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Franz-Kien-Geschichten

Im Nachwort zur Erzählung „Vater eines Mörders“ reflektiert Alfred Andersch ausführlich über die erzählerischen Freiheiten, aber auch die Probleme, die ihm der Gebrauch der Alter-Ego-Figur „Franz Kien“ als „Maske“ des Autors beschert. Eine eindeutige Antwort, die über poetologische Abwägungen hinaus geht, gibt er allerdings nicht. Eher regt er den Leser zum Nachdenken an:

 

„Warum erfand ich mir für sechs Geschichten, in denen ich Zustände und Ereignisse meines Lebens beschreibe und erzähle, einen Menschen namens Franz Kien als Figur, die erlebt, was in ihnen beschrieben und erzählt wird? Habe ich nicht schon ein paarmal ohne Umschweife erklärt, bei den Franz-Kien- Geschichten handele es sich um Erinnerungen an mich selber, um Versuche, eine Autobiographie in Erzählungen zu schreiben? Franz Kien bin ich selbst – aber wenn es so ist, warum bemühe ich ihn dann überhaupt, anstatt ganz einfach Ich zu sagen? Warum berichte ich von mir in der dritten Person, nicht in der ersten? […] warum zum Teufel halte ich mir dann eine Maske vors Gesicht, diesen Kien, einen Namen, nichts weiter? Eine Antwort darauf weiß ich nicht.“

 

Andersch hat sechs solcher autobiographischen Erzählungen geschrieben, in denen Franz Kien als sein fiktionalisiertes Ich fungiert; sechs Geschichten die einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren, die Jahre zwischen 1928 bis 1945, umfassen, Die Erzählungen handeln von Ereignissen aus der Niedergangsphase der Weimarer Republik über die Hitler-Zeit bis zu den Monaten, die Andersch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft verbrachte. In Bezug auf die erzählte Zeit geht „Der Vater eines Mörders“ am weitesten zurück, auch wenn sie als letzte entstanden ist. In der zweiten Geschichte „Alte Peripherie“, ist Franz Kien Auszubildender. Zwei seiner ehemaligen Mitschüler wollen aus Deutschland fliehen. Franz läuft durch die Stadt, beobachtet sie und beschließt, nicht mitzukommen. Lin aus den Baracken“ knüpft an diese Zeit nach Schulausschluss und Lehre an und zeigt Franz Kien, der sich wenig später den Kommunisten anschließt und – wie Andersch selbst – sogar zum Leiter des kommunistischen Jugendverbandes in Südbayern aufsteigt.

 

Vor diesem Hintergrund entfaltet sich die Handlung. In „Die Inseln unter dem Winde“ begegnet uns der Regime-Gegner Franz Kien als „Fremdenführer“ in München. Seit drei Jahren arbeitslos, begleitet er den englischen Kolonialbeamten Sir Thomas Wilkins durch die Isar-Metropole. Während des Gangs durch die Stadt entspinnt sich ein Gespräch über die (politische) Gegenwart der mittleren 1930er Jahre. Die Erzählung „Brüder“ spielt am 1. September 1939, an dem Tag als der Zweiten Weltkrieg beginnt. Franz und sein Bruder Jakob machen einen Ausflug in die Hamburger Elbwiesen. Im Gespräch rätseln sie darüber, ob und wie schnell sie in den bevorstehenden Krieg hineingezogen werden. Die mit Blick auf die historische Chronologie letzte Franz-Kien-Geschichte „Festschrift für Captain Fleischer“ knüpft an die in Anderschs autobiographischem Bericht „Die Kirschen der Freiheit“ (1952) geschilderten Ereignisse um seine Desertion aus der Wehrmacht 1944 an.

 

Den Namen Franz Kien setzte Andersch aus den Namen der beiden Hauptfiguren von Elias Canettis Roman „Die Blendung“ (1935), Peter Kien und Franz Metzger zusammen: Peter Kien ist ein weltfremder, ungeheuer belesener Sinologe; der neunjährige Junge Franz, bittet Kien aus Wissbegierde, in dessen Bibliothek lesen zu dürfen. Gegen den Willen seines Vaters beginnt Franz dort zu lesen. Die Beziehung zu Anderschs Jugend, seiner Reaktion auf das repressive Milieu von väterlichem Konservatismus und schulisch elitärer, zugleich öder Drill- Pädagogik, ist evident. Es lässt sich vermuten, ob diese doch sehr versteckte Hommage an eine der „Vaterfiguren“ der deutschen Nachkriegsliteratur mit dem Literaturerneuerungskonzept von Andersch und der psychologischen Zäsur von 1945 zusammenhängt.

 

 

Primärliteratur:

Andersch, Alfred: Der Vater eines Mörders, Zürich: Diogenes.

 

Sekundärliteratur:

Wehdeking, Volker: Die Wiedergefundene Zeit Franz Kiens, In: Wehdeking, Volker (Hrsg.): Zu Alfred Andersch, Stuttgart: Klett, 1983