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Frau mit Blüte und schalartigem Mantel

Verfasserin: Waltrud Wamser-Krasznai


Frau mit Blüte und schalartigem Mantel, Inv. T I-37

Provenienz: Erworben von Bruno Sauer, aus der Sammlung Margaritis.

Vorderseite aus der Matrize, Rückseite nicht ausgearbeitet, geglättet.

Hohl. Brennloch an der Unterseite der Plinthe.


Zustand:
Aus drei Fragmenten zusammengefügt; vollständig.
Hellbrauner Ton (10YR 6/4-6/5). Weiße Engobe. Hellblaue Bemalung am Mantel an der linken Seite der Figur. Rot im Haar und an den Füßen, vor allem zwischen den Zehen. Zwei rote Querstreifen an der Vorderseite der Plinthe. Gelb am Diadem.

Maße: H: 24,1 cm; Breite der Plinthe 5,6 cm; in Höhe der Arme 6,9 cm; Tiefe der Plinthe 6,8 cm; in Kniehöhe 4,6 cm.

Lit.:E. Neuffer, Griechische Terrakotten, Heimat im Bild. Beilage zum Gießener Anzeiger 17, 1930, 66 f. Abb. 2; W. Zschietzschmann, Die Antikensammlungen der Universität. Gießener Hochschulblätter 5, 1957, 2 Abb. 4.

Beschreibung: Auf einer nahezu quadratischen Plinthe steht eine leicht zu ihrer linken Seite hin geneigte weibliche Figur. Das entlastete rechte Bein steht mit gebeugtem Knie etwas weiter vorn. Die schlanken Füße mit den sorgfältig angegebenen Zehen sind offenbar unbekleidet. Anhaltspunkte für ein auf Sandalen hinweisendes Riemenwerk fehlen. Die Frau trägt einen bodenlangen Chiton aus feinem dünnen Stoff, der zwischen den Beinen und an den Seiten in schmalen senkrechten Falten herabfällt. Halblange Ärmel reichen bis zum Ellenbogen. Rechts erkennt man eine weite Ärmelschlaufe. Ein schmaler in dichte Falten gelegter Mantel ist vorn im Bogen um die Taillenregion und den gebeugten linken Arm geschlungen und fällt von der linken Schulter in vertikalen Falten herab. Der rechte Arm ist stärker angewinkelt. Vermutlich hielten die nach oben gerichteten Finger eine aufgemalte Blüte.Das Haar ist mit einem zierlichen Diadem geschmückt und rahmt Stirn und Schläfen als dicker ungescheitelter Wulst.Das längliche Gesicht zeigt ein schweres Kinn; waagerecht geschnittene Lippen bilden den breiten Mund. Die leicht vorgewölbten Augen sind oben bogenförmig, unten horizontal begrenzt.

Kommentar: Die Statuette vertritt einen vor allem in Attika, Böotien und auf Rhodos[1] geläufigen Typus, der sich weit über die Mittelmeerländer verbreitet hat[2]. Die eigentümliche Manteldrapierung beschränkt sich nicht auf stehende weibliche Gewandfiguren; gelegentlich tritt sie auch bei einer thronenden Frau[3] und sogar bei einem stehenden Jüngling auf[4].
Zu den Charakteristika des Gießener Exemplars gehören das vorgestellte rechte Bein, das kleine Diadem und das nach oben frisierte, über der Stirn ungeteilte Haar. Eine nahe Parallele, die aus Rhodos stammen soll, befindet sich in Leipzig[5]. Die auffallende Neigung zur Seite zeigt auch eine Statuette aus der Nekropole von Kamiros[6], die ebenfalls mit einem schmalen Diadem geschmückt ist; doch unterscheidet sich diese von den Vergleichsstücken in Gießen und Leipzig durch Einziehungen der Haartracht über Stirn und Schläfen. Eine Variante mit vorgestelltem linken Bein[7] zeichnet sich durch größere Abweichungen in Frisur und Kopfschmuck aus[8].          
Der Versuch, die Herkunft der Statuetten in unterschiedlichen Landschaften entsprechend dem Standmotiv zu postulieren – für Exemplare mit entlastetem rechten Bein wurde die Entstehung auf Rhodos, für die mit linksseitigem Spielbein eine böotische Werkstatt vermutet[9] – führte nicht weiter, da sich auch in Böotien Exemplare mit vorgesetztem rechten Bein fanden[10]. Für die Produktion von Olynth und Großgriechenland war die Beinstellung anscheinend beliebig[11].
Die hellbraune Tonfarbe von T I-37 könnte nach Böotien weisen, schließt aber auch andere Werkstätten nicht aus[12]. Standmotiv, Haartracht und Kopfschmuck stehen eher den auf Rhodos gefundenen Exemplaren nahe[13]. 
In stilistischer Hinsicht zeigen sich die Merkmale des Strengen Stils. Zwischen belastetem und entlastetem Bein ist deutlich unterschieden, doch wird die starre Aufrichtung des Oberkörpers davon nicht  beeinflusst. Auch der bis zur Ohrregion herunter geführte Haarwulst und die längliche Kopfform mit dem schweren Untergesicht legen eine Datierung gegen die Mitte des 5. Jhs. v. Chr. nahe. 

Einordnung:  Um 450 v. Chr.  Rhodischer Typus?

 

 



[1] Attika: R. A. Higgins, Cat. of the Terracottas in the Department of Greek and Roman Antiquities British Museum (London 1954) 83 f. Nr. 210-213 Taf. 37; U. Sinn, Antike Terrakotten. Staatl. Kunstsamml. Kassel (Wilhelmshöhe 1977) 29 Nr. 27 Taf. 8; B. Vierneisel-Schlörb, Kerameikos 15. Die figürlichen Terrakotten (München 1997) 17 f. Nr. 42. 43 Taf. 11. Böotien: mit kleinem Diadem, linkes Bein vorn, U. Gehrig, Antiken aus Berliner Privatbesitz (Berlin 1975) 157; mit langem Haar und niederem Plos, Chiton mit Überfall, F. W. Hamdorf, Die figürlichenTerrakotten der Staatlichen Antikensammlungen München (Lindenberg im Allgäu 2014) 180 f. Abb. D 80; mit geteiltem Haarwulst, rechtes Bein vorn, S. Mollard-Besques, Cat. raisonné des Figurines et Reliefs en terre cuite grecs, étrusques et romains I (Paris 1954) 90 Nr. C 45 Taf. 63; ebenda mit langem Haar und niederem Polos, linkes Bein vorn, 91 Nr. C 46 Taf. 64; Torso, rechtes Bein vorn, B. Schmaltz, Terrakotten aus dem Kabirenheiligtum bei Theben (Berlin 1974) 175 Nr. 289 Taf. 23; unbekannter Fundort: P. Leyenaar-Plaisier, Les Terres cuites grecques et romaines (Leiden 1979) 92 Nr. 185 Taf. 31; J. Schneider-Lenyel, Griechische Terrakotten (München 1936) 19 Abb. 25. Rhodos: Torso, Chr. Blinkenberg, Lindos I (Berlin 1931) 549 Nr. 2269 Taf. 105; mit geteiltem Haarwulst, rechtes Bein voran gestellt, Higgins a. O. 83 f. Nr. 210-213 Taf. 37; ders., Greek Terracottas (London 1967) 64 Taf. 24 F; W. Hornbostel, Kunst der Antike (Mainz 1977) 136 f. Abb. 108; Mollard-Besques a. O. 106 f. Nr. C 135 Taf. 77; V. Poulsen, Der strenge Stil (Kopenhagen 1937) 82. 85 Abb. 51; Winter 1, 1903, 59, 5; E. Paul, Antike Welt in Ton (Leipzig 1959) 29. 67 Nr. 39 Taf. 16; ferner N. Breitenstein, Cat. of Terracottas (Copenhagen 1941) 26 f. Nr. 251 Taf. 26.

[2] z. B. Thasos: G. Daux, Chronique des Fouilles 1963, BCH 88, 1964, 872 Abb. 14; .Olynth: D. M. Robinson, Excavations at Olynthus VII (Baltimore 1933) 48 Abb. 168, ebenda 169-173 Taf. 20 f.; Sizilien: M. Maas, Griechische Kunst aus Unteritalien und Sizilien (Karlsruhe 1987) 39 Abb. 22; Süditalien: Mollard-Besques a. O. 159 Nr. C 595 Taf. 103; Vouni/Zypern: E. Gjerstad, SCE III (Stockholm 1937) 232, Nr. 49 Taf. 79, 6; S. 234, Nr. 98 Taf. 98, 7; S. 256, Nr. 485 Taf. 98, 5.

[3] Hornbostel a. O. 142 Nr. 113.

[4] P. Leyenaar-Plaisier, Les Terres cuites grecques et romaines (Leiden 1979) 45 f. Nr. 75 Taf. 15.

[5] Paul a. O. 29. 67 Nr. 39 Taf. 16; ferner N. Breitenstein, Cat. of Terracottas (Copenhagen 1941) 26 f. Nr. 251 Taf. 26.

[6] Higgins a. O. 83 Nr. 212 Taf. 37.

[7] Gehrig a. O. 157; Higgins a. O. 216 f. Nr. 811 Taf. 111 und Nr. 812 Taf. 112.

[8] Mit langem welligem Haar und niederem Polos, Hamdorf a. O. 180 Abb. D 80; Leyenaar-Plaisier a. O. 92 Nr. 185 Taf. 31; Mollard-Besques a. O. 91 C 46 Taf. 64; Schneider-Lenyel a. O. 19 Abb. 25; V. Verhoogen, Terres cuites gtecques aux Musées Royaux d'Art et d'Histoire (Bruxelle 1956) 24 f. Abb. 14 b.

[9] Gehrig a. O. 157.

[10] z. B. im Kabirenheiligtum bei Theben, Schmaltz 1974, 109, Taf. 23, 289; Mollard-Besques a. O. 90 f. Nr. C 45 Taf. 63.

[11] s. Anm. 2.

[12] Higgins gibt die Farbe des Tons in Kamiros und Lindos als generell lederartig braun an, ders.a. O. 61.

[13] Blinkenberg a. O. 549 Nr. 2269 Taf. 105; Higgins a. O. 83 f. Nr. 210-213 Taf. 37; ders., Greek Terracottas (London 1967) 64 Taf. 24 F; Hornbostel a. O. 136 f. Abb. 108; Mollard-Besques a. O. 106 f. Nr. C 135 Taf. 77; Poulsen a. O. 82. 85 Abb. 51; Winter 1, 1903, 59, 5; ferner Breitenstein a. O. 26 f. Nr. 251 Taf. 26.