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Effekte konzeptueller und kontextueller Aufgabenmerkmale auf die Aktivierung von Vorstellungen in der Newtonschen Mechanik

Das Verständnis der Newtonschen Mechanik stellt sowohl für Schüler*innen als auch für Studierende eine große Hürde dar (vgl. zsf. Brown & Hammer, 2008). Es lassen sich häufig Vorstellungen identifizieren, die bei der Lösung physikalischer Probleme oder der Beschreibung von Phänomenen deutlich werden, sich jedoch von den physikalischen Konzepten unterscheiden (Schecker & Duit, 2018). So nehmen Lernende z. B. an, dass sich ein nach oben geworfenes Objekt nur deshalb nach oben bewegt, weil beim Wurf eine Kraft auf das Objekt übertragen wird („Impetus-Vorstellung“, z. B. Halloun & Hestenes, 1985). Aus der traditionsreichen Vorstellungsforschung zur Mechanik sind bereits typische, fachlich unpassende Vorstellungen bekannt (Übersicht z. B. in Schecker & Wilhelm, 2018), eine Herausforderung stellt jedoch die Variabilität des Auftretens dieser Vorstellungen dar: Leichte Veränderungen der oberflächlichen Situation eines Problems können bereits dazu führen, dass von einzelnen Lernenden unterschiedliche Vorstellungen zu physikalisch äquivalenten Sachverhalten aktiviert werden (vgl. zsf. Bao & Redish, 2004; Schecker & Duit, 2018). So argumentieren Lernende z. B. fachlich richtig, dass keine resultierende Kraft auf einen ruhenden Körper wirkt. Sollen jedoch die Kräfte auf einen Körper beschrieben werden, der sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegt (physikalisch äquivalent), kann dies bei den gleichen Lernenden zu der fachlich unpassenden Annahme einer resultierenden Kraft führen (z. B. Just, v. Aufschnaiter & Vorholzer, 2021). Auch wenn vereinzelt bereits Forschungsergebnisse dazu vorliegen, welchen Einfluss bestimmte Aufgabenmerkmale auf die von Lernenden aktivierten Vorstellungen nehmen können (z. B. Bao, Hogg & Zollman, 2002; Ferreira, Gunstone & Lemmer, 2019; Härtig, 2014; Palmer 1997), mangelt es an systematischen und umfassenden Untersuchungen dazu, inwieweit bestimmte Merkmale (und insb. auch deren Kombinationen) von Aufgaben/Problemen fachlich passende oder unpassende Vorstellungen „provozieren“. Gerade die Kenntnis von Merkmalen, die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, fachlich passende oder unpassende Vorstellungen zu aktivieren, könnte für den Unterricht bzw. die Hochschullehre hilfreich sein. So könnten diese Hinweise z. B. dazu dienen, zur Erarbeitung gezielt Aufgaben auszuwählen, bei denen schon eher passende Vorstellungen aktiviert werden und Übungen an Beispiele anzubinden, die sich als eher anspruchsvoll erweisen. Möglich wäre auch die systematische Kontrastierung physikalisch äquivalenter Aufgaben, welche unterschiedliche Vorstellungen provozieren (z. B. Ferreira et al., 2019; Redish, 2005).

Das Promotionsvorhaben setzt daher an diesem Desiderat an und geht in drei Teilstudien folgenden Fragen nach:

  • Welchen Einfluss hat die Variation konzeptueller und kontextueller Aufgabenmerkmale1 auf die Aktivierung fachlich passender bzw. fachlich unpassender Vorstellungen bei Schüler*innen und Studierenden?

 

  • Wie hängt die Variation konzeptueller und kontextueller Aufgabenmerkmale mit dem Niveau der von den Lernenden generierten Vorstellungen zusammen?

Leitend ist dabei die Annahme, dass sich Vorstellungen nicht nur in eine dichotome Unterscheidung (fachlich passend vs. fachlich unpassend) einordnen lassen, sondern insbesondere fachliche unpassende Vorstellungen unterschiedlich weit entfernt vom fachlichen Konzept angesiedelt sein können. Hypothetische Niveaumodelle, sogenannte Learning Progressions (LP), welche aus der Analyse dokumentierter SV entwickelt wurden, beschreiben diesen graduellen Fortschritt (z. B. Alonzo & von Aufschnaiter, 2018; Fulmer, Neumann, Liang & Neumann, 2013) und werden im Vorhaben genutzt.

  • Inwiefern beeinflusst das Aufgabenformat (offen vs. geschlossen) die von Lernenden aktivierten Vorstellungen sowie die Effekte konzeptueller und kontextueller Merkmale?

Diese dritte Teilfrage erweitert die Teilstudien 1 und 2 um die Erfassung der Variation des Antwortformates und dessen Wirkung, um eine noch stärkere Annäherung an die vermutlich komplexen Prozesse der Aktivierung spezifischer Vorstellungen zu erreichen.

 

Alle drei Forschungsfragen werden mithilfe eines Paper-Pencil-Tests untersucht, in dem konzeptuelle und kontextuelle Aufgabenmerkmale systematisch variiert und kontrastiert werden. Dabei kommen sowohl offene (N = 28) als auch dazu parallelisierte Aufgaben im Ordered-Multiple-Choice Format (N = 72) zum Einsatz. Letzteres ermöglicht die Zuweisung der Antwortmöglichkeiten zu einem spezifischen Verständnisniveau einer LP (z. B. Briggs, Alonzo, Schwab & Wilson, 2006). Die Aufgaben wurden auf der Basis bestehender Instrumente (z. B. FCI; Hestenes, Wells & Swackhammer, 1992; u. v. a. m.) modifiziert oder neu entwickelt.

Insgesamt werden im Projekt Daten von N = 356 Proband*innen ausgewertet, davon N = 85 Studierende mit Physik im Hauptfach (u. a. Physik BSc, MaWi, PTRA, L3), N = 114 Studierende mit Physik im Nebenfach (u. a. Ernährungs-, Umweltwissenschaften, Biologie BSc) sowie N = 157 Schüler*innen der E/Q1-Phase. In allen Fällen haben die Lernenden den Test im Anschluss an eine Mechanik-Instruktion (Vorlesung oder Unterricht) bearbeitet. Die Auswertung erfolgt sowohl mit klassischen (Teilstudie 1; z. B. t-/U-Tests; Field, 2013) als auch mit probabilistischen Testverfahren (Teilstudie 2, z. B. Rasch-Modellierung und Regressionsanalysen; Boone, Staver & Yale, 2014; Field, 2013). Offene Antworten (Teilstudie 3) werden mithilfe von Kategorien (qualitative Inhaltsanalyse, Mayring, 2015) ausgewertet.

 

Projektmitarbeiterin: Anna Monika Just

Projektlaufzeit: 06.2018 - 04.2024

Förderung: JLU Gießen

 

Literatur

Alonzo, A. C., & v. Aufschnaiter, C. (2018). Moving beyond misconceptions: Learning progressions as a lens for seeing progress in student thinking. The Physics Teacher, 56(7), 470–473. https://doi.org/10.1119/1.5055332

Bao, L., Hogg, K., & Zollman, D. (2002). Model analysis of fine structures of student models: An example with Newton’s third law. American Journal of Physics, 70(7), 766–778. https://doi.org/10.1119/1.1484152

Bao, L., & Redish, E. F. (2004). Educational assessment and underlying models of cognition. In W. E. Becker & M. L. Andrews (Hrsg.), The scholarship of teaching and learning in higher education: The contributions of research universities (pp. 221- 264). Indiana University Press.

Briggs, D., Alonzo, A., Schwab, C., & Wilson, M. (2006). Diagnostic assessment with ordered multiple-choice items. Educational Assessment, 11(1), 33–63. http://dx.doi.org/10.1207/s15326977ea1101_2

Brown, D. E., & Hammer, D. (2008). Conceptual change in physics. In S. Vosniadou (Hrsg.), International Handbook of Research on Conceptual Change (pp. 127-154). Routledge.

Boone, W. J., Staver, J. R. & Yale, M. S. (2014). Rasch analysis in the human sciences. Dordrecht: Springer Netherlands.

Ferreira, A., Lemmer, M., & Gunstone, R. (2019). Alternative conceptions: Turning adversity into advantage. Research in Science Education, 49(3), 657–678. https://doi.org/10.1007/s11165-017-9638-y

Field, A. (2013). Discovering statistics using IBM SPSS statistics (4. Auflage). Los Angeles, London, New Delhi, Singapore, Washington DC: Sage.

Fulmer, G. W., Neumann, I., Liang, L. L., & Neumann, K. (2013). Empirical validation of a learning progression for Newton’s Third Law using items from the Force Concept Inventory [Paper presentation]. Annual meeting of the National Association for Research in Science Teaching (NARST), Rio Grande, Puerto Rico.

Halloun, I. A., Hestenes, D. (1985). Common sense concepts about motion. American Journal of Physics, 53(11), 1056–1065. https://doi.org/10.1119/1.14031

Härtig, H. (2014). Das Force Concept Inventory: Vergleich einer offenen und einer geschlossenen Version. PhyDid A – Physik und Didaktik in Schule und Hochschule, 1(13), 53–61.

Hestenes, D., Wells, M., & Swackhamer, G. (1992). Force concept inventory. The Physics Teacher, 30(3), 141–158. https://doi.org/10.1119/1.2343497

Just, A. M., v. Aufschnaiter, C, & Vorholzer, A. (2021). Effects of conceptual and contextual task characteristics on students' activation of mechanics conceptions. European Journal of Physics, 42(2), 025702. https://doi.org/10.1088/1361-6404/abd229

Mayring, P. (2015). Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken (12., überarbeitete Auflage). Beltz.

Palmer, D. (1997). The effect of context on students’ reasoning about forces. International Journal of Science Education, 19(6), 681–696. https://doi.org/10.1080/0950069970190605

Redish, E. F. (2005). Changing student ways of knowing: What should our students learn in a physics class? World View on Physics Education 2005: Focusing on Change.                 http://physics.umd.edu/perg/papers/redish/IndiaPlen.pdf

Schecker, H., & Duit, R. (2018). Schülervorstellungen und Physiklernen. In H. Schecker, T. Wilhelm, M. Hopf, & R. Duit (Hrsg.), Schülervorstellungen und Physikunterricht: Ein Lehrbuch für Studium, Referendariat und Unterrichtspraxis (S. 1-21). Dordrecht: Springer.

Schecker, H., & Wilhelm, T. (2018). Schülervorstellungen in der Mechanik. In H. Schecker, T. Wilhelm, M. Hopf, & R. Duit (Hrsg.), Schülervorstellungen und Physikunterricht: Ein Lehrbuch für Studium, Referendariat und Unterrichtspraxis (S. 63-88). Dordrecht: Springer.