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Tagung "Lernen und Erzählen. Theorie – Empirie – Praxis"

Eine interdisziplinäre Wissenschaftstagung, 2./3.09.2010, veranstaltet in Zusammenarbeit mit der interdisziplinären Sektion BILDUNG, ERZIEHUNG, SOZIALISATION des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften (GGK) der Justus‐Liebig-Universität. Verantwortlich für Konzeption und Programm sind Alena Berg, Thorsten Fuchs, Anke Fuchs‐Dorn, Stephan Goik, Dr. Olaf Hartung und Ivo Steininger.

 

 Lernen und Erzählen: Kurzbericht zur Tagung

Das ebenso komplexe wie vielfältige Feld der Narration war Gegenstand der interdisziplinären Wissenschaftstagung „Lernen und Erzählen“, die Alena Berg, Thorsten Fuchs, Anke Fuchs-Dorn, Stefan Goik, Dr. Olaf Hartung und Ivo Steininger – allesamt Angehörige der Sektion Bildung, Erziehung und Sozialisation des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften (GGK) – vom 2.-3. September in Gießen veranstalteten. Ziel der Tagung war es, sich dem Begriff der Narration aus bildungs- und kulturwissenschaftlicher Sicht anzunähern, um ihn dabei in den Bereich des Lehrens und Lernens zu integrieren. Erzählen können gehört heute zu den zentralen Kategorien in unterschiedlichen Kompetenzmodellen, die davon ausgehen, dass Lehren und Lernen, Bilden und Bildung mit Erzählen können und Erzählungen deuten können zusammenhängen. Den insgesamt zehn ReferentInnen war die Aufgabe gestellt, in drei Sektionen die theoretischen, empirischen und pragmatischen Implikationen des Narrativen zu erörtern.

Darüber, dass Erzählhandlungen und Erzählungen über ein hohes Bildungspotenzial verfügen, waren sich die Fachleute aus den Bereichen Volkskunde, Literaturwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Sozialwissenschaft, Naturwissen­schaft, Theaterpädagogik, Heil- und Sonderpädagogik sowie der Geschichtsdidaktik schnell einig. Größeren Diskussionsbedarf gab es hingegen bei der Frage, wie sich diese Potenziale für den Bereich des Lernens nutzbar machen lassen. Diskutiert wurden vor allem die Grenzen des Erzählens und Erzählbaren sowie die Bedeutung der Subjektposition beim Erzählen im Sinne von Selbstbemächtigungs-Strategien. Deutlich wurde aber auch, dass Erzählen die Funktion der Verortung individueller Erfahrungen erfüllt, da etwa das Nachzeichnen einer Lebensspur in autobiographischen Erzählungen das Selbst aktualisiert. Grenzverschiebungen in den Ge­schichten von Kindern können als ein bildungspragmatischer Versuch gedeutet werden, bei dem das Selbst in dynamischer Art und Weise immer in einer anderen Rahmung erfahren wird und so Bildungsprozesse hervorruft. Letztlich können kommunikative Muster des Erzählens, die an Konventionen, Tabus und Grenzen gebunden sind und damit Einfluss auf das Erzählen ausüben, als ein Lehr-/Lernverhältnis verstanden werden, in dem es vor allem um Fragen der individuellen Entfaltung und der Grenzsetzung geht, um Handlungsfähigkeit im gesellschaftlichen Kontext zu ermöglichen.

aus: uniforum. Zeitung der JLU, 23. Jg. (2010/5), 9.12.2010, S. 3.

Lernen und Erzählen: Zum Konzept

Ausgangsbedingungen

Erzählen ist menschlich, weshalb Alasdair Chalmers MacIntyre vom „storytelling animal“  spricht. Narrativieren ist ein für die „menschliche Erfahrungsbildung“ unverzichtbares anthropologisches „Muster der Formgebung“. Narrationen verleihen dem Struktur, das vorher ungeordnet war. Im Hinblick auf das Lernen sind die Prozesse des Narrativierens von Bedeutung, weil erst sie den Lernenden ermöglichen, Erfahrenes – im Sinne von Wissen und Anwendung – selbstständig narrativ zu strukturieren und sich damit das Erfahrene zu erschließen. Nicht nur weil wir beim Erzählen Informationen organisieren und Sinn und Bedeutung konstruieren, sondern auch weil wir unser Leben und Handeln stets in Form narrativer Strukturen begreifen und denken, die uns als allgegenwärtige diskursive Praxis soziokulturell bedingter Denk- und Kommunikationsstrukturen begegnen. Dies allein macht es wert, die narrativen Gefüge von „symbolischen und mentalen Repräsentationen wie Diskursen, Texten oder kognitiven Strukturen“ zu untersuchen. 

Lernen und Erzählen

Erzählen ist gerade auch im bildungswissenschaftlichen Kontext von großer Bedeutung. Nicht ohne Grund bildet Erzählfähigkeit heute eine zentrale Kategorie in verschiedenen Kompetenzmodellen. Es ist davon auszugehen, dass Lehren und Lernen, Bilden und Bildung viel mit Erzählen-können und mit Erzählungen-deuten-können zu tun haben. Kurz: Ein komplexeres kulturelles Lernen ohne Erzählen scheint kaum möglich. Nicht nur weil beim Erzählen Informationen organisiert sowie Sinn und Bedeutung konstruiert werden, sondern auch, weil wir unser Leben und Handeln stets in Form narrativer Strukturen begreifen. Unsere Welt ist erzählend. Zudem verfügen Erzählungen über ein besonderes gedächtnisförderndes Potenzial: In Erzählungen gebettetes Erfahrenes lässt sich oft besser behalten und erinnern, als die vermeintlich objektiven Daten und Fakten.

Ziel und Struktur der Tagung

Die sich in diesen Ausführungen abzeichnende Bedeutung des Narrativen konnte auf der interdisziplinären Wissenschaftstagung in einem dreifachen Anlauf intensiver nachgegangen werden.

Im Mittelpunkt der Sektion I: Theorie standen die theoretischen Ausgangsbedingungen narrativer Ansätze, die sich sowohl auf die kulturelle als auch individuelle Dimension bezie-hen. Dabei wurden Fragen nach der Universalität und Allgegenwärtigkeit von Erzählun-gen, dem Verhältnis von Fakt und Fiktion, zwischen Erfahren, Erinnern, Verstehen und Erzählen, zwischen Identität und Narration sowie nach den Folgen des Nicht-Erzählens gestellt.

In der Sektion II: Empirie wurde das Verhältnis von Erzählungen und Datenerhebung in den Sozial- und Bildungswissenschaften fokussiert. Von Interesse waren dabei empirische Untersuchungen der Erscheinungsformen und Funktionen des Narrativen, die Formen des narrativen Wissens, Erhebungs- und Auswertungsmethoden, die auch darauf zielen, das Narrative zu erforschen.

Die Sektion III: Praxis wandte sich in pragmatischer Absicht den didaktischen Per-spektiven narrativer Ansätze zu. Behandelt wurde etwa die Struktur narrativer Kompetenz, die Reichweite narrativer Methoden in Lehr-/Lernkontexten sowie der Einsatz narrativer Unterrichtsmedien.

 

Programmfolge und Kurzvorstellungen der Beiträge (Abstracts)

 

Sektion I: Theorie (Donnerstag, 2. September, 14 - 19 Uhr)

Prof. Dr. Albrecht Lehmann (Hamburg):
Individuelle und kollektive Dimensionen des Erzählens

Der Vortrag stellt das Thema zunächst in den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext der volks-kundlich-ethnologischen Erzählforschung. Darin erscheint das Erzählen von Geschichten als ein elementares menschliches Bedürfnis. Diese anthropologische Qualität des „homo narrans“ werde ich sodann skizzenhaft auf der Grundlage philosophischer Vorgaben (Kant, Husserl, Heidegger), Theorien der Erzählforschung und eigener empirischer Arbeiten erörtern. Abschließend will ich am Beispiel zweier, vor kurzem publizierter „Erinnerungsbücher“ der Frage nachgehen, wie lebensgeschichtlich erfahrene Ereignisse (Erfahrungen erster Hand) und ein kollektives Bewusstseinsangebot (Erfahrungen zweiter Hand) sich wechselseitig im Kontext einer Erfahrungsgeschichte überlagern. Dabei zeigt sich in anschaulicher Weise die historische Qualität allen Erzählens: Geschichten werden von ihrem Ende her erzählt!

 


Prof. Dr. Roy Sommer (Wuppertal):
Kultur und Erzählen: Formen und Funktionen von Narration(en) aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Sicht

In den vergangenen zehn Jahren hat sich die literatur- und kulturwissenschaftliche Erzählforschung stark gewandelt: die strukturalistisch geprägte Narratologie mit ihrem Interesse an universellen Erzählmustern wird abgelöst durch eine Vielzahl von Ansätzen, die die Kontexte des Erzählens in den Blick nehmen. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die kognitive Fundierung narratologischer Analysekategorien. Der Vortrag konzentriert sich auf die ‚conceptual clusters‘, die durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Linguistik, Literaturwissenschaft, Entwick-lungspsychologie und Kognitionswissenschaften entstehen: ‚conceptual metaphor‘ – ‚blending‘ – ‚integration networks‘; ‚cognition‘ – ‚brain‘ – ‚mind‘ – ‚culture‘; ‚social cognition‘ – ‚knowledge structures‘ – ‚cultural schemata‘; oder ‚theory of mind‘ – ‚mindreading‘ – ‚empathy‘. Inwiefern haben sich unsere Vorstellungen von den Formen und Funktionen des Erzählens verändert?


Prof. Dr. Michael von Engelhardt (Erlangen-Nürnberg):
Biographie und Narration. Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens

Der Mensch lebt in einer intersubjektiven kulturellen Lebenswelt, die zu einem großen Teil über Erzählen und Erzählungen hergestellt, bewahrt und weiter entwickelt wird. Die Teilhabe an der erzählenden und erzählten kulturellen Lebenswelt setzt die doppelte narrative Kompetenz des produktiven (mündlichen und schriftlichen) Erzählens und des rezeptiven Zuhörens und Lesens voraus und bildet sich dabei zugleich heraus. Eine besondere Form der Narration stellt das lebensgeschichtliche Erzählen dar, in dem über und aus dem menschlichen Leben erzählt wird. Darum soll es in diesem Vortrag gehen.

Dem lebensgeschichtlichen Erzählen kommt eine grundlegende Bedeutung für das Selbstver-ständnis und die Selbstdarstellung der eigenen Person, für die Wahrnehmung und das Verstehen der Mitmenschen und für den Aufbau interaktiver Sozialbeziehungen zu. In dem Maße, wie die Biographie zur bestimmenden Lebensform des Menschen wird, wächst auch die Bedeutung des lebensgeschichtlichen Erzählens. Die sich in der Geschichte der Moderne durchsetzende biographische Lebensform bedeutet, dass der Mensch für sich und seine Mitmenschen zu einem Wesen mit einer (hinter und vor ihm liegenden) Geschichte wird. Die in traditionalen Gesell-schaften vorherrschende statisch-strukturelle Identität wandelt sich so zu einer dynamischen Entwicklungsidentität. Die Biographie als Lebensvollzug und die ihr entsprechende Entwick-lungsidentität sind angewiesen auf eine rück- und vorausblickende Vergegenwärtigung und Reflexion des schon gelebten und des noch zu lebenden Lebens. Dies geschieht im lebens-geschichtlichen Erzählen. So bilden biographischer Lebensvollzug und biographische Narration zwei notwendig miteinander verbundene und aufeinander bezogene Aspekte der Lebensform der Biographie.

Biographisches Erzählen gründet sich auf der Fähigkeit des Menschen, sich zum Objekt seiner selbst machen und sich dabei aus verschiedenen Perspektiven betrachten zu können. Auf dieser Grundlage vollzieht sich autobiographisches Erzählen als ein dreifacher Vermittlungsprozess: als Vermittlung zwischen dem erzählenden Gegenwartsich und dem erinnerten Vergangenheitsich und dem vorgestellten Ich der Zukunft, als Vermittlung zwischen den verschiedenen inneren psychischen Instanzen der Person und als Vermittlung zwischen Person und sozialer Umwelt.
Das lebensgeschichtliche Erzählen nimmt je nach vorherrschender Erzähl- und Erinnerungs-kultur, nach Lebensphase und nach sozialer Situation eine unterschiedliche Ausprägung an. Die biographische Narration ist mit unterschiedlich ausgestalteten Grenzen des Erzählens verbunden. Diese Grenzen ergeben sich aus der grundlegenden Differenz zwischen Leben und Erzählen, sie treten deutlich hervor und ins Bewusstsein bei intensiven von der Normalität des Alltagslebens abweichenden Erfahrungen und werden zu einem grundlegenden Problem bei schwerwiegenden Traumata. Die Grenzen des Erzählens werden durch soziale Tabus, durch normative Vorgaben der Diskretion und durch Gefühle der Scham und Peinlichkeit bestimmt und werden je nach Situation und sozialem Gegenüber unterschiedlich ausgestaltet. Sie sind abhängig von der erworbenen (auch kreativen) narrativen Kompetenz der erzählenden Person, die weit mehr umfasst als ein rein sprachliches Vermögen. Durch das Verhältnis von Erzähltem und Nichterzähltem erfährt die jeweilige Biographie ihre je spezifische rekonstruktiv-konstruktive Ausgestaltung.



Sektion II: Empirie (Freitag, 3. September, 9 - 13 Uhr)

Prof. Dr. Brigitte Boothe (Zürich):
Erzählen als Bildungserfahrung. Eine psychologische Perspektive

Wenn Kinder in einem familiären oder einem pflegend-behütenden Raum aufwachsen, dann entfaltet sich ein lang dauerndes Beziehungsgeschehen des doing familiarity: Eltern oder andere Beziehungspersonen, die sich des Kindes annehmen, betten es ein in das eigene Lebensmilieu und den regionalen und geschichtlichen Raum. Sie positionieren es als Kind. Sie üben Steuerung, Lenkung und Kontrolle aus. Das Kind wird zur Person mit Herkunft, Zugehörigkeit, Zukunft. Die Akteure in Elternfunktion engagieren sich dafür, die körperlichen Äußerungen und Aus¬drucksformen des Kindes mit den eigenen sprachlichen Artikulationen zu begleiten und das Kind selbst zur Artikulation zu bringen. Der Lebensvollzug gewinnt Kontur, Rhythmus und Prägnanz, denn zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen wird der Lebensalltag zur variantenreich sich wiederholenden und sich verändernden kommunikativen Inszenierung. Beziehungsereignisse erhalten Relevanz und Prägnanz, indem die Eltern ihnen sprachliche Gestalt geben und das Kind in die kommunikative Inszenierung einbeziehen und auch, indem sie nachträglich auf das gemeinsam Erlebte erzählend und kommentierend Bezug nehmen. Das gemeinsam Erlebte schafft, zunächst in der Sprache der Eltern, Erinnerung und Geschichte. Es schafft Erwartungen an die Zukunft. Das gemeinsam Erlebte ist Erzählmaterial. Die personale Bildung des Kindes ist unter anderem eine Geschichte des Erzählens und des Erzählerwerbs. Das Kind erhält Personalität, Erinnerung und Geschichte im elterlichen Erzählen. Es kommt zur erzählenden Koproduktion. Wenn das Kind dann selbst Erzählregie zu führen vermag, gewinnt es andere dafür, sich seiner Leiden und Freuden anzunehmen. Erzählen schafft Beteiligung.

Erzählen vermittelt keine Praxiskompetenz und keine Kartographie der Lebenswelt. Wer Erzählungen als Wegweiser wählt, erliegt dem Don Quixote-Effekt: Der Erzähler hält die Welt für einen Roman und scheitert. Wer viele Geschichten kennt, aber keine Orientierung in der Lebenspraxis sucht, ist ein Träumer. Eine prekäre Lebenslage, wenn die finanzielle Basis fehlt. Wer erzählt und wer Erzählungen zuhört, findet Genuss durch die Imagination des Faszinosums oder des Skandalons. Der Genuss in der Phantasie ist komfortabel, weil sich der Hörer und der Erzähler nicht mit realer Gefahr konfrontiert, aber Erregung auskostet.

Man lebt nicht, wie man erzählt. Aber die Erzählung zeigt, was Leben ist. Die Erzählung gibt sich selbst die Aura der Wichtigkeit. Was die Erzählgemeinschaft aufführt, ist der Rede wert. Daher ist der Erzählton emphatisch, nicht beiläufig. Erzähler und Hörer gestalten ein Zeremoniell, das Aufmerksamkeit und Würdigung verlangt. Erzählen ist ein Spiel mit Geschichten und Geschichtenmustern, als exemplarische Aufführung, humane Existenz beeindruckt als wichtig und tritt doch in der Sprache des Spiels in Erscheinung.


Prof. Dr. Cornelie Dietrich (Berlin):
Leiblichkeit und Sprache. Sprechgesten Jugendlicher

In bildungstheoretischer Perspektive eignet der Sprachlichkeit und damit auch dem Narrativen eine Doppelstruktur: Sie ist einerseits Instrument der Bildung, dessen Beherrschung es zu fördern gilt. In dieser Hinsicht spricht man von Spracherwerb und Sprachkompetenz, von Spracharmut oder Sprachbehinderung. Sie ist aber andererseits auch Medium der Bildung, in welchem sich Prozesse der Selbstartikulation und Selbstentfremdung ebenso wie solche des Verstehens und Missverstehens, der Inklusion und Exklusion vollziehen. Als Medium ist die gesprochene Sprache an die Organe des Sprechens gebunden und ist den Sprechenden dabei nicht vollständig verfügbar: Erzählen ist immer auch eine Tätigkeit des Leibes, der das sprachliche Geschehen performativ und selbstüberschreitend hervorbringt. Dies zeigt sich nicht nur bei kleinen Kindern in der Phase des Spracherwerbs, sondern (noch einmal) in solchen Phasen, in denen die Sprach¬arbeit der Heranwachsenden selbst zur Entwicklungsaufgabe wird, wie dies etwa in der Früh¬adoleszenz der Fall ist.

Der Vortrag fokussiert im Rahmen dieser Doppelstruktur auf die leibgebundene Materialität des Sprechens und Erzählens. Anhand von empirischen Materialien aus einem sprachethnografischen Forschungsprojekt diskutiert er exemplarisch Charakteristika jugendlichen Erzählens.


Prof. Dr. Petra Wieler (Berlin):
Medienrezeption und Narration im Grundschulalter – Chancen und Schwierigkeiten der Bildwahrnehmung am Beispiel der Rezeption von Bilderbüchern und Computerspielen

Das Projekt „Medienrezeption und Narration – Gespräche und Erzählungen zur Medienrezeption von Grundschulkindern“ untersucht, welche Erfahrungen sieben- bis achtjährige Kinder im Unterricht des zweiten Grundschuljahrs und in der Familie im Umgang mit ausgewählten Buch- und anderen Mediengeschichten machen und wie sich diese Erfahrungen
in Unterrichtsgesprächen, in Texten, Erzählungen und Spielaktivitäten der Kinder, in ihren Gesprächen untereinander und in familialen Dialogen niederschlagen. Die Aufmerksamkeit gilt dabei insbesondere der Reaktion der Kinder auf die Auflösung traditioneller Erzählweisen in
den neuen gegenüber den alten Medien und der Wahrnehmung potentieller Möglichkeiten zur ‚interaktiven Rezeption‘.

Dieser Beitrag bezieht sich auf die Schulstudie des Projekts. Er thematisiert sowohl Beziehungen zwischen Bildwahrnehmung und medienbezogener Anschlusskommunikation als auch solche zwischen Bild- und Textverstehen in der Auseinandersetzung mit eigenen Schreibprodukten.
Es werden ein Klassengespräch sowie das Gespräch einer Gruppe von Schülerinnen untersucht, wie sie im Rahmen einer thematisch ausgerichteten, zugleich verschiedene Medien integrierenden Unterrichtsreihe in einer jahrgangsübergreifenden Grundschulklasse dokumentiert wurden.
In einem dieser Gesprächsbeispiele werden die Erfahrungen der Schüler/innen mit einem Computerspiel erörtert, das andere dokumentiert ihre Auseinandersetzung mit den Bildern der ‚zugehörigen‘ Bilderbuchgeschichte. In der vergleichenden Analyse soll nachgewiesen werden, wie prägend die sprachlich-narrativen Strukturvorgaben des jeweiligen Medienangebots, aber auch die darauf bezogenen Gesprächs- und Schreibaufträge sich sowohl auf die unterschiedliche thematische Ausrichtung der jeweiligen Anschlusskommunikation als auch auf die zu beobachtende Vertiefung des Text- und Bildverstehens der Kinder auswirken.


Sektion III: Praxis (Freitag, 3. September, 14 - 19 Uhr)

Prof. Dr. Kristin Wardetzky (Berlin):
Erzählen lernen: Mimesis und Transformation

Rhapsoden in der Schule? In Deutschland weitestgehend unbekannt – im Unterschied zu anderen (außer)europäischen Ländern.
Nach kurzen Erläuterungen zum Begriff des rhapsodischen Erzählens als Teilbereich der Darstellenden Kunst stellt der Beitrag einige narrative Lehr- und Lernstrategien von Erzähler/innen in Kanada, England, Spanien und Schweden vor. Anschließend werden die Berliner Langzeit-projekte ‚Sprachlos?‘ und ‚ErzählZeit‘ erläutert, in denen die Kunst des Erzählens ihre Wirkung im schulischen Zusammenhang entfaltet. Es wird über Konzepte und Ergebnisse berichtet und dabei gezeigt, wie – durch die langfristige Begegnung mit Erzählkünstler/innen – über mime-tische und transformatorische Prozesse die Erzählkompetenz von Grundschulkindern maßgeb-lich befördert werden kann.


Dr. Lutz Kasper (Freiburg):
Die inszenierte Kontroverse –
Narration und Dialog für das Lernen über Naturwissenschaften

Die abendländische Naturwissenschaft blickt auf eine seit der Antike währende spannende Ideengeschichte zurück, deren Protagonisten sich oft im heftig ausgetragenen argumentativen Wettstreit gegenüberstanden. Indem Lernende mit in diesem Sinn konkurrierenden Erklärungsansätzen konfrontiert werden, wird ihnen ein Angebot verschiedener Denkmodelle gemacht.
Für deren Präsentation bietet sich der fiktionale Disput authentischer historischer Persönlich-keiten an. Die Vermittlung ihrer Ideen kann nach Aufbereitung historischen Quellenmaterials – durchaus noch untypisch für naturwissenschaftlichen Unterricht – episodisch, narrativ, dialogisch bzw. szenisch erfolgen.

Im Vortrag werden empirische Belege dafür präsentiert, dass sich Lerntätigkeit im Physikunterricht mit narrativ gestalteten Medien fördern lässt. Weitere Best-Practice-Beispiele aus der Lehrerausbildung, wie etwa ein Auftritt der Freiburger PH-Physiker im Stadttheater, werden vorgestellt.


Dr. Marion Wieczorek (Landau):
Bedeutung und Ausgestaltung des narrativen Lernens
in der Entwicklung von Kindern mit Körperbehinderungen

Dargestellt werden soll, wie sich die Erzählfähigkeit in der frühen Kindheit entwickelt und ausdifferenziert bis sie in der Schule ihren schriftlichen Ausdruck findet. Möglichkeiten und Erschwernisse von Kindern ihre Fähigkeit zum Geschichtenerzählen auszudifferenzieren werden ebenso dargestellt wie Formen der Unterstützung für diesen Prozess. Besonders betrachtet werden sollen die Bedeutung realer Erfahrungen, der Aspekt der Resonanz und des Spiels in diesem Prozess. Dabei werden theoretische Bezüge an Beispielen aus der Lebenswelt von Kindern mit Körperbehinderungen konkretisiert werden.


Prof. Dr. Michele Barricelli (Hannover):
Narrative Kompetenz im Prozess des historischen Lernens

Geschichte lernen heißt erzählen lernen. Das ist so, weil historisches Wissen nicht anders als narratives Wissen, historisches Verstehen nicht anders als narratives Verstehen vorstellbar ist. Diese Einsichten gelten heute als Gewissheiten einer modernen Geschichtsdidaktik, die durch den linguistic turn informiert und am narrativistischen Paradigma aller Kulturwissenschaften orientiert ist. Trotz mancher Vorarbeiten erst im Ansatz geklärt sind freilich Form und Funktion historischer Narrationen (in Forschung und Unterricht), ihre Spezifik etwa im Vergleich zur literarischen Fiktion oder alltagsweltlichen Erzählung und damit auch die Logik narrativer Kompetenz als zentralem Ziel historischen Lernens im Spannungsfeld zwischen Geschichts-kultur und Geschichtsbewusstsein.

Im Vortrag werden Versuche unternommen zu bestimmen:

  • Was historisches Erzählen tatsächlich auszeichnet?
  • Wie das Fragen, Methodisieren, Analysieren, Urteilen, Orientieren durch Bezug auf das Erzählen als spezifisch historische Lernleistungen ausgewiesen werden können?
  • Welche konzeptuellen und (unterrichts-)praktischen Folgen „Historizität als Narrativität“ für den Geschichtsunterricht und die Professionalisierung der Lehrkräfte hat – was also die Voraussetzungen für ein erfolgreiches historisches Lernen und Lehren sind?
  • Inwiefern Narrativität als Welterklärungsformel und Ursprung aller Kultur heute zugleich Bildungsgut wie Alltagsbesitz zur Lebensbewältigung sein kann?

 

Dies geschieht anhand (knapper) Überlegungen zu (traditionellen, modernen und popkulturellen) Erzählformen in der Historiographie, dem Verhältnis von Erinnerungskultur und biographischem Erzählen als einem augenblicklichen geschichtswissenschaftlichen Schlüsseldiskurs, zu narrativer Kompetenz als Theorie-, Empirie- und Praxisproblem der Geschichtsdidaktik sowie endlich einer pragmatischen Idee des Denkens der menschlichen Zeit.