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"Wir müssen wissen was sie antreibt" - Bericht zur Podiumsdiskussion Jamika Kater?

"Wir müssen wissen was sie antreibt"

Identitätsprobleme bewegten die AfD. Jamaika-Kater? Nachlese zur Bundestagswahl 2017 sucht nach Erklärungen und Lösungen

Präsident Prof. Joybrato Mukherjee (Foto: ZMI)
Das Wahlergebnis sorgte am Wahlabend der letzten Bundestagswahl bei Vielen für eine Katerstimmung, so Prof. Simone Abendschön vom Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität. Sie moderierte die vom ZMI und dem Institut für Politikwissenschaft initiierte und von ZMI und Präsidium geförderte Podiumsdiskussion Jamaika-Kater? Nachlese zur Bundestagswahl, die am Abend des 26.10. in der Aula des Hauptgebäudes der JLU stattfand und von gut 100 Gästen besucht war. Der Einzug der AfD in den Bundestag ist sicherlich ein Grund für diese Katerstimmung. Auch der Präsident der JLU, Prof. Joybrato Mukherjee adressierte diesen in seinem einleitenden Grußwort: "Ich glaube wir unterschätzen das Phänomen". Die AfD werde oft lediglich mit unterschiedlichen Themen, wie einer Flüchtlings- oder Rentenpolitik und Unzufriedenheit oder Protest verbunden. "Durch Sprache signalisieren wir den Wunsch nach Zugehörigkeit oder Distanz. Wir bilden durch Sprache unsere Identität." Wer die AfD und ihre Sprache wählte, habe mitunter, so der Präsident, versucht sich selbst Identität zu geben, indem andere pauschal als ein Problem markiert worden sind. Für die Politikwissenschaft, die an der JLU gute und aktive Forschung betreibe, gälte es nun und in Zukunft dieses Wahlergebnis in einer langfristigen Entwicklung zu verorten und zu erklären.

Die AfD war auch eines der Themen, mit denen sich die Podiumsgäste beschäftigten. Schon im Wahlkampf sei die AfD, so der Politikberater Matthias Hartl, ohne Not von den anderen Parteien und den Medien großgemacht worden. Auch an diesem Abend war von großem Interesse, wie man mit der taktischen Skandal-Politik und immanenten Opferrolle einer AfD umzugehen habe. Lösungsansätze wurden dabei aber nicht ohne den Blick auf die anderen Parteien, ihren Wahlkampf, ihre Zukunftsperspektiven und das Phänomen der steigenden Wahlbeteiligung erarbeitet.

Auch die Politikkorrespondentin Maria Fiedler, vom Tagesspiegel in Berlin, bestätigt in ihrem Eingangsstatement die Skandalpolitik der AfD. Diese habe es geschafft mit großen Emotionen einen Solidarisierungseffekt in der Bevölkerung zu erzielen. Ob es sich also, so Fiedler, um faire oder nicht faire Berichterstattung handelte: Die AfD war in jedem Fall das selbst gewählte Opfer und bei Teilen der Bevölkerung damit der Gewinner. Sorgen dieser Bevölkerungsteile, dass die etablierten Parteien sie nicht höre und prinzipiell gegen sie arbeitet, seien, so die Journalistin, von der AfD bestätigt und ausgenutzt worden. Damit sei es Aufgabe der Presse gewesen, kritische und informative Berichterstattung zu leisten. Das stellte sich, ohne die Selbstinszenierung der AfD noch anzufachen, als Herausforderung dar.

Stefan Krabbes, Sigrid Roßteutscher, Simone Abendschön, Maria Fiedler, Matthias Hartl, Dorothée de Nève (v.l.n.r., Foto: ZMI)
Katerstimmung auch bei der SPD. Ihre Niederlage zu erklären, falle der Wahlforschung durchaus schwer. Interessanterweise habe, unter anderem bei der Frage nach Identifikation, auch das Problem der SPD gelegen. So meint Sigrid Roßteutscher, Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt, die SPD sei die einzig wahre Volkspartei: "Jeder kann die SPD wählen. Es kann sie aber auch jeder nicht wählen."

Darüber, dass es der SPD insgesamt an Profil, Tiefe und Standfestigkeit, beispielsweise gegenüber Angela Merkel, gefehlt habe, war sich die Podiumsrunde weitestgehend einig. Die SPD gäbe sich zwar selbst gern den Stempel der "Mit-Mach-Partei", so Professorin Dorothée de Nève vom Institut für Politikwissenschaft der JLU (und Stellvertretende Geschäftsführende Direktorin des ZMI). In diesem Wahlkampf habe sie aber ein Personalkarussell gefahren, das nicht für eine partizipatorische Partei spreche. Hätte sich die SPD besser auf sich selbst und ihre Richtung konzentriert, hätte sich das auch weiter auf die Umfragen und Prognosen zur AfD ausgewirkt, so Hartl. Roßteutscher rät der SPD dringend, die Oppositionszeit zu nutzen, um wieder ihr Stammklientel anzusprechen.

Polit-Blogger Stefan Krabbes gab derweil Einblicke in den Online-Wahlkampf der Parteien und seine Perspektiven auf etwaige Koalitionsbündnisse. In diesem Wahlkampf sei zumindest versucht worden, die Vergangenheit zu verarbeiten. Themen für die Zukunft seien dabei kaum gesetzt worden, wie Krabbes darlegt. So sei Angela Merkel für ihr Eingeständnis, dass Digitalisierung und Co. für sie "Neuland" seien zwar vor allem belacht worden. "Aber verdammt nochmal, sie hatte recht." Das sähe man beispielsweise am Haustür-Wahlkampf der CDU, der konventionell lief, aber eben online. So arbeitete die CDU beispielsweise mit Apps, einer hohen Präsenz in sozialen Netzwerken oder sogar einem begehbaren Wahlprogramm in Berlin, mit einer Menge darin enthaltener unterhaltsamer Technikspielereien. Auch die AfD habe von den social Media profitiert, so de Nève: Ohne diese hätte die AfD nicht ein solches Wahlergebnis schaffen können.

Eine der fast zwanzig Fragen aus dem Publikum, formulierte den Wunsch nach mehr Kontakt zwischen PolitikerInnen und BürgerInnen. Wichtig sei hier Kontakt und Dialog zu definieren, so de Nève. Diese Formate habe es zu Hauf gegeben. Auch die CDU habe hier mit Emotionen gearbeitet, das habe man Merkel oft angehört: "Ich nehme das mit." Dies war ein beliebter Antwortsatz ihrerseits, in den viel diskutierten Bürgerdialogen. De Nève findet hier klare Worte bezüglich funktionierender Repräsentation: "Politikerinnen und Politiker sollen sich nicht kümmern. Politik ist kein Sorgentelefon. Politikerinnen und Politiker sollen die Interessen der Bürgerinnen und Bürger vertreten, die sie gewählt haben."

Interessanterweise käme dieses Jahr auf drei bis sieben NichtwählerInnen, die dieses Jahr etablierte Parteien wählten, eine Person, die nun die AfD wählte, so Roßteutscher. Die steigende Wahlbeteiligung sei nicht lediglich ein Phänomen, welches der AfD zu Gute käme. Davon geht Hartl aus. Es sei ein grundsätzlich guter Impuls für eine demokratische Gesellschaft, so de Nève.

Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und wird in Kürze vom ZMI online gestellt.

 

Presseschau zur vergangenen Veranstaltung Jamaika Kater? - Nachlese zur Bundestagswahl 2017

Podiumsgast Stefan Krabbes fasste den Abend unter dem Titel "Jamaika, Digitalisierung & neue Anforderungen an den Bundestag" auf seinem Blog Stefan Krabbes. Meine Seite für Politik & Kultur zusammen.

Einen ausführlichen Bericht verfasste der Gießener Anzeiger zur spannenden Debatte, der hier nachgelesen werden kann.

Die Gießener Allgemeine Zeitung titelte mit "SPD macht Forscher ratlos" und berichtet darin ebenfalls von der gelungenen Veranstaltung.

(10.11.2017, Marie Niederste-Muthmann)