figurines et reliefs grecs en terre cuite (Paris 1994) 90 Abb. 79. Dazu größer formatige Statuen wie die eines Mädchens mit Hasen in Brauron, H. Rühfel, Das Kind in der griechischen Kunst (Mainz 1984) 221 f. Anm. 135 Abb. 91. Dagegen die straffe Verjüngung der Wangenpartie und der mächtige Stirnschädel bei Kleinkindern, Rühfel a. O. 241 Abb. 95. 102.

[2] D. Burr, Terra-Cottas from Myrina in the Museum of Fine Arts (Boston 1934) 56, Nr. 62, Taf. 25.

[3] S. Mollard-Besques, Myrina (Paris 1963) 60- 63 Taf. 77-79; U. Mrogenda, Die Terrakottafiguren von Myrina (Frankfurt am Main 1996) 66 f. 125. 128-131; G. Mendel, Cat. des figurines grecques de terre cuite (Constantinople 1908) 298 f. Nr. 2338-2342.

[4] Burr a. O. 47 f. Nr. 34-37 Taf. 14; F. W. Hamdorf, Die figürlichen Terrakotten der Staatlichen Antikensammlungen München ( Lindenberg im Allgäu 2014) 411 f. Abb. E 162; Mollard-Besques, Myrina a. O. 61 f. Taf. 77 b. c. e. g. Taf. 78 f; typengleich, ohne Angaben zur Entstehungslandschaft: E. Schmidt, Kat. der antiken Terrakotten I Martin-von-Wagner-Museum Würzburg (Mainz 1994) 88-90 Taf. 24 a-c; W. Schürmann, Kat. der antiken Terrakotten im Badischen Landesmuseum Karlsruhe (Göteborg 1989) 125 Nr. 434. 435 Taf. 76; Winter 2, 1903, 328, 1..3.5. 6-8.

[5] V. Jeammet, Tanagra (Paris 2003) 218f. Abb. 151-155; ebenso: I. Krieseleit – G. Zimmer (Hrsg.), Bürgerwelten. Hellenistische Tonfiguren und Nachschöpfungen im 19, Jh. Staatliche Museen zu Berlin (Mainz 1994) Nr. 24; S. Besques a. O. Cat.III, 1 (Paris 1971/72) 11 Taf. 9 f; ferner. A. Laumonier, Délos 23 (Paris 1956) 164 Nr. 503 Taf. 53.

[6] Jeammet a. O. 226-229 Abb. 166-170; R. Wünsche – M. Steinhart, Sammlung James Loeb I (Lindenberg im Allgäu 2009) 124 Nr. 57 Abb. 125.