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Online-Workshop-Reihe „‚Smarte‘ Gewalt“ am 22. und 29. November 2022

Online-Workshop-Reihe „‚Smarte‘ Gewalt“ am 22. und 29. November 2022

 

Am Dienstag, den 22. November 2022, startete die Online-Workshop-Reihe „‘Smarte‘ Gewalt“. In ihrem Einführungsvortrag gab Prof. Nivedita Prasad (Alice Salomon Hochschule Berlin) einen Überblick über Formen und Verbreitung von digitaler Gewalt, in dem sie zunächst über die verschiedenen Definitionen sprach. Andere Begriffe umfassen beispielsweise auf Informations- und Kommunikationstechnik gestützte Gewalt, Cyberstalking, digitale Gewalt im sozialen Nahraum oder den Begriff „Bedrohung, Stalking, Nötigung begangen mit ‚Tatmittel Internet‘“, welcher in der polizeilichen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes verwendet wird. Prasad unterstrich, dass digitale Gewalt nicht getrennt von analoger Gewalt funktioniere, sondern vielmehr eine Ergänzung oder Verstärkung von Gewaltverhältnissen und -dynamiken darstellt. Häufig werde im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gewalt digitale Gewalt außen vorgelassen, oder sie werde auf psychische Gewalt reduziert. Doch es gäbe immer wieder Vorfälle, in denen digitale Gewalt zu physischer und/ oder sexueller Gewalt geführt habe. Der Unterschied zu dem Begriff Hate Speech sei, dass es sich hierbei um einen Angriff gegen (meist öffentliche) Personen, Gruppen oder Haltungen handle, mit dem Ziel, Deutungshoheit über gesellschaftlich umkämpfte Themen (wie Feminismus oder Schwangerschaftsabbrüche) zu erlangen. In vielen Fällen von Hate Speech kennen sich angreifende und betroffene Personen im analogen Leben nicht. Dahingegen geht es bei digitaler Gewalt im sozialen Nahraum vor allem um Angriffe gegen Frauen in Beziehungen, nach Beziehungen oder wenn Frauen ein Beziehungsbegehren ablehnten. Aus Tätersicht kann es hierbei auch darum gehen, eine Trennung zu verhindern oder aber sich für eine Trennung zu „rächen“. Neben der Überwachung mit Hilfe von Smartphones oder Smart Home-Geräten nennt Prasad als weitere Formen digitaler Gewalt im sozialen Nahfeld das sogenannte Doxing, bei dem es sich um das Veröffentlichen von Kontaktdaten handelt; die bewusste Verbreitung von Gerüchten; Deepfaking, wobei Gesichter von Personen in pornografischen Darstellungen eingefügt werden; Hacken von Konten; die öffentliche Aufforderung, Personen zu schaden; oder Cyberstalking. Viele Besonderheiten des Internets, wie etwa die vermeintliche Anonymität oder dass Nachrichten schnell, kostenlos und unabhängig vom Standtort versendbar sind, bergen Gefahren, die von Tätern ausgenutzt werden können. In der heutigen Zeit gäbe es quasi kein Entrinnen außer absoluter Internetabstinenz – was jedoch kein ernsthafter Vorschlag zur Prävention digitaler Gewalt sein könne.

Abschließend hielt Prasad fest, dass es wichtig sei, digitale Gewalt als wirkmächtig anzusehen und die damit verbundenen Folgen zu beachten. Jedoch sei die rechtliche Situation im Gegensatz zu analoger Gewalt oft unklar. Auch stünden spezifische Unterstützungsstrukturen zu digitaler Gewalt noch am Anfang.

 

Mit einem Bericht aus der Praxis knüpfte Angela Wagner (Beratungsstelle Frauennotruf Frankfurt) an den Einführungsvortrag von Nivedita Prasad an. Die Beratungsstellen bieten umfassende Beratung und Hilfe in akuten Krisen und werden laut Wagner „von Frauen und Mädchen aus allen Schichten und Kulturen frequentiert“. Ein Leitgedanke der Arbeit der Beratungsstelle sei die Stärkung des Rechtsbewusstseins von Frauen, sowie das Herstellen von Schutz und sicheren Lebensverhältnissen. Einschließlich des Jahres 2021 hat die Beratungsstelle 370 Fälle schwerer digitaler Gewalt dokumentiert. Leichtere Fälle digitaler Gewalt würden in der Beratungsstelle eher selten thematisiert, was auch daran liege, dass ein Bewusstsein über die Strafbarkeit oft fehle. Ziel der Beratung ist es die verschiedenen Ebenen der Angriffe zu identifizieren, die Folgen zu benennen und ein Vorgehen zu skizzieren. Deswegen gehe es auch darum, Betroffenen zu vermitteln, dass digitale Gewalt zeitnah beendet werden kann, wenn frühzeitig und gezielt dagegen vorgegangen wird. Darauf zu hoffen, dass der Täter das Interesse an der Bedrohung verlieren würde, reiche leider nicht. Es bestünden jedoch gute Chancen Aufnahmen löschen zu lassen, ihre Verbreitung einzudämmen und Täter zur Verantwortung zu ziehen, wenn zeitnah gehandelt werde.

Beim zweiten Teil der Workshop-Reihe, am Dienstag, den 29. November 2022, sprachen Chris Köver (netzpolitik.org, Berlin) und Tim Herrscher (WEISSER RING e.V., Mainz). Chris Köver widmete sich in ihrem Vortrag dem Phänomen Cyberstalking, welches sie als „beharrliche Nachstellung, Belästigung und Verfolgung einer Person über einen längeren Zeitraum hinweg, die mit Hilfe internetfähiger Medien und Geräte geschieht“ definiert. In Anknüpfung an Nivedita Prasad unterstrich Köver, dass Stalking, insbesondere im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt, keineswegs neu sei, sondern dass sich im digitalen Raum vielmehr alte Handlungsweisen mit neuen Mitteln fortsetzten. Digitale Gewalt bleibe dabei oftmals nicht im digitalen Raum, sondern verlagere sich sehr schnell in die analoge Welt, indem zum Beispiel ungewollte Bestellungen an die persönliche Adresse des Opfers gesendet werden.

Köver zeigte drei Wege auf, mit denen Personen über das Smartphone Stalking betreiben: Stalkerware, Zugang zu Accounts (Google, Facebook, ICloud usw.), sowie Legale Dual-Use-Apps. Stalkerware sind Spionage-Apps, die auf dem Handy installiert werden und der überwachenden Person ermöglichen, alles auf der Tastatur mitzulesen oder Kamera und Mikrofon zu aktivieren. Sogenannte legale Dual-Use Apps, in denen Nutzer*innen freiwillig persönliche Daten teilen (z.B. Find my Phone, Parental Monitoring etc.), können ebenfalls ein Einfallstor für den Missbrauch durch Täter*innen sein. Häufig unterschätzt werden hingegen vermeintlich „banale Wege“, wie im Einverständnis geteilte Passwörter, der Zugang zu Accounts, sowie das freiwillige Teilen von Daten. Köver hob hervor, dass die „Technik im Überwachungskapitalismus“ sowie die geschlechtsspezifische „Sozialisierung“, in denen FLINTA Personen der Zugang zum Erwerb technischer Kompetenzen noch immer häufig erschwert werde, in diesem Bereich „gegen uns arbeitet“. Daher sei es langfristig wichtig, Medienkompetenz und „digitale Mündigkeit“, vor allem für vulnerable Gruppen zu fördern, um sich gegen digitale Gewalt „verteidigen zu können“.   

Im Anschluss stellte Tim Herrscher die NoStalk App der Hilfsorganisation Weisser Ring e.V. vor. Mit Hilfe der 2018 entwickelten Tagebuch-App lassen sich Stalking-Vorfälle per Foto-, Video-, sowie Sprachaufnahmen chronologisch dokumentieren und bei Polizei sowie vor Gericht, als Beweise anbringen. Die App soll Betroffenen dabei helfen, selbstbestimmt und aktiv gegen Stalking vorzugehen. So sollen langfristige Stalking-Folgen für die Betroffenen (wie z.B. Angst, Scham, Verdrängung, u.a.) vermieden und die strafrechtliche Verfolgung der Taten ermöglicht werden.

An die Vorträge schloss sich eine lebhafte Diskussion an, die einige Fragen aufwarf. So wurde beispielsweise gefragt, inwieweit die Verlagerung von Gewalt in den digitalen Raum mit der Herausbildung neuer Täter*innen-Profile einhergeht. Zudem fanden rechtliche Aspekte digitaler Gewalt in der Workshop-Reihe bisher wenig Beachtung. Diese würde man gerne, so die Veranstalter*innen, in einer Fortsetzung der Workshop-Reihe aufgreifen. Insgesamt gelang es der Reihe, zahlreiche interessante Einblicke in das Thema zu geben und Praxis und Theorie miteinander in einen Austausch zu bringen.

 

(11.01.2023, Laura Wagenbach, Tillmann Schorstein)